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Protokoll 2008

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„Multipolarismus, Systemfrage und eine neue Epoche der Konfrontation?“ Diese Frage bildete das Rahmenthema des 11. Schlangenbader Gesprächs. Zwar werden die wachsenden Spannungen zwischen Russland und dem Westen von einigen, insbesondere in der Publizistik, bereits als neuer „Kalter Krieg“ wahrgenommen – nicht jedoch als neue Systemauseinandersetzung, womit dem neuen ein zentrales Element des einstigen Kalten Kriegs fehlen würde. Doch gibt es auch andere Stimmen, wie die von Sergej Karaganow, der unlängst eine „Neue Epoche der Konfrontation“ diagnostizierte. In ein ähnliches Horn stoßen jene, die neben amerikanischen Neokonservativen wie Robert Kagan etwa eine „Welt ohne Westen“ ausgerufen haben. Sie betonen, dass es sich bei den aufsteigenden Mächten Russland und China um politisch autoritär verfasste Staaten handele, die sich keineswegs den Globalisierungsregeln unterwerfen, sondern vom Westen abgrenzen wollen und „in zunehmendem Maße die Systemfrage“ stellen, wie unlängst die CDU/CSU-Bundestagsfraktion feststellte.


Hintergrund all dessen sind die aktuell zu verzeichnenden internationalen Machtverschiebungen, mit denen immer auch die internationale Ordnung herausgefordert ist, sowie in diesem Fall darüber hinaus die universale Geltung politischer Ordnungsvorstellungen – denn bei den beiden gewichtigsten Aufsteigern handelt es sich um Mächte, die – bei allen Unterschieden – ein gemeinsames Ordnungs­modell verfolgen, das eines „autoritären Kapitalismus“. Beides wurde im 11. Schlangenbader Gespräch detaillierter betrachtet ,und zwar sowohl mit Blick auf die ökonomischen Spielregeln als auch auf die potenziellen Wirkungen für die internationale Ordnung, letzteres anhand der Instrumente der Machtprojektion und deren kooperativer Einhegung durch die Rüstungskontrolle sowie der Allianzpolitik.
 
Den Auftakt der 11. Schlangenbader Gespräche bildete eine Dinner Speech von Egon Bahr. Er leitete damit ein, dass er sich im vergangenen November große Sorgen über die Sicherheitslage im Jahre 2008 gemacht habe angesichts einer möglichen Militäraktion gegen den Iran sowie wegen der geplanten Unterzeichnung des Vertrags über die Stationierung von Abwehrraketen in Polen. Heute seien seine Sorgen deutlich geringer. Der amerikanische Präsident habe seine innere Antriebskraft verloren. Auch erschwere der präzedenzlose Aufstand der Sicherheitsdienste in den USA eine aggressive Politik. Und schließlich habe sich das Treffen des amerikanischen und des russischen Präsidenten in Sotschi durch einen vernünftigen und kooperativen Umgang ausgezeichnet. Bahr begrüßte diese Entwicklung, weil für Europa und Deutschland eine Kooperation zwischen den Großen stets einer Konfrontation vorzuziehen sei. Des Weiteren ging er vertiefend auf zwei Aspekte der aktuellen Lage ein: die mögliche Raketenstationierung in Polen sowie das neue Machttandem in Russland.
 
Zu der neuen Machtkonstellation in Russland merkte Bahr an, dass das Tandem insofern eine interessante Richtung darstelle, als sich darin Medwedjews Bekenntnis zur Rechtssicherheit und zu wirtschaftlicher Effizienz mit Putins Kenntnissen des Apparats vereine. Gewiss sei Russland, so Bahr, keine Demokratie, aber Sicherheit und Stabilität seien für Deutschland um einiges wichtiger. Auch sollte nicht vergessen werden, dass Russland Entscheidungen über seine interne Entwicklung selbst zu treffen habe, wobei für Deutschland die Verlässlichkeit der Energielieferungen natürlich eine zentrale Rolle spiele.

Das aktuelle Problem der Raketenabwehr habe, so Bahr, seine Wurzeln Ende der 1950er Jahre, als die Sowjetunion Langstreckenraketen mit atomaren Sprengköpfen entwickelt und den amerikanischen Eliten damit einen tiefen Schock versetzt hatte. Zum ersten Mal fühlten sich die USA verwundbar. Eine Folge sei gewesen, dass die USA die Notwendigkeit einer strategischen Rüstungskontrolle akzeptiert hätten, woraus Verträge wie START-1 hervorgingen. Auf der anderen Seite begründete Bahr damit das amerikanische Streben nach Wiederherstellung der Unverwundbarkeit, was nach dem Scheitern von „Star Wars“ zur Entwicklung der Mittelstreckenraketen führte, deren Stationierung in Deutschland und Großbritannien 1987 anstand. Nach Bahrs Meinung gefährde die jetzt geplante Stationierung exterritorialer Raketen im Zentrum Europas neuerlich das Gleichgewicht im europäischen Sicherheitssystem, das vor 17 Jahren mit den Verträgen zwischen Gorbatschew und Reagan begründet worden war und die deutsche Wiedervereinigung, den Zerfall der Sowjetunion und des Warschauer Pakts sowie die EU- und die NATO-Erweiterung überlebt habe. Er befürchte, dass der Aufbau der Raketenabwehr in Polen das Ende der kooperativen, gemeinsamen und stabilen Sicherheit in Europa herbeiführe.
 
Die anschließende Diskussion konzentrierte sich auf das Thema der Raketenstationierung. Der Aussage von Heinz Timmermann, dass die US-Politik auch die Absicht verfolge, die Europäer zu spalten, stimmte Bahr ausdrücklich zu. Timmermann wollte darüber hinaus wissen, ob ein Übereinkommen zwischen den USA und der Sowjetunion existiere, wonach im Falle der Wiedervereinung die NATO sich nicht nach Osten ausweite. Die Existenz eines solches Abkommens verneinte Bahr, da zur Zeit der Verhandlungen über die deutsche Einheit keine der beteiligten Parteien mit dem Zerfall der Sowjetunion und des Warschauer Pakts gerechnet hätte. Dagegen halten die USA ihr damaliges Versprechen ein, keine Truppen oder Atomwaffen auf dem Territorium der ehemaligen DDR zu stationieren. Dazu merkte Günter Joetze an, dass eine Raketenstationierung in Polen angesichts der Vereinbarung, auf dem Territorium der ehemaligen DDR keine Waffen zu stationieren, durchaus als Versprechensbruch interpretiert werden könne. Bahr warf jedoch ein, dass Russland nicht deswegen, sondern wegen Missachtung seiner Meinung in dieser Frage protestiere. Alexander I. Nikitin hielt es angesichts der immer noch beträchtlichen Bestände an taktischen Nuklearwaffen für ein zentrales politisches Ziel, diese ausschließlich auf dem eigenen Territorium stationieren zu dürfen. Dem pflichtete Bahr insofern bei, als er bereits in der Palme-Kommission ein Minderheitenvotum abgegeben habe, das sich gegen Atomwaffen auf dem Territorium von Staaten richtete, die nicht darüber verfügten. Eine Entfernung der US-amerikanischen Nuklearwaffen aus Deutschland erfordere jedoch weitreichende politische Auseinander­setzungen und werfe die Frage der Militärstützpunkte auf, so dass dieses Problem kaum diskutiert werde.
 
