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Protokoll 2009



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Das 12. Schlangenbader Gespräch fand vom 30. April bis 2. Mai 2009 unter einem Leitthema statt, das in mehrfacher Hinsicht auf die aktuellen europäischen und globalen Herausforderungen abgestellt war: „Krise und Entscheidung: die internationale Ordnung auf dem Prüfstand“. Zwei Ereignisse des vergangenen Jahres haben weitreichende ordnungspolitische Fragen aufgeworfen: Zum einen der Kaukasus-Krieg zwischen Russland und Georgien im Sommer 2008, der mit der offiziellen Anerkennung der beiden georgischen Abspaltungen Abchasien und Süd-Ossetien durch Russland und mit einer neuerlich zugespitzten Krise in den Beziehungen zwischen Russland und dem Westen endete. Zum anderen war und ist dies die alles überlagernde globale Finanz- und Wirtschaftskrise, die im Herbst 2008 ihren ersten Höhepunkt erreichte. Ersteres hat die europäische Sicherheitsordnung auf den Prüfstand gestellt, letzteres die Weltfinanzordnung – weit über die unmittelbare Krisenbewältigung hinaus.


Panel 1


Die globale Finanzmarktkrise und ihre politischen Folgen

Der Einstieg in die Tagung widmete sich nicht nur aus Gründen der Aktualität, sondern auch wegen ihrer grundsätzlichen Bedeutung, der globalen Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise und ihren politischen Folgen. Bei aller Einigkeit, dass die Krise einen markanten Einschnitt für die Weltwirtschaft darstellt, gingen die Meinungen darüber, wie tiefgreifend die Folgen sein werden, doch erheblich auseinander.

In seinen einleitenden Bemerkungen verwies Aleksandr Lebedew noch einmal auf die Verantwortung des Finanzsektors für den Ausbruch der Krise. Dieser habe in den vergangenen 20 bis 30 Jahren nicht nur unglaubliche Profite akkumuliert; vielmehr habe er auch ein System des Missbrauchs etabliert, Transparenzregeln verletzt und die Aufsicht manipuliert, was zur allgemeinen Verwirrung auch bei den Rating-Agenturen und der staatlichen Aufsicht geführt habe. Die Lösung liege nun allerdings nicht im Ausbau der staatlichen Regulierung, sondern in einer Änderung der internationalen Regeln, bei denen Transparenz und Rechenschaftspflicht im Mittelpunkt stehen müssten.

Dem stimmte Per Fischer im Prinzip zu und betonte zugleich, dass von der Krise weniger revolutionäre als vielmehr evolutionäre Änderungen des internationalen Finanzsystems zu erwarten seien. So gebe es bis auf Weiteres keine plausible Alternative zum US-Dollar als internationaler Leitwährung, der weder durch den Yuan, den Rubel oder auch den Euro in seiner dominanten Stellung herausgefordert werden könne. Auch verwies er auf die Lehren, die aus der Weltwirtschaftskrise des letzten Jahrhunderts gezogen worden seien und durchaus erfolgreiche international koordinierte Rettungsaktionen zur Stabilisierung der Finanzmärkte – einschließlich eines wachsenden Einflusses des Staates auf die nationalen Bankensysteme – zur Folge hatten. Diese könne dazu beitragen, die Ungleichgewichte zwischen dem Investmentbanking und den klassischen Aufgaben von Geschäftsbanken, die durch die problematischen Anreizsysteme entstanden seien, abzubauen.

Der These über die unverändert starke Stellung des US-Dollar widersprach Michail Deljagin, für den die Krise den Übergang zu einem neuen System des Wirtschaftens darstellte. In seinen Augen werden mit ihr die Konturen einer neuen internationalen Währungsordnung sichtbar, eine polyzentrische Währungswelt, die sich in mehrere Makroregionen teile und vor allem durch die bipolare Machtteilung – und deren potenzielle Konfrontation - zwischen den USA und China geprägt sei.



Für Ruslan Grinberg wiederum signalisierte die Krise vor allem eine Trendumkehr: Nachdem sich der Finanzsektor und die Realwirtschaft in den letzten Jahrzehnten immer weiter voneinander entfernt hätten, leite die Krise eine Rückbesinnung auf die wirtschaftlichen Grundlagen, die Besinnung auf den „realen“ Unternehmenskapitalismus ein. Gleiches gelte insofern für die Rolle des Staates, als dessen Regulierungsfunktion wieder als notwendiges und legitimes Instrument der Kontrolle über die Wirtschaft angesehen werde – auch wenn die Erinnerung an die totale Staatskontrolle wie in der Sowjetunion noch keineswegs verblasst sei.



Zu dieser „Idealisierung“ der Realwirtschaft meldete Aleksandr Dynkin ebenso deutliche Vorbehalte an wie zu der Regulierungskompetenz der G20. Die Differenzen innerhalb dieser neu formierten Gruppierung seien einfach zu groß, als dass weitreichende Maßnahmen erwartet werden könnten. Auch sei etwa Russland alles andere als ein Freund übermäßiger internationaler Regulierung. Er bekräftigte ebenfalls, dass entgegen der aus Moskau und Peking geäußerten Präferenzen keineswegs absehbar sei, dass der US-Dollar als internationale Leitwährung abgelöst werden könne. Absehbar sei hingegen, dies bekräftigte Sergej Karaganow, eine beschleunigte Schwerpunkt- und Machtverlagerung nach China und Asien. Diese habe allerdings vor allem eine Schwächung der Europäischen Union als eines Modells der postnationalen Staatsbildung zur Folge und eine Stärkung des Nationalismus und staatlicher Souveränitätsansprüche.



