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Kurzbericht 2009


Vom 30. April bis 2. Mai 2009 fanden die 12. Schlangenbader Gespräche statt, ein jährlicher deutsch-russischer Gesprächskreis zu außen- und sicherheitspolitischen Fragen. In diesem Jahr stand er unter dem Leitthema "Krise und Entscheidung: die internationale Ordnung auf dem Prüfstand". Zwei Ereignisse des letzten Jahres haben weitreichende ordnungspolitische Fragen aufgeworfen: zum einen der Kaukasus-Krieg zwischen Russland und Georgien im Sommer 2008, der mit der offiziellen Anerkennung der beiden georgischen Abspaltungen Abchasien und Süd-Ossetien durch Russland und mit einer neuerlich zugespitzten Krise in den Beziehungen zwischen Russland und dem Westen endete. Zum anderen war und ist dies die alles überlagernde Weltfinanz- und Wirtschaftskrise, die im Herbst 2008 ihren ersten Höhepunkt erreichte. Ersteres hat die europäische Sicherheitsordnung auf den Prüfstand gestellt, Letzteres die Weltfinanzordnung - weit über die unmittelbare Krisenbewältigung hinaus.

Der Einstieg in die Tagung widmete sich nicht nur aus Gründen der Aktualität der Globalen Wirt-schaftskrise und ihren politischen Folgen. Es bestand weithin Einigkeit, dass die Krise einen markanten Einschnitt für die Weltwirtschaft darstellt, der zumindest eine Wiederbesinnung auf die "Realwirtschaft" einleiten werde. Revolutionäre Veränderungen seien indes nicht zu erwarten, zu-mal es ernsthafte Zweifel an der Regulierungskompetenz der G20 gebe. Die Differenzen innerhalb dieser neu formierten Gruppierung seien einfach zu groß, und entgegen den aus Moskau und Peking geäußerten Präferenzen sei keineswegs absehbar, dass der US-Dollar als internationale Leitwährung abgelöst werden könnte. Absehbar sei hingegen eine beschleunigte Schwerpunkt- und Machtver-lagerung nach China und Asien.

Russlands Rolle in der Krise wurde - nicht zuletzt von den russischen Teilnehmern selbst - sehr unterschiedlich beurteilt. Auf der einen Seite wurde darauf aufmerksam gemacht, dass die Krise in Russland auch eine Krise des mit dem Namen Wladimir Putins verbundenen politischen Systems signalisiere. Dessen Stabilität basierte auf den hohen Kapitalimporten der letzten Jahre und sei mit der absehbaren dramatischen Krise der öffentlichen Finanzen an sein Ende gekommen. Angesichts der Tatsache, dass heute die Bürokratie größter Unternehmer in Russland sei und 40% aller Er-werbstätigen im öffentlichen Sektor beschäftigt seien, wären der notwendigen Anpassung und Modernisierung enge Grenzen gezogen. Dem wurde entgegengehalten, dass im Vergleich zur Schwere der Krise in den westlichen Ländern diese in China und Russland eher die Stärke des Staatskapitalismus zum Ausdruck bringe. Auch sei die Zustimmung zu Putin immer noch außer-ordentlich hoch, da die Krise in der russischen Bevölkerung vor allem den USA angelastet würde. Auch wenn die sozialen Folgen in Russland ebenso wenig absehbar seien wie der Verlauf der Krise selbst, so sei kaum eine liberale Wende zu erwarten. Viel wahrscheinlicher sei eine Stärkung links-nationalistischer politischer Kräfte mit der Folge einer weiteren Schwächung der Demokratie in Russland.

Der Einstieg in das zweite zentrale Thema - die Europäische Sicherheitsordnung - erfolgte über eine ausführliche Präsentation und Diskussion der Vorschläge des russischen Präsidenten zum Abschluss eines Europäischen Sicherheitsvertrags, die dieser bei seinem ersten Deutschland-Besuch Mitte des vergangenen Jahres unterbreitet hatte. Er geht von der Prämisse aus, dass alle Staaten Europas Anspruch auf gleiche Sicherheit hätten und dass alle gleichberechtigt in die Entscheidungsprozesse einbezogen werden müssten. Dies sei bei der Wahrung der Menschenrechte längst verwirklicht, nicht jedoch im Bereich der Sicherheit, wo kein einheitliches System existiere und die Denkmuster des Kalten Krieges in vielfacher Form fortbestünden. Klar sei, dass der "NATO-Zentrismus" unter keinen Umständen zu einem universalen Modell werden könne - zumal Russland nie einer Organisation beitreten werde, in der ein anderer die Führung innehat. Die NATO brauche daher klare Grenzen. Das gilt aus russischer Perspektive in gewisser Weise auch für die Europäische Union. Deren neu begründete "östliche Partnerschaft" berühre die russischen Interessen dann an einer empfindlichen Stelle, wenn damit die Einflusszone der EU erweitert werden solle. Das sei nur vertretbar, wenn sich die EU auf ihre "soft power" beschränke. Gleichwohl müsse eine Abstimmung mit den russischen Interessen gefunden werden, wobei Einigkeit bestand, dass Kriegsgefahr gegenwärtig nicht das Hauptproblem in Europa darstelle. Von deutscher Seite wurde darauf hingewiesen, dass die Bundesregierung von Anbeginn auf eine "strukturelle Offenheit" gerade auch für Russland gedrängt habe.