Auf die Frage von Reinhard Veser nach der Bedrohung durch den Iran erinnerte Bahr an die nicht-existenten Massenvernichtungswaffen, die als Grund für den Irakkrieg gedient hätten, was skeptisch stimme. Da der Iran jedoch in spätestens 10 bis 15 Jahren über Trägersysteme verfüge, sollte zur Abwehr eine russisch-amerikanische Kooperation angestrebt werden. Was die Entwicklung der Atomwaffen im Iran angehe, solle allerdings nach Bahrs Meinung berücksichtigt werden, dass der Iran nicht nur die technologischen Fähigkeiten besitze, sondern auch insofern aus der Geschichte gelernt habe, als vor allem Atomwaffen Schutz gegen US-Eingriffe böten. Die Zusammenarbeit mit dem Iran unter russischer Beteiligung sei daher der einzige Weg, um diese Entwicklung unter Kontrolle zu halten.
 
Egbert Jahn warf in diesem Zusammenhang die Frage auf, ob gemeinsame russisch-westliche Raketenabwehrsysteme überhaupt vorstellbar seien und wie man schließlich mit Polen umgehe solle. Bahr wies darauf hin, dass dies Fragen seien, bei deren Beantwortung Deutschland keine Entscheidungs­kompetenz besitze. Ob es in einer multipolaren Welt jedoch einen europäischen Pol gebe, sei ungewiss – nicht zuletzt auch angesichts der Politik des neuen französischen Präsidenten. Bahr sehe keine Argumente, um Polen US-amerikanische Stützpunkte zu verwehren, solange in Deutschland selbst amerikanische Truppen stationiert seien. Andrej W. Sagorskij machte abschließend geltend, dass nach seinen Eindrücken aus den 1980er Jahren die Europäer vor allem befürchteten, die USA und Russland könnten zu einer bilateralen Verständigung finden, was dann auf ihre Kosten geschehe. Bahr entgegnete, dass dies „falsche Europäer“ gewesen sein müssen, weil Europa immer von der Kooperation der beiden Mächte profitiert habe.


Panel 1


Nach den Wahlen: Neue Perspektiven für die deutsch-russischen Beziehungen?

Auf beiden Seiten haben die russischen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen erkennbare Veränderungen eingeleitet. Auf russischer Seite sind diese offensichtlich, denn mit den Wahlen wurde ein Wechsel im Amt des Präsidenten begründet. Wie sich dies auf die Außenpolitik auswirkt, ist noch unklar, ja selbst, wie diese Veränderungen grundsätzlich zu interpretieren sind. Der deutsche Außenminister hat – pars pro toto – Medwedjew nachgesagt, er sei unter den potenziellen Nachfolgern jener, der „am stärksten für eine westliche Orientierung und wirtschaftliche Modernisierung Russlands“ stehe und daran „berechtigte Hoffnungen“ geknüpft. Nun hat aber Putin in mancherlei Hinsicht vorgebaut – etwa durch Übernahme der Ministerpräsidentschaft als auch der Parteiführung. Ob dies dazu dient, die bestehende Machtkonstellation zu seinen Gunsten zu konsolidieren, oder umgekehrt, den Machtübergang im Schatten rivalisierender Clans reibungsloser zugunsten des von ihm erwählten Nachfolgers zu gestalten, oder ob es gar – wie besonders Wohlmeinende mutmaßen – ein erster Schritt zur parlamentarischen Demokratie und weg vom Superpräsidentialismus darstellt, ist einstweilen offen, dafür aber umso offener zu diskutieren.
 
Davon ist die deutsche Russlandpolitik nicht unbeeindruckt geblieben. Noch Ende vergangenen Jahres hatte es öffentlich ausgetragene Auseinandersetzungen in der Großen Koalition über den Kurs der Außenpolitik gegeben. Unmittelbarer Anlass waren damals zwar China und der Empfang des Dalai Lama im Bundeskanzleramt, doch betraf dies Russland nicht minder. Seinerzeit hatte Außenminister Steinmeier den Vorwurf einer „Schaufensterpolitik“ erhoben und festgestellt, dass „eine wirklich gute Menschenrechtspolitik nicht die Selbstbeweihräucherung einer moralischen Großmacht Deutschland brauche, sondern etwas ganz anderes: Entschiedenheit, langen Atem und Klarheit“. Für Russland bedeute dies die Einsicht, „ein gedeihliches Verhältnis“ entwickeln zu müssen mit dem Ziel einer gesamteuropäische Friedensordnung, wozu Russland „als unverzichtbarer strategischer Partner“ des Westens ebenso benötigt werde wie umgekehrt der Westen als „natürlicher Modernisierungspartner“ Russlands. Daraus solle eine „gegenseitige Verflechtung“ erwachsen, zu der auch gehöre, „keine Zertifikate über die Qualität der russischen Regierungsform“ auszustellen.
 
Neuerlich jedoch hat sich Deutschland im Einklang von CDU und SPD, von Bundeskanzleramt und Außenministerium, wieder an die Spitze der Karawane auf dem Weg nach Moskau gesetzt: So war Angela Merkel am Internationalen Frauentag die erste ausländische Besucherin nach der Wahl Medwedjews und umgekehrt Berlin die erste Adresse bei dessen Antrittsbesuch im Westen; auch betätigte sich Deutschland führend bei den Bemühungen, der Ukraine und Georgien den NATO-Membership Action Plan zu verwehren. In gewisser Weise biegt damit die deutsche Politik wieder auf einen Kurs ein, der einst die Bundeskanzler Kohl und Schröder gekennzeichnet hat.
 