Ähnlich skeptisch zeigte sich Wilhelm Hankel zur Zukunft der EU und namentlich ihres Währungsraums, wenn auch aus anderen Gründen. Dieser habe nicht wie beabsichtigt zur Konvergenz beigetragen, sondern im Gegenteil zur Divergenz. So wiesen zwölf ihrer Mitglieder heute eine negative Leistungsbilanz auf und seien überschuldet und lediglich vier (Deutschland, Niederlande, Österreich und Finnland) seien Netto-Gläubiger.



Russlands Rolle in der Krise wurde – nicht zuletzt von den russischen Teilnehmern selbst – sehr unterschiedlich beurteilt. Auf der einen Seite wurde darauf aufmerksam gemacht, dass die Krise in Russland auch eine Krise des mit dem Namen Wladimir Putins verbundenen politischen Systems signalisiere, worauf insbesondere Wladimir Ryschkow verwies. Dessen Stabilität basierte auf den hohen Kapitalimporten der letzten Jahre und sei mit der spätestens 2010 absehbaren dramatischen Krise der öffentlichen Finanzen an sein Ende gekommen. Angesichts der Tatsache, dass heute die Bürokratie größter Unternehmer in Russland sei und 40% aller Erwerbstätigen im öffentlichen Sektor beschäftigt seien, wären der notwendigen Anpassung und Modernisierung enge Grenzen gezogen. Aleksandr Lebedew brachte dies auf die Formel, dass der russische Staat als kollektiver Unternehmer zur privaten Bereicherung agiere und bekräftigte noch einmal, dass der Staat prinzipiell nicht als Eigentümer, sondern lediglich als regulierende Instanz auftreten solle. Die notwendige Selbstbeschränkung durch Demokratisierung und Modernisierung stoße sich jedoch, so Per Fischer, an den damit verbundenen Risiken für das bestehende Machtmonopol.



Dem wurde insbesondere von Wjatscheslaw Nikonow entgegengehalten, dass der Verlauf und die Schwere der Krise im Vergleich zwischen den westlichen Ländern auf der einen sowie China und Russland auf der anderen Seite eher die Stärke des Staatskapitalismus zum Ausdruck bringe. Auch zeigten die Indikatoren (Ölpreise, Währungsreserven, Aktienkurse) in Russland bereits wieder nach oben, sodass er insgesamt weniger pessimistisch sei. Abgesehen davon sei die Zustimmung zu Putin immer noch außerordentlich hoch, da die Krise in der russischen Bevölkerung vor allem den USA angelastet würde. Zwar seien die sozialen Folgen in Russland ebenso wenig absehbar wie der Verlauf der Krise selbst, eine liberale Wende jedoch sei zu erwarten. Viel wahrscheinlicher sei eine Stärkung links-nationalistischer politischer Kräfte mit der Folge einer weiteren Schwächung der Demokratie in Russland, eine Gefahr, die zumindest kurzfristig auch Sergej Karaganow diagnostizierte.




Panel 2/3



Russische Wege aus der Krise: ein europäischer Sicherheitsvertrag

Der Einstieg in das zweite zentrale Thema – die Europäische Sicherheitsordnung - erfolgte über eine ausführliche Präsentation und Diskussion der Vorschläge des russischen Präsidenten zum Abschluss eines Europäischen Sicherheitsvertrags, die dieser bei seinem ersten Deutschland-Besuch im Juni 2008 unterbreitet hatte.



Aleksandr Gruschko bekräftigte in seinen einführenden Bemerkungen, dass nach seinem Eindruck die europäische Sicherheit immer noch durch das Prisma des Kalten Kriegs wahrgenommen werde. Nach der im Westen verbreiteten Vorstellung habe sich eine stabile europäische Sicherheitsordnung herausgebildet, die sich wesentlich auf die NATO stütze und Russland mit der Forderung konfrontiere, sich dort ein- und unterzuordnen. Nun hätten jedoch sowohl der Kosovo als auch Georgien dokumentiert, dass dies eine sehr vereinfachte Betrachtungsweise sei. Vielmehr sei deutlich geworden, dass der NATO-Zentrismus keine ausreichend stabile Basis für die Sicherheit im euroatlantischen Raum darstelle. Er spalte die europäischen Staaten und führe zu einer Fragmentierung der Sicherheit, da jene Staaten, die nicht der NATO beizutreten wünschen, auf deren Ausweitung zwangsläufig mit Argwohn reagierten. Gefordert sei vielmehr gleiche und unteilbare Sicherheit für und unter Einbeziehung aller. Im Bereich der Menschenrechte sei ein allumfassendes kodifiziertes System bereits verwirklicht, ganz anders dagegen bei der „harten“ Sicherheit.