Kritisch wurde zum Vorstoß des russischen Präsidenten angemerkt, dass er letztlich auf die Alternative hinauslaufe, dass alle europäischen Staaten der NATO beitreten oder dass die NATO aufgelöst werde. Dann sei gleiche, aber eben auch weniger Sicherheit für alle erreicht. Auch käme in den Vorschlägen neuerlich zum Ausdruck, dass Russland unentschlossen zwischen der Alternative Integration versus Gegengewicht schwanke, was beides aktuell nicht einzulösen sei. über das Ziel westlicher Politik, Russland an die Euroatlantische Gemeinschaft heranzuführen, bestand Einigkeit. Diese erstreckte sich allerdings auch darauf, dass angesichts der aufgezeigten Widersprüche der Weg dahin noch weitgehend im Dunkeln bleibe. Doch solle eine neue sicherheitsvertragliche Grundlage am Ende eines Annäherungsprozesses stehen und dürfe keinen Rückschritt gegenüber den Prinzipienerklärungen der Vergangenheit darstellen. In jeden Fall müsse die Paradoxie aufgelöst werden, dass die wirtschaftliche Verflechtung immer weiter voranschreite, die politische hingegen immer schwächer werde.

Ein durchaus gemischtes Bild ergab die Diskussion der Amerikanischen Russlandpolitik des neuen Präsidenten Obama. Einigkeit herrschte insoweit, als mit dem neuen Präsidenten Chancen auf eine Verbesserung der Beziehungen zu Russland eröffnet worden seien, die aktuell den tiefsten Stand seit dem Ende des Kalten Kriegs - und darüber hinaus - erreicht hätten. Ob und wie diese Chancen genutzt werden, sei indes auf beiden Seiten noch nicht entschieden. So wurde auf die Differenzen in der neuen US-Administration sowie darauf aufmerksam gemacht, dass Obama selbst nur eine begrenzte Neigung verspüre, sich den Mühen der Konsensfindung mit den politischen Institutionen und insbesondere dem Kongress auszusetzen. Schon immer habe er wie ein "political insurgent" operiert, der sich bei Problemen direkt an die Wähler wende, was auf längere Sicht erhebliche Risiken berge. Auch sei er darauf angewiesen, dass sein neuer außenpolitischer Kurs bald sichtbare Ergebnisse zeitige, da sich sonst das "window of opportunity" schnell schließen werde.

Dem steht auf russischer Seite entgegen, dass Moskau nicht länger bedingungs- und besinnungslos amerikanischen Wünschen - und Kurswechseln - folge. Dazu sei die Frustration über die Er-niedrigungen zu groß, als Russlands Interessen in den Zeiten seiner Schwäche systematisch ignoriert worden seien. Sein außenpolitisches Hauptziel bestehe heute in der Sicherung seines Einflussbe-reichs in der GUS. Hier existiere ein offener Konflikt mit den USA, doch verkörpere dies kein antiquiertes Politikkonzept, sondern sei eine Frage der russischen Identität - zumal die EU-Nachbarschaftspolitik letztlich nicht anders verfahre. Hinzu komme, dass Obamas in Prag ver-kündetes Ziel einer nuklearwaffenfreien Welt aus russischer Sicht sehr fragwürdig sei.

Schließlich befassten sich die Schlangenbader Gespräche mit einem Thema, das sich seit geraumer Zeit wie ein roter Faden durch deutsch-russische Treffen zieht: die wechselseitige Wahrnehmung der Deutschen und Russen sowie die wechselseitige Berichterstattung. Ausgangspunkt war eine markante Diskrepanz. So ermittelte eine 2008 durchgeführte Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach und des Lewada-Zentrums eine bemerkenswert positive Bewertung Deutschlands und Russlands in der wechselseitigen Wahrnehmung der Deutschen und Russen, auch wenn die Be-wertung der positiven und negativen Merkmale beider Länder sehr unterschiedlich ausfällt und auch wenn andere Umfragen (wie z.B. PEW Global Attitudes) zu abweichenden Ergebnissen gelangt sind. Die veröffentlichte Meinung wiederum stehe in auffallendem Kontrast dazu. So hätten zahl-reiche russische Medien einen neuen Kalten Krieg entfesselt, und auch in Deutschland habe spätestens die Berichterstattung über den Kaukasus-Krieg tief sitzende antirussische Reflexe offen-bart. Die Bewertung und Begründung dessen blieben ebenso kontrovers und offen wie die Frage, welcher Einfluss dieser Berichterstattung auf die öffentliche Meinung beider Länder zuzuschreiben ist.