Sergej A. Markow sprach in seinem Vortrag sowohl die innen- als auch die außenpolitischen Konsequenzen der politischen Veränderungen in Russland an. In der Innenpolitik herrsche Konti­nuität, da Medwedjew bereits seit 17 Jahren mit Putin zusammenarbeite und an der Ausarbeitung der Agenda mitgewirkt habe. Auch werde das Tandem nicht zwei Spitzen der Macht, sondern vielmehr eine doppelte Machtspitze bilden. Med­wedjew müsse, so Markow, große Taten vollbringen, um wie Putin zum „nationalen Führer“ zu werden. Putin habe die staatlichen Institutionen wiederhergestellt, den Krieg in Tschetschenien gewonnen, die Wirtschaft wiederbelebt und den Russen Sicherheit und Stolz zurückgegeben. Medwedjews Aufgabe sei es nunmehr, die den Staat unterwandernde Korruption zu bekämpfen, den Wohlstand zu erhöhen und so die Mittelschicht zu stärken sowie die Rohstoffabhängigkeit der Wirtschaft zu reduzieren. Als weitere Ziele für Mewdedjew nannte Markow eine wesentliche Verbesserung der Beziehungen zum Westen und die Reintegration des postsowjetischen Raums. Zusammenfassend diagnostizierte er eine neue Etappe in der russischen Entwicklung, in deren Ergebnis der neue Präsident liberaler sein werde als Putin: Russland sei von der Stabilisierung zur Entwicklung übergegangen, so dass die Sicherheitsanforderungen in den Hintergrund treten und die gesellschaftliche Kontrolle über den Staatsapparat zur neuen Priorität werden müsse. Auch in der Wirtschaft gehe man von der staatlichen Kontrolle über die Rohstoffrente zur Er­schließung neuer Quellen für das Wirtschaftswachstum über, was zur Reduzierung der Staatsbeteiligungen in der Wirtschaft führen werde. Auf diese Weise werde sich Russland in Richtung Demokratie bewegen und keine weitere autoritäre Konsolidierung betreiben.
 
Was die Außenpolitik betrifft betonte Markow die zentrale Rolle des NATO-Beitritts der Ukraine und dankte ausdrücklich der deutschen Politik, die in Bukarest eine tiefe Krise verhindert habe. Er bezeichnete die Ukraine als eine „von der Nation gezeichnete rote Linie“: Sie sei die Geburtsstätte der russischen Kultur und des russisch-orthodoxen Christentums, so dass jeder Versuch, der Ukraine eine NATO-Mitgliedschaft aufzuzwingen, als Besetzung der Heimat empfunden werden müsse. Sowohl Russland als auch Deutschland seien an einer neuen Sicherheitsarchitektur in Europa interessiert, was umso bedeutsamer sei, als eine Verdrängung Russlands die Gefahr des Weimarer Syndroms und des Revisionismus anwachsen lasse. Je mehr Russlands Einfluss in Europa zurückgehe, umso geringer werde die Affinität zu den europäischen Werten und wachse die Feindseligkeit gegenüber dem Westen. Eine NATO-Ausweitung ohne Einbeziehung Russlands in eine neue europäische Sicherheitsarchitektur ist in Markows Augen ein größerer Fehler als der Irak-Krieg. Als Hauptziel bezeichnete er die Bildung eines auf der Basis gemeinsamer Werte vereinten Europas unter Einschluss Russlands. Dies könne die OSZE in ihrer aktuellen Verfassung leider nicht leisten. Vielmehr sollten die EU und Russland einen gemeinsamen Wirtschafts-, Bildungs- und humanitären Raum anstreben. Allerdings solle sich der Westen nicht über Gebühr in die Beziehungen Russlands im Osten einmischen.
 
Andreas Schockenhoff merkte positiv an, dass sowohl die deutsche als auch die russische Seite die gleichen Fragen stellten und auch in der Einschätzung der Lage nah beieinander lägen. Nach seiner Meinung werden die Perspektiven der russisch-deutschen Beziehungen letztlich durch die In­teressen beider Seiten bestimmt. Diese stimm­ten darin überein, eine Modernisierung Russ­lands anstreben zu wollen. Hierzu müssten, worauf sowohl Putin als auch Medwedjew immer wieder hingewiesen hätten, Korruption, Ineffizienz der Institutionen, Rohstoffabhängig­keit und die Missachtung von Mensch und Ge­setz überwunden werden. Bei der Energie­sicher­heit, die eine globale Herausforderung darstelle, seien beide Länder stark aufeinander angewiesen. Die bilateralen Beziehungen sollten durch einen vernünftigen Dialog und Vertrauensbildung getragen werden und nicht Konflikte verursachen. Mit Besorgnis sieht Schockenhoff die Aufnahme der offiziellen Beziehungen Russlands zu Abchasien und Südossetien, die im Widerspruch zur territorialen Integrität Georgiens und zur Verbesserung der russisch-georgischen Beziehungen stünden.
 
Zur NATO-Erweiterung pflichtete Schockenhoff der Auffassung bei, dass Georgien und die Ukraine noch nicht für einen Membership Action Plan reif seien. Jedoch komme es bei einem möglichen NATO-Beitritt ausschließlich auf die Akzeptanz innerhalb der betroffenen Länder an und nicht auf die russische Zustimmung. Russland müsse einsehen, dass sich eine NATO-Mitgliedschaft von Georgien und der Ukraine nicht gegen Russland richte. Zu den Beziehungen zwischen Russland und der EU betonte Schockenhoff, dass Russland die EU als Solidargemeinschaft wahrnehmen und nicht auf die Isolierung einzelner Mitglieder setzen solle. Auch plädierte er für eine Wertegemeinschaft, denn letztlich könne die angestrebte Modernisierung des Landes nur durch Demokratisierung gelingen. Vom Westen sei jetzt nicht nur kritische Empathie gefragt; vielmehr solle er sich nicht die Chancen der politischen Mitgestaltung bei dem von Medwedjew angestrebten Modernisierungsprozesses entgehen lassen. Schockenhoff nannte hier die Lockerung des NGO-Gesetzes als einen wichtigen Schritt der Liberalisierung. Abschließend hob er hervor, dass die Russland-EU-Beziehungen nicht auf Interessen reduziert werden, sondern auf gemeinsamen Werten zur Schaffung einer gemeinsamen Identität basieren sollten. Eine solche strategische Partnerschaft halte er sehr wohl für möglich.
 