>Die NATO brauche daher klare Grenzen. Das gelte aus russischer Perspektive in gewisser Weise auch für die Europäische Union. Deren neu begründete „Östliche Partnerschaft“ berühre die russischen Interessen dann an einer empfindlichen Stelle, wenn damit die Einflusszone der EU erweitert werden solle. Das sei nur vertretbar, wenn sich die EU auf ihre „soft power“ beschränke. Gleichwohl müsse eine Abstimmung mit den russischen Interessen gefunden werden. Und die OSZE könne nur dann wieder an Bedeutung gewinnen, wenn auch dort, anders als in der Vergangenheit, ein gehaltvoller Sicherheitsdialog geführt werde. Grundsätzlich müsse sich die europäische Sicherheit zum einen auf anerkannte internationale Normen stützen wie die Prinzipien der Souveränität und territorialen Integrität sowie die friedliche Konfliktlösung. Zum anderen müssten alle Staaten in die Entscheidungsprozesse einbezogen werden. Und es müssten die Bedingungen für eine Partnerschaft geschaffen werden, in der alle euroatlantischen Staaten ihre Verantwortung wahrnehmen und wirkungsvoll ihre Ressourcen vereinen, um den gemeinsamen Risiken zu begegnen.



Timofej Bordatschew pflichtete diesen Ausführungen im Wesentlichen bei, merkte jedoch kritisch an, dass in Medwedews Vorschlägen neuerlich auch zum Ausdruck komme, dass Russland unentschlossen zwischen der Alternative Integration versus Gegengewicht schwanke, was beides aktuell nicht einzulösen sei. Zugleich ergänzte er die Ausführungen Gruschkos um einige systematische Beobachtungen. Auch wenn Kriegsgefahr gegenwärtig nicht das Hauptproblem in Europa darstelle, so bekleideten traditionelle Sicherheitserwägungen doch immer noch einen zentralen Platz. Dabei sei im Unterschied zum Rest der Welt, wo sich der Multipolarismus immer stärker durchsetze, die europäische Sicherheitsstruktur immer noch unipolar geprägt. Dies könne nicht von Dauer sein, da sich das Sicherheitsversprechen auf die Mitglieder der NATO beschränke. An seine Stelle müsse daher sukzessive ein System kollektiver Sicherheit treten. Andererseits könne er sich bis auf Weiteres die europäische Sicherheit nicht ohne Hegemon vorstellen. Das dürfe allerdings nicht daran hindern, sich um die Schaffung der Institutionen zu bemühen, die für die gesamteuropäische Sicherheit erforderlich sind. Dies gelte umso mehr, als Russland nie einer Organisation beitreten werde, in der ein anderer die Führung innehat.



Ulrich Brandenburg beklagte in seinen einführenden Bemerkungen das Missverhältnis zwischen einer immer engeren wirtschaftlichen Verflechtung und des nur schwach ausgebildeten politischen Dialogs. Dies gelte es zu ändern, und dies betrachte er auch als Ziel der Medwedew-Vorschläge. Entscheidend sei nach seiner Auffassung, einen Prozess der Vertrauensbildung einzuleiten. Für ihn messe sich die Ernsthaftigkeit der russischen Bemühungen um eine Reorganisation der europäischen Sicherheit im Sinne der Vertrauensbildung vor allem auch an gemeinsamen konstruktiven Bemühungen um eine Lösung der konkreten Probleme und Konflikte, wie etwa jener im Süd-Kaukasus. Eine neue sicherheitsvertragliche Grundlage solle daher nicht am Beginn, sondern am Ende eines solchen Annäherungsprozesses stehen, dürfe jedoch keinen Rückschritt gegenüber den vielfältigen Prinzipienerklärungen der Vergangenheit darstellen.



In einer ausführlichen Kommentierung verwies Aleksandr Nikitin auf eine Studie, die er unmittelbar nach Bekanntgabe der Medwedew-Vorschläge angefertigt hatte und in der er auf zahlreiche ungeklärte Fragen verwies, die ihre Umsetzung erschwerten. So sei ursprünglich unklar gewesen, ob neben den Staaten auch internationale Organisationen an den Verhandlungen über den neuen Sicherheitsvertrag teilnehmen sollten und, wenn ja, wie viele? Auch müsse der Geltungsbereich geklärt werden, ob neben den nordamerikanischen Staaten auch die zentralasiatischen einzubeziehen seien, was wiederum die angrenzenden Regionen wie insbesondere Afghanistan tangiere. Offen sei nach wie vor das Verhandlungsformat, da Russland Vorbehalte gegen die OSZE als Plattform hege. Ähnlich verhalte es sich mit den leitenden Prinzipien, die ja alle bereits und zum Teil mehrfach an anderer Stelle bekräftigt worden seien. Des Weiteren fordere der angestrebte Vertrag Verbindlichkeit, was zwangsläufig Sanktionen und damit auch einen Sanktionsmechanismus einschließen müsse. Gleiches gelte für einen etwaigen Interventionsmechanismus. Schließlich sei die Frage zu stellen, ob es lediglich um traditionelle Sicherheit gehe oder auch um Fragen der „soft security“ (Energie, Umwelt, menschliche Sicherheit u.ä.). Da wesentliche dieser Fragen ungeklärt seien, werde im Vorfeld ein umfassender Dialog benötigt.



>Auch Andrej Sagorskij warf die Frage auf, um welche Sicherheit es bei den Medwedew-Vorschlägen eigentlich gehe. Da es in Europa keine akute Kriegsgefahr gebe, sei die Konzentration auf die „harte“ Sicherheit fragwürdig. Auch diagnostizierte er einen Rückzug der USA aus Europa, was den Unipolarismus in Europa schwäche, wenngleich an seine Stelle kein Multipolarismus, sondern die EU trete. Schließlich fragte er nach der Substanz der Forderung nach unteilbarer Sicherheit in Europa. Gleiche Sicherheit für alle europäischen Staaten sei nur dann zu erreichen, wenn entweder alle der NATO beitreten oder wenn sich die NATO auflöse. Dann sei zwar gleiche, aber eben auch weniger Sicherheit für alle erreicht.



tyle20">Nach Auffassung von Sergej Karaganow stellt die „Grauzone“ zwischen Russland und der NATO, konkret die Ukraine und Georgien, aktuell das Hauptproblem der europäischen Sicherheit dar und berge durchaus auch Kriegsgefahren. Um diese Sicherheitslücke zu schließen und um eine verlässliche Kooperation bei der Bearbeitung aller bestehenden und künftigen Konflikte zu garantieren, sei ein kollektiver Sicherheitsvertrag erforderlich. Dieser müsse auch wechselseitige Garantien und eine Anerkennung der Interessen in der „gemeinsamen Nachbarschaft“ enthalten. Ein Abschluss würde fraglos auch die Kooperation in außereuropäischen Konflikten erleichtern, ein Scheitern jedoch zur Marginalisierung Europas und zur weiteren Marginalisierung Russlands führen. Dem widersprach Gert Weisskirchen, der weder eine Marginalisierung Russlands noch eine bedrohliche Grauzone feststellen könne. Allerdings pflichtete auch er bei, dass es einen flexibleren und robusteren Mechanismus in Europa zur Artikulation unterschiedlicher Interessen und zur gemeinsamen Krisenbewältigung geben müsse.



"style20">Für Rolf Mützenich blockiert der exzessive Gebrauch des Begriffs „Krise“ das kreative Nachdenken über politische Lösungen. Dabei seien die Bedingungen aktuell günstiger als noch vor einem Jahr – durch die neuen Denkansätze und Vorstöße sowohl des russischen als auch des amerikanischen Präsidenten mit seinen Prager Vorschlägen zur nuklearen Abrüstung. Beides sei geeignet, die euroatlantische Zusammenarbeit voranzubringen. In diesem Zusammenhang plädierte er für eine Wiederbelebung des Harmel-Berichts, der eine geeignete Orientierung für die notwendige Vertrauensbildung zwischen Westeuropa und Russland bereitstellen könnte.



Auch Wjatscheslaw Nikonow sieht keine umfassende Krise der europäischen Sicherheit, präsentierte jedoch eine ausführliche Liste von Sicherheitsproblemen, die potenziell gravierende Herausforderungen bereithalten. Dazu gehöre die destabilisierende Wirkung der Wirtschaftskrise (insbesondere in der Ukraine), die mit den wachsenden protektionistischen Tendenzen noch verstärkt werde. Dazu gehörten aber auch die Unsicherheiten bei der Energieversorgung Europas, die nicht zuletzt darauf beruhten, dass in der Frage der Transportwege die Interessen der Lieferanten – konkret Russlands – ignoriert werden. Gleiches gelte für die Erweiterung der NATO um die Ukraine und Georgien, zu der sich die NATO bekannt habe und die Russland mit allen Mitteln verhindern wolle. Problematisch seien auch der Zusammenbruch der Rüstungskontrolle wie die geplante Stationierung des Raketenabwehrsystems sowie von Kampfverbänden der USA in Osteuropa. Schließlich dürften Probleme wie Terrorismus, Drogenkartelle, anwachsender Nationalismus und Separatismus, aber auch das Versagen und der Zerfall von Staaten nicht übersehen werden. All dies mache konzertierte Anstrengungen unverzichtbar.



ss="style20">Auf die Frage, ob sich die europäische Sicherheitsordnung in einer Krise befinde, antwortete Charles Kupchan mit einem „not yet“. Allerdings befinde sie sich an einem historischen Wendepunkt und bedürfe signifikanter Anpassungen. Zum einen stelle die NATO nicht länger die fest gefügte Militärallianz der Vergangenheit dar, wie die Spannungen über den Irak, die Ukraine oder Georgien zeigten. Insbesondere hätten die USA und Europa eine unterschiedliche Bedrohungswahrnehmung, sodass künftig die Erwartungen an die NATO modifiziert werden müssten. Das zweite Problem ergebe sich aus der Erweiterung der NATO, die zwar expressis verbis nicht gegen Russland gerichtet sei, in Wirklichkeit aber durchaus so wahrgenommen werden könne. Diese Rhetorik sei nicht länger praktikabel. Vielmehr müsse Russland in die euroatlantische Gemeinschaft aufgenommen werden – und in seiner Folge dann auch die Ukraine und Georgien. Hier könnte Medwedews Vorschlag ein erster Schritt sein – auch wenn Kupchan sich überfordert zeigte, einen klaren Weg anzugeben: Schlichte Nein-Sagerei sei jedenfalls nicht genug.



tyle20">Zur Politik der neuen US-Administration notierte er einen Wandel der Politik von einer ideologischen zu einer Problemlösungsorientierung, verbunden mit einer Hinwendung zu Russland und anderen bisherigen Kontrahenten. Es stelle sich allerdings die Frage, ob diese Orientierung von Dauer, und ob Obama in der Lage sei, sie umzusetzen. Bislang regiere er als eine Art „political insurgent“, der sich bei Problemen unmittelbar an die Wähler richte, und dies erleichtere den Umgang mit dem Kongress keineswegs. Hinzu kommen die sehr viel engeren finanziellen Rahmenbedingungen. Und nicht zuletzt habe der Westen sein Monopol auf die universale politische Ordnung eingebüßt, was nicht nur erfordere, auf andere Länder zuzugehen, sondern auch Rückwirkungen auf die europäischen Ordnungsvorstellungen habe.