Gert Weisskirchen teilte die Meinung seines Vorredners bezüglich der Bereitschaft der Ukraine zum NATO-Beitritt, diese Frage solle an ein Referendum geknüpft werden. Generell solle man sich in den Beziehungen zu Russland von der bereits angesprochenen „Empathie“ leiten lassen, mit dem übergeordneten Interesse an einer Friedensordnung in Europa. Was den Reformprozess betrifft, habe Russland die Frage der 1990er Jahre nach der Möglichkeit einer gleichzeitigen Durchführung politischer und ökonomischer Reformen mit einem eindeutigen „Nein“ beantwortet. Ökonomische Moder­nisierung finde statt, politisch sei Russland jedoch durch einen Semi-Autoritarismus charakterisiert. Weisskirchen merkte an, dass Markow bei seinen innenpolitischen Ausführungen die Duma kein einziges Mal erwähnt habe, was die fehlende Gewaltenteilung unterstreiche. Andererseits sieht Weisskirchen die heutige Entwicklung Russlands insoweit positiv, als sich bei unvollständiger Modernisierung durch die inneren Konflikte auch ein weitaus dramatischeres Szenario – wie in Jugoslawien – entwickeln könnte. Er begrüßte die Tatsache, dass Medwedjew die Risiken einer Semi­modernisierung erkenne und hoffte, dass diese Einsicht mehr als Rhetorik sei und in die Tat umgesetzt werde. Der Präsident alleine könne diese Konflikte jedoch nicht beseitigen, andere müssten dieses Bewusstsein ebenfalls entwickeln, so dass die Institutionen von unten reformiert werden können. Bis jetzt sehe Weisskirchen hier mehr Fragen als Antworten. Der politische Wille müsse noch formuliert werden, um das Konsolidierungspotenzial des neuen Präsidenten nutzen zu können. Die ökono­mischen Reformen müssten mit einer Reform des Bildungssystems einhergehen, da die Modernisierung kreative entschlossene Leute erfordere. Hier solle die EU eine aktive Rolle als Partner der russischen Modernisierung spielen. Russland brauche, so Weisskirchen, einen offenen Reformprozess, bei dem es den europäischen und nicht den euroasiatischen Weg wählen solle, um ein verlässliches Mitglied der europäischen demokratischen Familie zu werden.
 
Zunächst ging Wjatscheslaw A. Nikonow in seinem Vortrag auf die neue Machtsituation in Russland ein. Er sprach davon, dass Russland zum ersten Mal in der neuesten Geschichte einen starken Ministerpräsidenten habe, was sich aus historischer Perspektive (Witte, Stolypin) immer als Gewinn erwiesen habe. In Verbindung mit einem starken Präsidenten bilde dies die Grundlage für ein neues Niveau der politischen Führung. Im Übrigen schloss er eine Verfassungsänderung zur Erweiterung der Vollmachten des Ministerpräsidenten aus, da durchaus vorstellbar sei, dass Putin in das Amt des Präsidenten zurückkehren könnte. Nikonow charakterisierte Medwedjew als einen bequemeren Partner für den Westen: Er gehöre einer anderen Generation an und praktiziere einen anderen Stil als Putin. Die außenpolitische Orientierung Russlands stehe jedoch fest. Auch habe Russland hier keinen Bedarf an Ratschlägen, denn es sei mehr als Europa oder Eurasien: Es sei ein euro-pazifisches Land, das einen eigenen Machtpol bilde und eine Politik der Äquidistanz zu den anderen Machtpolen verfolge. Russland sei eines der wenigen Länder, das heute zu einer unabhängigen Außenpolitik in der Lage sei.
 
Ausdrücklich begrüßte Nikonow die An­näherung der Positionen von Deutschland und Russland, wie sie beim Gipfeltreffen der NATO in Bukarest deutlich geworden sei. Allerdings werde auch in Deutschland die existenzielle Bedeutung dieses Themas für Russland und die Gefahr, die von einem NATO-Beitritt Geor­giens ausgehe, unterschätzt. Sollte es in Abcha­sien oder Ossetien zu einem Konflikt kommen, wenn Georgien in der NATO ist, so finde Artikel 5 des Washingtoner Vertrags Anwendung, und die Welt stünde vor einer Atomkatastrophe. Darüber hinaus werde die Meinung von Abchasien und Südossetien bei der Entscheidung über den Beitritt nicht berücksichtigt. Nikonow betonte, dass Russland alles unternehmen werde, um den NATO-Beitritt von Georgien und der Ukraine zu verhindern. Sollte er gleichwohl durchgesetzt werden, sei die Kooperation mit der NATO beendet, und man komme zur Epoche einer neuen Konfrontation. Ein weiteres wichtiges Konfliktthema stellt nach Nikonows Meinung die Unabhängigkeit des Kosovo dar, die mit einer kriminellen Organisation an der Macht einen typischen failed state und Probleme in den Nachbarländern schaffe, das Schicksal der serbischen Flüchtlinge aus dem Kosovo nicht kläre und einen Präzedenzfall für andere Regionen bilde. Er hoffe jedoch, dass es gelingen werde, die Tendenz zur Verschlechterung der Beziehungen zwischen Russland und dem Westen infolge der EU- und NATO-Osterweiterung umzukehren.
 
Auch in der Energiepolitik vertrete Deutschland gegenüber Russland eine fortschrittlichere Position, was Nikonow insbesondere am Beispiel der Nordstream-Pipeline illustrierte. Er beschrieb dieses Projekt als Beispiel für die Politisierung der Energiediskussion: Was einst als vorrangiges Projekt der EU eingestuft worden sei, werde nach der EU-Osterweiterung blockiert. Eine solche Einstellung der EU zur Energiepartnerschaft könne Russland zur Diversifizierung seiner Absatzmärkte zwingen, was kaum im Interesse der EU liege. Auch würden die Bemühungen der deutschen Seite um eine Erneuerung des Partnerschafts- und Kooperationsabkommens gewürdigt, jedoch sei der Erfolg dieser Bemühungen ungewiss, obgleich der Vertrag für beide Parteien wichtig sei. Russland sei einer der Motoren der Weltwirtschaft, im vergangenen Jahr generierten die BRIC bereits 50% des globalen Wachstums. Was jedoch den WTO-Beitritt Russlands angeht, so schätzte Nikonow die Chancen als niedrig ein, zumal die Ukraine und Georgien vor Russland beitreten konnten und nun seinen Beitritt zu blockieren suchen. Auch würden die ökonomischen Gewinne aus dem WTO-Beitritt für Russland als gering erachtet, weshalb die russische Regierung für den Beitritt keine Opfer bringen werde.
 