In der Diskussion stellten eine Reihe von Teilnehmern die Plausibilität und Legitimität der russischen Ansprüche zur europäischen Sicherheit in Frage. So charakterisierte Hannes Adomeit die russischen Klagen über eine Einkreisung durch die NATO-Erweiterung als Stereotyp dar, das insbesondere vom russischen Militär mit Hingabe gepflegt werde. Klaus Wittmann bekräftigte, dass es vonseiten der NATO keineswegs ein Expansionsbestreben gebe, diese vielmehr mit Beitrittswünschen konfrontiert sei, auf die sie reagieren müsse. Und Gunter Hellmann konstatierte auf russischer Seite ein veraltetes Ordnungsmodell nach dem Muster des Wiener Kongresses und damit eine selbstverschuldete Isolierung: Russland müsse sich an die bestehenden (postmodernen) Strukturen anpassen und könne nicht erwarten, dass sich die anderen europäischen Staaten seinen antiquierten Ordnungsvorstellungen anpassten. Gert Weisskirchen wiederum appellierte an die russischen Teilnehmer, das Denken in Nullsummen-Kategorien aufzugeben, während Hans-Friedrich von Ploetz die Auffassung vertrat, dass auch das supranationale Modell der EU jenseits der Beschränkung auf den Nationalstaat in die neue europäische Sicherheitsarchitektur eingeschrieben werden müsse.



Dem wurde von Wjatscheslaw Nikonow entgegengehalten, dass diese Situation nicht von Russland geschaffen wurde. Russland konnte an der Herausbildung des bestehenden Sicherheitssystems nicht mitwirken und daher könne auch nicht erwartet werden, dass es sich diesem unterwirft. Russland müsse und werde daher je nach Bedarf unabhängig handeln. Aleksandr Gruschko unterstrich, dass Russland die NATO keineswegs als Feind betrachte, wohl aber wissen wolle, welchen Platz es in der NATO-Strategie einnehme. Allein danach richte sich Russlands Verhältnis zur NATO. Sicherheitsstrategien müssten gemeinsam erörtert und beschlossen werden, damit sie nicht den Sicherheitsinteressen einzelner Staaten entgegenstehen. In diesem Zusammenhang beanspruche Russland, wie Aleksandr Kramarenko unterstrich, keineswegs ein Veto-Recht, sondern strebe einen umfassenden Dialog an und bemühe sich um Konsensbildung an. Das Wichtigste, bekräftigte auch er, seien jetzt ein Prozess der Vertrauensbildung und kreative Initiativen. In diesem Zusammenhang erinnerte Charles Kupchan daran, dass es auch heute sehr wohl noch eine Großmachtlogik. Sie sei zwischen den USA und Russland bestimmend und neige dazu, die EU zu ignorieren. Auch sei es selbstverständlich, dass eine neue euro-atlantische Gemeinschaft auf Prinzipien gründen müsse, an deren Festlegung alle mitgewirkt haben.

Panel 4



Amerikanische Russlandpolitik - jenseits des unipolar moment

Ein durchaus gemischtes Bild ergab die Diskussion der amerikanischen Russlandpolitik des neuen Präsidenten Obama. Einigkeit herrschte insoweit, als mit dem neuen Präsidenten Chancen auf eine Verbesserung der Beziehungen zu Russland eröffnet worden seien, die aktuell den tiefsten Stand seit dem Ende des Kalten Kriegs – und darüber hinaus – erreicht hätten. Ob und wie diese Chancen genutzt werden, sei indes auf beiden Seiten noch nicht entschieden.

Andrew Kuchins zeigte sich in seinen einführenden Bemerkungen im Großen und Ganzen optimistisch, dass die Beziehungen zwischen den USA und Russland „back on track“ gelangen würden. Der Krieg mit Georgien habe eine Wasserscheide dargestellt und gezeigt, dass zwanzig Jahre nach dem Ende des Kalten Kriegs Europa noch keineswegs so frei und sicher sei, wie seinerzeit erwartet. Er markierte den tiefsten Punkt der Beziehungen seit den 1980er Jahren und ließ sogar die, wenn auch nicht sehr wahrscheinliche, Möglichkeit einer direkten militärischen Konfrontation aus Fehlkalkulation oder durch einen Unfall aufscheinen. Auch wenn die Washingtoner und Moskauer Narrative über die Rolle beider Staaten im Herbst unterschiedlicher denn je gewesen seien, so habe sich in den USA doch ein akademischer Konsens herausgebildet, der das russische und georgische Verhalten im südlichen Kaukasus ernsthafter abwog. Die Wirtschaftskrise tat dann ein Übriges, um Russland aus den Schlagzeilen zu verdrängen und zugleich einen pragmatischeren, parteiübergreifenden Konsens entstehen zu lassen. Die neue US-Führung jedenfalls sei sich der Notwendigkeit bewusst, mit Russland eine konstruktivere Beziehung anzustreben, um gemeinsam Fragen der Nuklearsicherheit, des Terrorismus, der globalen Wirtschaftssteuerung, Energiesicherheit, des Klimawandels und anderer dringender Themen anzugehen.