Die Wertediskussion bildete den dritten Schwerpunkt in Nikonows Vortrag. Die Schärfe dieser Diskussion habe nachgelassen, weil in Russland niemand die demokratischen Werte in Frage stelle, andererseits jedoch kein Zweifel bestehe, dass diese noch nicht verwirklicht seien. Er merkte an, dass Russland derzeit auf der Suche nach eigenen Werten der gesellschaftlichen Harmonie, dem „Russkij Mir,“ sei. In diesem Zusammenhang betonte er, dass russische Probleme und deren Lösungen aus russischer Sicht deutlicher zu erkennen seien als aus westlicher, weshalb das Land keine Belehrungen aus dem Westen brauche.
 
Abschließend erläuterte Nikonow als Vorsitzender der Stiftung „Russkij Mir“ die Ziele und den Charakter ihrer Tätigkeit. Hier gebe es viele Fragen, die auch im Rahmen der Schlangenbader Gespräche behandelt werden könnten. Die Stiftung befasse sich mit Problemen der russischen Minderheiten und der Unterstützung kultureller und sprachlicher Programme in verschiedenen Ländern, u.a. auch in Deutschland, wo sich vier Millionen Menschen als Russen bezeichneten. Er betonte, dass die Selbstidentifizierung als Russe und nicht die ethnische Zugehörigkeit entscheidend sei. Russland rechne mit deutscher Unterstützung beim Schutz der Rechte der russischen Minderheiten in Lettland und Estland. Diese Minderheit erhalte dort keine Staatsbürgerschaft, keine Bürgerrechte, kein Eigentumsrecht und sei teilweise von Berufsverbot betroffen. Die bestehenden Naturalisierungsquoten werden das Problem erst in 200 Jahren lösen.
 
Die Diskussion konzentrierte sich auf die NATO-Erweiterung sowie die russische Innenpolitik. Egbert Jahn wie auch Heinz Timmermann merkten an, dass die Diskussion um den NATO-Beitritt insbesondere der Ukraine zu emotionsgeladen und voller Vorurteile sei. So lasse sich die Behauptung der russischen Teilnehmer, die Ukraine sei gleich Russland, kaum halten. Hier ergänzte Wilhelm Hankel, das heute keiner die Unabhängigkeit Österreichs bestreiten würde. Klaus Wittmann stellte die These auf, dass Russland sich selbst aus der Sicherheitsarchitektur ausschließe, was er u.a. am Beispiel des NATO-Defence-College illustrierte, an dem bisher nur zwei russische Teilnehmer teilgenommen hätten. Gefühle seien in Sicherheitsfragen schlechte Ratgeber, insbesondere wenn die Nullsummenlogik des Kalten Kriegs durch das Paradigma der kooperativen Sicherheit ersetzt worden sei. Pawel S. Solotarjow warf ein, dass der Beitritt der Ukraine zur NATO die Kooperation nicht verbessern könne und zudem ein Beitritt zum Artikel 5 darstelle, was von Russland ernst genommen werden müsse. Bei der militärischen Planung der NATO würden die Nicht-NATO-Mitglieder stets auf der anderen Seite stehen. Er bekräftigte, dass Russen und Ukrainer ein Volk seien und ergänzte, dass die Ukraine den NATO-Beitritt auch anstrebe, um das Eigentum russischer Unternehmen in der Ukraine leichter umverteilen zu können. Iwan A. Safrantschuk wies darauf hin, dass bisher die Initiative zum NATO-Beitritt immer von den Beitrittskandidaten ausgegangen sei, Georgien und die Ukraine würden jedoch übereilt in die NATO hereingezogen. Hierbei spielten die Motive der russischen Ablehnung nur eine untergeordnete Rolle. Wichtiger sei, dass, solange keine Verhandlungen zwischen Russland und NATO möglich sind, die Beitrittsabsichten zu inneren Konflikten in den Beitrittsländern führten. Thomas Gutschker fragte die russischen Teilnehmer, ob Russland ein „Ja“ zum NATO-Beitritt beim Referendum in der Ukraine akzeptieren würde. Nikonow antwortete darauf, dass ein solches Ergebnis kaum den Willen des ukrainischen Volkes widerspiegeln könne. Markow ergänzte, dass eine Entscheidung dann akzeptiert würde, wenn das Referendum fair, die Fragestellung korrekt und der NATO-Beitritt mit der Verfassung vereinbar sei sowie jegliche Manipulationen ausgeschlossen seien.
 
Ulrich Brandenburg bezweifelte, dass es derzeit eine russische Strategie zur Integration des postsowjetischen Raumes gebe, mit der den Animositäten und schlechten Erfahrungen begegnet werden könne. Drohungen jedenfalls seien für dieses Ziel nicht förderlich. Pjotr A. Fedosow bekräftigte, dass Russland nur durch Steigerung der eigenen Attraktivität in der Region und nicht durch Drohungen eine NATO-Erweiterung abwehren könne. Ähnliches gelte, wie Ernst-Jörg von Studnitz Nikonow entgegenhielt auch für Deutschland, das sich nicht gegen die NATO instrumentalisieren lasse; die Rolle Deutschlands solle daher von der russischen Seite nicht so herausgestellt werden. Auch widersprachen er und Timmermann der Eingangsthese über die Differenzen zwischen der SPD und der CDU/CSU in der Russlandpolitik. Dieser Konflikt zwischen den Koalitionspartnern erfülle in erster Linie eine innenpolitische Funktion.
 