In Russland dauerte es länger, bis die möglichen Folgen der Wirtschaftskrise wahrgenommen wurden. Geraume Zeit noch sah die Führung das Land als eine Insel der Stabilität, doch mittlerweile gehört Russland zu den am härtesten betroffenen Schwellenländern, und es ist durchaus offen, wie tief der Fall noch gehen wird – insbesondere, wenn die Ölpreise weiter nachgeben sollten. Auffallend jedenfalls sei der Wiederspruch zwischen Russlands Wirtschaftsinteressen und seiner Außenpolitik. So seien die wichtigsten Wirtschaftspartner Russlands im Westen zu finden, was sich in den außenpolitischen Beziehungen indes nicht niederschlage. Das gefährde Russlands Ziel, einen eigenständigen weltpolitischen Pol zu bilden, und es werde auf längere Sicht die Popularität der russischen Führung untergraben, die sich bekanntlich vor allem auf die Wirtschaftserfolge stütze. Leider seine die amerikanisch-russischen Wirtschaftsbeziehungen besonders unterentwickelt, was auch daran liege, dass es im Unterschied zu den Beziehungen mit China in den USA keine annähernd breite politische Unterstützung gebe. Dies trage zum schlechten Image Russlands bei, was wiederum die Bereitschaft zu Investitionen und zur technologischen Kooperation reduziere, sodass deutlich werde, wie sehr die schwachen politischen Beziehungen auch die Wirtschaftsaktivitäten in Mitleidenschaft ziehen.

Wie schon von Charles Kupchan betont, verfolge die Obama-Administration einen pragmatischen Kurs der Problemlösung, der Russland eine höhere Bedeutung zumesse. Dazu trage u.a. bei, dass die neue Administration die Nuklearsicherheit und die traditionelle Rüstungskontrolle höher veranschlage als ihre Vorgängerin. Auch habe Afghanistan einen höheren Stellenwert, was Russland zwangsläufig ins Spiel bringe. Ähnliches gelte für die Auseinandersetzung mit Iran, während sowohl die Raketenabwehr als auch die Aufnahme der Ukraine und Georgiens in die NATO nicht länger prioritär verfolgt würden. Nicht vorherzusehen seien jedoch die Auswirkungen der Wirtschaftskrise, sollte diese auf beiden Seiten weiter voranschreiten.

Sergej Karaganow bekräftigte einleitend noch einmal seine schon zuvor geäußerte These über die Kräfteverschiebung von Europa nach Asien. China werde der Gewinner der Wirtschaftskrise sein, doch schon jetzt seien die Folgen absehbar: eine Wiederbelebung des Nationalstaats und des Nationalismus sowie eine Neuauflage internationaler Beziehungen nach dem Muster des 19. Jahrhunderts und nicht nach dem supranationalen Muster der Europäischen Union. Dem könne sich weder die Bewältigung der aktuellen globalen Herausforderungen noch die amerikanisch-russischen Beziehungen entziehen. Auch er diagnostizierte, dass die bilateralen Beziehungen den tiefsten Stand seit dem Kalten Krieg erreicht hätten, machte zugleich aber darauf aufmerksam, dass dies nach einhelliger Auffassung innerhalb der russischen Elite vor allem den USA anzulasten sei. Während am Ende der Sowjetunion Einigkeit geherrscht habe, dass Amerika ein Vorbild für die Korrektur eines grundlegend falschen Wegs darstelle, gebe es heute in Russland keine Vorbehalte gegenüber der strategischen Orientierung des Landes. Vielmehr sei sehr präsent, wie Russlands Schwäche ausgenutzt und seine Interessen ignoriert wurden und wie konstruktive Initiativen regelmäßig ohne adäquate Reaktionen blieben.

Ein zentrales Ziel der russischen Politik – und zugleich ein Gegenstand kontinuierlicher Konfrontation mit den USA – stelle die Sicherung des russischen Einflussbereichs im Raum der ehemaligen Sowjetunion dar. Auch dies markiere heute, anders als in den 1990er Jahren, einen Elitenkonsens. Und es stelle keineswegs ein antiquiertes Politikkonzept dar, sondern sei eine Frage der nationalen Identität. Im Kern bedeute auch die EU-Nachbarschaftspolitik nichts anderes. Diese werfe für Russland so lange keine Probleme auf, solange sich die EU auf ihre „soft power“ beschränke. Eine Verständigung in und über diese Region würde die Kooperation in jenen Feldern, die für den Westen von besonderer Bedeutung seien, erheblich erleichtern. Außerordentlich skeptisch äußerte er sich zu Obamas Vision einer nuklearwaffenfreien Welt. Zwar könne er sich eine Minimalabschreckung vorstellen, nicht aber eine vollständige Abrüstung. Ganz abgesehen davon verstärke eine übermäßige Aufmerksamkeit für die Rüstungskontrolle die Tendenz zur „Militarisierung“ der Beziehungen; so habe VKSE den Kalten Krieg in Europa in gewisser Weise zementiert. Entscheidend sei dagegen die Vertrauensbildung.