Der letzte Themenblock betraf die russische Innenpolitik. Andrej W. Sagorskij meldete Zweifel an, ob die im Westen wohlwollend aufgenommene Rhetorik des neuen Präsidenten zur Modernisierung und zu den demokratischen Freiheiten tatsächlich verwirklicht werde, und fragte nach den Reaktionen der deutschen Seite, wenn dies nicht geschehe. Auch Wladimir A. Ryschkow zweifelte an einer Umsetzung der angekündigten Reformen. Er widersprach den Aussagen der russischen Panelisten zum wirtschaftlichen Fortschritt in Russland. So habe sich in den vergangenen acht Jahren die Lage in wichtigen Bereichen wie dem Bürokratieabbau, der Rohstoffabhängigkeit oder der Einkom­mensverteilung nicht verbessert, sondern ver­schlechtert. Das Gesundheits- und Bildungs­system verfalle weiter. Die äußerst günstige außenwirtschaftliche Lage sei nur unzureichend ausgenutzt worden. Im Übrigen teilte Ryschkow Sagorskijs skeptische Einstellung zur Rhetorik des Präsidenten. Die deutschen Teilnehmer fanden den neuen Begriff des „nationalen Führers“ erstaunlich und fragten nach, wie dieser definiert und nach welchen Kriterien er vergeben werde (Timmermann) und ob auch Medwedjew zum nationalen Führer werden könne, wenn er die Agenda seines Vorgängers umsetze, ohne eigene Ziele zu verfolgen (Friedemann Kohler). Nikonow definierte den „nationalen Führer“ als Oberhaupt eines Landes mit außerordentlichem Gewicht; als deutsches Beispiel führte er Adenauer an. Markow ergänzte, ein „nationaler Führer“ sei ein Politiker, dessen Absichten, Kurs und Stil der politischen Machtausübung vom Großteil der Bevölkerung geteilt werden.
 
In seinem Schlusswort betonte Schockenhoff, dass es auf Grund der wachsenden gegenseitigen Abhängigkeiten im 21. Jahrhundert keine unbeteiligte Beobachtung geben könne. Deutschland beabsichtige nicht, eine Schulmeisterrolle zu übernehmen, es gehe vielmehr um eine gemeinsame Zukunft. Die russische Bevölkerung sei nach dem Verlust der inneren Autorität und des Weltmachtstatus in Jelzins Regierungszeit bereit gewesen, die Beschneidung demokratischer Rechte in Kauf zu nehmen, um die Funktionsfähigkeit des Staates wiederherzustellen. Jetzt müsse jedoch eine Öffnung erfolgen, weil sich sonst innere Spannungen aufbauten. Auf die Nachfrage zur Diskussion um das Kosovo antwortete Schockenhoff, dass Russland diesen nur als Hebel benutzt habe, um den Einfluss der USA zu begrenzen, da originäre russische Interessen am Kosovo nicht zu erkennen seien. Eine Verhandlungslösung sei leider nicht zu erreichen gewesen und auch nicht mehr vorstellbar, weil das Provisorium dort völkerrechtlich nicht dauerhaft akzeptabel sei. Die serbischen Exklaven, versicherte Schockenhoff, stünden unter internationaler Beobachtung, um die Rechte der serbischen Minderheit zu sichern.

Nikonow bekräftigte in seinen abschließenden Bemerkungen nochmals die von der NATO-Erweiterung ausgehende existenzielle Bedrohung. Russland selbst sei nach Nikonows Meinung der beste Partner bei seiner Modernisierung, so dass es keine Hilfe von außen benötige. Der Westen habe in den 1990er Jahren die Möglichkeit verpasst, Russland als Teil des europäischen Sicherheitssystems zu integrieren. Was die Integration des postsowjetischen Raumes angeht, räumte Nikonow ein, dass es Russland an Soft Power mangele. Sein Imageproblem jedoch sei nur in einigen Ländern der westlichen Welt ausgeprägt.
 
Auch Markow sah in den Meinungen der deutschen Teilnehmer Relikte aus der Vergangenheit. In den 1990er Jahren habe Russland dem Westen vertraut, jedoch habe dies die Entwicklung negativ beeinflusst, weshalb es heute nicht mehr in einem Lehrer-Schüler-Verhältnis zum Westen stehen wolle. Trotzdem glaubte Markow, viele belehrende Untertöne aus den Beiträgen der deutschen Teilnehmer herauszuhören. Auch sei der Kalte Krieg vorbei, so dass sich die negative Grundeinstellung zu jeglicher Erweiterung des russischen Einflusses ändern sollte. Zur Integration des postsowjetischen Raums wolle Russland einen gemeinsamen Wirtschaftsraum schaffen, der etwa nach dem Muster der EU der 1960er-1970er Jahre ausgestaltet werde. Als Haupthindernis auf diesem Weg betrachtete Markow die westlichen Staaten, da ca. 75% der Bevölkerung in der Ukraine, in Kasachstan und Weißrussland eine solche Union unterstützten. Insbesondere die USA störten nicht nur die Beziehungen zwischen Russland und der EU, sondern stellten ein Problem für die ganze Welt dar. Die unipolare Welt der letzten 15 Jahre, in denen die USA die einzige Supermacht darstellten, sei erheblich unsicherer geworden, da die USA ihre eigene Sicherheit auf Kosten der Welt ausbauen wollten.
 
Weisskirchen sprach sich abschließend dafür aus, durch politische Steuerung bei den aktuellen Konflikten Zeit zu gewinnen, um so ein besseres Verständnis und neue Lösungsmöglichkeiten zu entwickeln. Insbesondere solle man die Chancen nutzen, die ein neuer Präsident sowohl in Russland als auch in den USA eröffnen würden. Auf der russischen Seite sieht Weisskirchen im NATO-Konflikt Ambitionen einer verlorenen Supermacht und grundlegende mentale Blockaden, die es der russischen Führung unmöglich machten, den Sicherheitsgewinn zu erkennen. Man könne jedoch nur Brücken zur Konfliktüberwindung errichten, wenn man offen über die wechselseitigen Interessen rede.


Panel 2
BRIC und die Folgen: eine Herausforderung für die weltwirtschaftliche Ordnung?

„BRIC“ – die Abkürzung steht für die vier „Schwellenländer“ Brasilien, Russland, Indien und China und damit als Synonym für die veränderten Kräfteverhältnisse in der Weltwirtschaft, die sich immer deutlicher abzeichnen. Zwar bilden diese Staaten keine homogene Gruppe, doch verbinden sie das hohe Tempo ihres Wirtschaftswachstums und die hohen Erwartungen, die an diese Länder geknüpft sind. Die Gestalt und die ordnungspolitischen Konsequenzen dieser Verschiebungen waren Gegenstand des zweiten Panels, in das mit zwei Vorträgen eingeführt wurde.
 