Hans-Dieter Lucas betonte eingangs das deutsche Interesse an guten amerikanisch-russischen Beziehungen, was sich allein schon daraus ergebe, dass beide zu den führenden deutschen Wirtschaftspartnern gehörten, und dem sei eine Konfrontation alles andere als zuträglich. Zugleich machte er darauf aufmerksam, dass die bilateralen Beziehungen zwischen den USA und Russland heute für Europa einen anderen Stellenwert hätten als in der Vergangenheit, da Europa einen eigenständigen Machtfaktor verkörpere, der von beiden auch als solcher wahrgenommen werde. Des Weiteren bekräftigte er das deutsche Interesse an erfolgreichen Rüstungskontroll-Verhandlungen zwischen beiden und forderte die russische Seite auf, sich in der Frage der Raketenabwehr auf die NATO zuzubewegen, was insbesondere für die Kooperationsangebote bei den Gefechtsfeldwaffen gelte. Zweifellos stelle die Nachbarschaftszone der EU und Russlands ein Spannungsfeld dar, an dem nicht nur Russland legitime Interessen beanspruchen könne, sondern auch die EU. Wünschenswert wäre, wenn dies keine Zone der Konfrontation, sondern der Kooperation werde. Darüber hinaus sollten sich Diskussion und Zusammenarbeit nicht auf die Sicherheit beschränken. Im Jahre 2009 stünden vielmehr konkrete Schritte bei der Überwindung der Wirtschaftskrise, der Lösung des Kaukasus-Konflikts sowie in den Beziehungen zum Iran an. In diesem Sinne solle die strategische Kooperation zwischen Russland und den USA ausgeweitet werden.

Ein beträchtlicher Teil der Diskussion konzentrierte sich auf den Umgang mit den Ländern der ehemaligen Sowjetunion, die, so Aleksandr Kramarenko, den heikelsten Faktor in den Beziehungen mit den USA bildeten. Russland habe hier immer nur auf Provokationen aus westlicher Richtung reagiert und sei nicht bereit, neue ideologische Einflüsse in dieser Grauzone zu akzeptieren. Dazu merkte Aleksandr Dynkin grundsätzlich an, dass sich Russland endlich von seiner Fixierung auf die USA befreien müsse.

Auch Wjatscheslaw Nikonow betonte die herausragende Bedeutung dieser Zone für die bilateralen Beziehungen. 80% der Spannungen mit den USA resultierten aus dem Umgang mit der Ukraine, 15% seien der Situation um Georgien zuzuschreiben. Das Grundproblem sei eine diametral entgegengesetzte Erfolgszuschreibung: Während die USA den Erfolg ihrer Politik daran messe, wie weit diese Länder sich von Russland entfernt hätten, wolle Russland sie möglichst eng bei sich sehen. Dieser Widerspruch sei nur schwer aufzulösen. Egbert Jahn wiederum vermisste klare russische Vorstellungen und konstruktive politische Initiativen. Während die EU ein klar formuliertes Integrationskonzept verfolge und gegenüber dem Baltikum etwa auch umgesetzt habe, finde sich Vergleichbares auf russischer Seite, etwa gegenüber dem südlichen Kaukasus, nicht. Vielmehr sei die russische Politik dort höchst unklar und ambivalent.

Aleksandr Gruschko ging ebenfalls auf die EU-Politik in der Region ein und reklamierte, dass diese nicht russischen Interessen zuwiderlaufen oder diese ignorieren dürfe. Vielmehr bedürfe es einer Kompatibilität, die er z.B. beim jüngsten Abkommen mit der Ukraine zur Überholung des Pipelinenetzes verletzt sah. Dazu merkte Hans-Dieter Lucas an, dass die EU lediglich Partnerschaftsangebote und damit weniger unterbreite, als diese Länder anstrebten. Ukrainische Beitrittswünsche etwa habe die EU abschlägig beschieden. Da die EU daran interessiert sei, eine Stabilitätszone zu errichten, sei die Kooperation mit Russland unverzichtbar. Darum auch habe die Bundesregierung bei der „Östlichen Partnerschaft“ der EU von Anbeginn auf eine „strukturelle Offenheit“ gerade auch für Russland gedrängt. Im Übrigen halte er dies für eine zukunftsträchtigere Lösung als den Vorschlag von Gunter Hellmann, wonach die wesentlichen Akteure in der fraglichen Region – Russland, die USA und die EU – für diese eine Art Neutralitätsstatus vereinbaren könnten, der gemeinsame Prinzipien für Sicherheit und Stabilität in der Region vorsehe. Ihm erschien dies ein plausibler Weg aus dem von Nikonow beschriebenen Nullsummen-Dilemma.

In Erweiterung der Diskussion äußerte Andrej Sagorskij Zweifel, dass die Wirtschaftskrise tatsächlich, wie vielfach angenommen, eine neuerliche Annäherung zwischen Russland und den USA befördere. Dass den USA, wie in Russland vermutet, damit die Grenzen ihrer Macht deutlich würden und dass umgekehrt Russland seiner wirtschaftlichen Verflechtung gewahr werde, müsse keineswegs zu einem kooperativeren Verhalten beider Seiten führen.