Wolfram Schrettl verwies auf die Entstehungsgeschichte der Abkürzung „BRIC“, mit der vor einigen Jahren die Investmentbank Goldman Sachs zu Zwecken des Marketing jene vier Länder zusammenfasste, die seither einen beeindruckenden wirtschaftlichen Aufstieg zu verzeichnen haben. So seien sie in den letzten Jahren zur Lokomotive der Weltwirtschaft geworden, auf die 50% des Wachstums (China allein 25%) entfalle – dies bei einem Anteil am globalen BIP von 15% (in Kaufkraftparitäten 26%). Angesichts eines Bevölkerungsanteils von 42% handele es sich aber immer noch um relativ arme Länder. Darüber hinaus seien die BRIC wichtige Exporteure und Importeure sowie ein beliebtes Ziel für Direktinvestitionen und seit neuestem, in Gestalt ihrer Sovereign Wealth Funds, auch eine zunehmend bedeutende Quelle für Investitionen.
 
Von einer homogenen Gruppe könne jedoch angesichts der Unterschiede in der Wirtschaftsstruktur und der politischen Interessen keine Rede sein. So gründe sich das Wachstum in China und Indien vorwiegend auf billige Arbeitskräfte, während es in Brasilien der Export von Agrarprodukten und Rohstoffen und bei Russland der Export von Energieträgern und Rohstoffen seien. Die Unterschiede beleuchtete Schrettl am Beispiel der Finanzkrise und ihrer Folgen für BRIC. Auch die BRIC hätten, so Schrettl, einen Beitrag zur Finanzkrise geleistet, wenngleich unbeabsichtigt. So hätten insbesondere China und Indien mit ihren billigen Exportgütern zum weltweit niedrigen Inflationsniveau beigetragen, was seinerseits eine lockere Geldpolitik ermöglichte. Die expansive Geldpolitik wiederum bewirkte bei Immobilien und Aktien eine Asset Price Inflation. Zudem legten die BRIC ihre Devisenreserven vor allem in den USA an, was dort zum Überfluss an Ersparnis, niedrigen Zinsen und einer Kreditblase beitrug. Auch die massiv angestiegene Nachfrage der BRIC nach Nahrungsmitteln und Energie trug zum Ausbruch der Krise bei.
 
Aktuell seien die BRIC von der Krise in geringerem Ausmaß betroffen als die entwickelten Volkswirtschaften, so Schrettl; es sei jedoch ungewiss, ob dieser Zustand anhalte. Auch in den BRIC seien die Aktienmärkte eingebrochen, obwohl ihre Banken nicht in den Handel mit strukturierten Produkten involviert waren. Wahrscheinlich seien auch ein Rückgang der Direktinvestitionen und der Exportnachfrage aus den Industriestaaten. Schließlich führe der Wertverlust des US-Dollar insbesondere in China und Russland zu beträchtlichen Verlusten, da deren Währungsreserven ganz überwiegend in US-Dollar angelegt seien. Andererseits entfalteten die steigenden Nahrungsmittel- und Rohstoffpreise in den BRIC eine asymmetrische Wirkung: Während China und Indien negativ betroffen seien, profitierten sowohl Brasilien als auch Russland.
 
Darüber hinaus machte Schrettl Zweifel an der Nachhaltigkeit des Wachstums der BRIC geltend. In China seien die Investitionen von herausragender Bedeutung, die mit einer jährlichen Rate von 25% wachsen, so dass ihr Anteil am BIP bereits abenteuerliche 40 bis 50% erreiche (in Russland seien dies unter 20%, allerdings auch mit einer beträchtlichen Dynamik). Ob es gelinge, das Wachstum langfristig mit anderen Mitteln zu sichern, sei ungewiss. Ein weiteres Problem für die Nachhaltigkeit stelle die derzeitige Abwertung der an den US-Dollar gekoppelten Währungen der BRIC-Staaten dar, obwohl im Interesse des weltwirtschaftlichen Gleichgewichts eigentlich eine Aufwertung geboten sei. Schließlich hätten sowohl Russland als auch China eine alternde Bevölkerung, was die Wachstumsdynamik verlangsamen werde. Für die Entwicklung Russlands sei zudem von zentraler Bedeutung, die Rohstoffabhängigkeit zu überwinden, was bis jetzt noch nicht gelungen sei.
 
Abschließend wandte sich Schrettl der politischen Rolle der BRIC zu. Bis jetzt gebe es keine spezielle Organisation, dies sei angesichts der Heterogenität und der Interessenkonflikte auch nicht zu erwarten. Jedoch könne sich die G24 als politisches Forum anbieten. Sie spreche sich etwa für eine Erhöhung des Gewichts der Schwellenländer innerhalb des IMF aus. Grundsätzlich habe die Entwicklungsdynamik der BRIC dazu beigetragen, dass die ökonomische und politische Rolle der USA geschwächt wurde, folgerte Schrettl. Er sieht darin jedoch keinen entstehenden Multipolarismus, sondern lediglich eine Abschwächung der Machtkonzentration.
 
Auch Wladimir I. Inosemzew nahm die BRIC als ein künstliches Gebilde wahr, mit unterschiedlichen politischen und wirtschaftlichen Zielen sowie einer sehr verschiedenen Wirtschaftsstruktur. Erst in 10 bis 15 Jahren werde festzustellen sein, wie nachhaltig das aktuell zu verzeichnende Wachstum tatsächlich sei. Mit Blick auf die Charakteristika der einzelnen BRIC-Staaten schien ihm Indien am wenigsten an Einfluss in der Weltpolitik oder der Weltwirtschaft interessiert zu sein. Für Brasilien sagte Inosemzew das größte Entwicklungspotenzial unter den BRIC voraus. Dem Land sei der Übergang zu Demokratie und Marktwirtschaft in gleicher Weise gelungen, und es habe seine Attraktivität für Investoren stark erhöhen können. Dies zeige sich unter anderem im Aktienindex BOVESPA, dessen Wert seit dem Jahr 2000 von 8.000 auf 40.000 angestiegen sei. Brasilien sei ein technisch und industriell entwickeltes Land, das als größtes Land in Lateinamerika die wirtschaftliche Integration des Subkontinents anführen werde. China sei führend in der Armutsbekämpfung und habe einen riesigen ökonomischen Erfolg zu verzeichnen, sowohl bei den Exporten verarbeiteter Produkte als auch bei den Infrastrukturinvestitionen. Allerdings sei die chinesische Wirtschaft zu groß für eine schmerzfreie Integration in die Weltwirtschaft, so dass sein Wachstum protektionistische Tendenzen in der Welt mobilisiere. Russland unterscheide sich darin grundlegend von China. Inosemzew hält ein Wirtschaftswunder in Russland nach chinesischem Muster für ausgeschlossen, weil in Russland bereits ein zu hohes Lohnniveau herrsche und die Modernisierungsprogramme im Investitionsbereich nicht umgesetzt würden. Russland komme nicht von der „Erdölnadel“ weg, so dass im günstigen Fall eine Entwicklung nach dem Modell der Vereinigten Arabischen Emirate vorstellbar sei.
 