Günter Joetze wiederum verwies darauf, dass die von Karaganow angesprochene Machtverschiebung nach Asien mit einer Schwächung nicht nur der EU und der USA einhergehe, sondern auch eine Schwächung Russlands bedeute. Immerhin könne dies die wechselseitige Kooperationsbereitschaft stärken, da niemand Interesse an einem nur schwer kontrollierbaren übermächtigen China haben könne.

Charles Kupchan machte auf ein Dilemma der Obama-Administration aufmerksam, in der es im Übrigen einige Differenzen zur Russland-Politik gebe. Die „Reset“-Politik sei selbstverständlich auf ein positives Echo aus Moskau und eine gewisse Reziprozität angewiesen. Obamas neuer außenpolitischer Kurs müsse bald sichtbare Ergebnisse zeitigen, da sich sonst in den USA das „window of opportunity“ schnell, konkret bis Ende 2009, schließen werde. Dem wiederum steht auf russischer Seite entgegen, dass Moskau nicht länger bedingungs- und besinnungslos amerikanischen Wünschen – und Kurswechseln – folgen mag. Die Tatsache etwa, dass George W. Bush trotz des Irak-Kriegs 2004 wiedergewählt worden sei, habe, so Aleksandr Kramarenko, das Vertrauen in die USA und ihre Politik massiv erschüttert.

Streitgespräch: Feind- oder Spiegelbilder? Das Dilemma der Ungleichzeitigkeit in der deutsch-russischen Wahrnehmung



Schließlich befassten sich die Schlangenbader Gespräche mit einem Thema, das sich seit geraumer Zeit wie ein roter Faden durch deutsch-russische Treffen zieht: die wechselseitige Wahrnehmung der Deutschen und Russen sowie die wechselseitige Berichterstattung.

Ausgangspunkt war eine auffallende Diskrepanz zwischen der veröffentlichten Meinung in beiden Ländern und den Einstellungen der Bevölkerung. So hätten zahlreiche russische Medien einen neuen Kalten Krieg entfesselt, und auch in Deutschland habe spätestens die Berichterstattung über den Kaukasus-Krieg tief sitzende antirussische Reflexe offenbart. Nach Auffassung von Michail Fedotow repräsentiere dies die Neigung der Medien, einfach zugeschnittene Feindbilder zu reproduzieren, statt sich differenziert mit den Komplexitäten der Realität auseinander zu setzen.

Auf der anderen Seite ermittelte eine 2008 durchgeführte Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach und des Lewada-Zentrums im Auftrag des Rheinischen Merkurs eine ausgesprochen positive Bewertung Deutschlands und Russlands in der wechselseitigen Wahrnehmung der Deutschen und Russen, auch wenn andere Umfragen (wie z.B. PEW Global Attitudes) zu abweichenden Ergebnissen gelangt sind. Dabei sticht allerdings ins Auge, dass die Bewertung der positiven und negativen Merkmale beider Länder sehr unterschiedlich ausfällt. Dies führte Thomas Gutschker unter anderem auf eine bemerkenswerte Zeitverschiebung in der wechselseitigen Wahrnehmung zurück. So assoziierten die Russen mit Deutschland vor allem historische Figuren wie Hitler, Goethe, Marx oder Beethoven oder aber Ereignisse wie den Faschismus und den Zweiten Weltkrieg. Aktuelle Ereignisse und Personen spielten dagegen eine weit geringere Rolle. Bei den Deutschen sei es hingegen umgekehrt, denn für sie stünden Gorbatschow, Putin, Lenin und Stalin im Mittelpunkt, ebenso wie der Konflikt im Kaukasus oder die deutsche Energieabhängigkeit von Russland. Daraus resultiere eine tendenziell kritischere Einstellung zum heutigen Russland, die natürlich auch durch die aktuelle Berichterstattung der Medien transportiert werde.

Nach Auffassung von Wladimir Ryschkow reflektiere dies auch den unterschiedlichen Status und Spielraum der Medien in Deutschland und Russland. In Deutschland fänden sich in den Medien mindestens zwei Tendenzen, eine realpolitische, die auf die Energiefreundschaft beider Länder abstelle, und eine eher linke und kritische, die ihre Aufmerksamkeit auf Ereignisse wie die Ermordung Anna Politkowskajas richte. Daher sei ein deutlicher Unterschied zwischen der veröffentlichten Meinung und der offiziellen Präsentation Russlands vonseiten der Regierung festzustellen. Dies sei in Russland angesichts der strikten Regierungskontrolle der Medien nicht der Fall, sodass die öffentliche Meinung den pro- oder antiwestlichen Orientierungen der politischen Führung folge. An diese Ausführungen knüpfte sich eine lebhafte und auch kontroverse Diskussion über die Rolle und Verantwortung der Journalisten, die im Ergebnis indes ebenso offen blieb wie die Frage, welcher Einfluss der Berichterstattung auf die öffentliche Meinung beider Länder tatsächlich zuzuschreiben ist.



Protokoll: Anastasia Schesterinina, Anastasia Andrejewa