Ob die Entwicklung der BRIC eine stabilisierende Wirkung auf die Welt ausüben werde, lasse sich nicht mit Gewissheit vor­hersagen, so Inosemzew in einer abschließenden politischen Betrachtung. Auch wenn sich zwischen Russland und China eine Annäherung vollziehe, gebe es doch ein beträchtliches Konflikt­potenzial. Das betreffe etwa die chinesischen Energiebezüge aus Zentralasien oder auch die mögliche Kopie russischer Waffen­systeme. China stelle, so Inosemzew, neben der EU und den USA einen selbstständigen Machtpol dar. Russland, das sich im Einflussgebiet der EU und Chinas bewege, werde sich unter Beibehaltung der heutigen Politik dagegen kaum zu einem solchen Machtzentrum entwickeln.
 
In der anschließenden Diskussion interessierte sich Andrej W. Sagorskij für die Handels- und Investitionsverflechtung der BRIC untereinander, da dies für die Herausbildung gemeinsamer Inter­essen von Bedeutung sei. In allen Ländern, so Schrettl, spielten die westlichen Länder die entscheidende Rolle. Inosemzew ergänzte, dass China im russischen Handel den 5. Platz belege. Insge­samt belaufe sich der Anteil der BRIC auf etwa 7,5 % des Welthandels, was ökonomisch so unbedeutend sei, dass gemeinsame Interessen der BRIC eher im allgemein-politischen als im wirtschaft­lichen Raum lägen. Wjatscheslaw A. Nikonow betonte, dass nach derzeitigen Prognosen das ökono­mische Potenzial der BRIC 2030 die G7-Staaten übertreffen werde und sich bereits jetzt eine ganz neue Hierarchie abzeichne. Dem hielt Schrettl entgegen, dass langfristige Prognosen mit erheblichen Unsicherheiten behaftet seien, während Inosemzew anmerkte, dass eine solche Prognose nichts darüber aussage, ob die größte Volkswirtschaft auch den größten Einfluss habe, etwa wenn der technologische Vorsprung des Westens erhalten bleibe. Die wirtschaftliche Entwicklung sei jedoch stabil, bekräftigte Nikonow, für keine der Volkswirtschaften werde eine Verlangsamung des Wachstums infolge der Finanzkrise prognostiziert. Allerdings registrierte auch er die Heterogenität der BRIC, widersprach aber Inosemzew entschieden, was die Triebkräfte des russischen Wachstums angehe: Erdöl trage nur noch zu 18% zum russischen BIP bei, es vollziehe sich mithin eine zunehmende Diversifizierung und eine Abnahme der Rohstoffabhängigkeit, wobei die postindustriellen Sektoren am schnellsten wüchsen. Die Währungsreserven seien nach Nikonows Angaben zwar hoch, aber diversifiziert, so dass der Verlust aus der Dollarabwertung viel geringer als dargestellt ausfalle. Außenpolitisch seien die BRIC selbstständige Akteure. Besonders interessiert sei Russland am Dialog mit China, aber es würden auch Gespräche im „Primakow-Dreieck“ zwischen Indien, China und Russland geführt. Die politische Gestalt der Zusammenarbeit sei derzeit noch unklar, jedoch seien das politische Potenzial ebenso wenig zu unterschätzen wie das ökonomische.
 
Wilhelm Hankel bezeichnete die BRIC unter ökonomischen Aspekten als Unikum, da es her­kömmlich die kleinen offenen Volkswirt­schaften seien, die ein exportgeführtes Wachs­tum aufwie­sen. Für ein Land wie China müsse dies mittel­fristig Probleme aufwerfen, und ohne Umstruk­turierung werde China bald an die Grenzen des Wachstums stoßen. Zur aktuellen Finanzmarkt­krise merkte Hankel an, dass diese nichts mit der realwirtschaftlichen Entwicklung zu tun habe, sondern eine reine Bewertungs- und Buchhaltungskrise sei, verursacht durch Ordnungsdefizite auf dem Geldmarkt und die Entwicklung undurchsichtiger Finanzprodukte. Im Hintergrund der Krise stehe der Rückzug der westlichen Zentralbanken aus dem Geldmarkt nach der Einführung flexibler Wechselkurssysteme. Das Dilemma sei jedoch, so Schrettl, dass die Buchhaltungskrise massive reale Folgen habe, die auch vor den BRIC nicht Halt machen werden.

Panel 3


Die Zukunft der Rüstungskontrolle

Ob die Rüstungskontrolle, ein im Kalten Krieg unverzichtbares Instrument der Ost-West-Beziehungen, eine Zukunft hat, wird in der internationalen Diskussion außerordentlich skeptisch beurteilt. Die Skepsis wird nicht nur durch die seit Jahren höchst distanzierte Haltung der US-Administration zur Rüstungsbegrenzung genährt, sondern auch durch die jüngste Abkehr Russlands vom KSE-Vertrag, von den verstärkten Rüstungsanstrengungen in nahezu allen Ländern der Welt ganz zu schweigen. Es war daher dringend geboten, dieses Ursprungsthema der Schlangenbader Gespräche erneut zu einer ausführlichen Betrachtung auf die Agenda zu nehmen.
 
Harald Müller stellte in seiner Einführung die aktuelle Situation in Gestalt einer Bilanz dar. Auf der Haben-Seite finden sich danach die Im­plementierung des START1-Vertrags wie auch des Moskauer Vertrags sowie die Fortsetzung des Cooperative Threat Reduction Programs (Nunn-Lugar) zur Sicherung des kerntechni­schen Materials in der ehemaligen Sowjetunion. Die Soll-Seite, so Müller, sei jedoch weitaus länger:
 
  Der Moskauer Vertrag stelle eine Parodie auf einen Rüstungsvertrag dar, da er keinerlei Verifikationsbestimmungen enthalte und automatisch mit seiner Erfüllung erlösche.
  Der ABM-Vertrag gehöre wegen des Rückzugs der USA der Vergangenheit an.
  Der angepasste KSE-Vertrag sei von den NATO-Mitgliedern nicht ratifiziert und der KSE-Vertrag von Moskau suspendiert.
  Die Vertragsgemeinschaft des Nichtverbreitungsvertrags sei zerstritten, was dessen Zukunft bedrohe.
  Der Versuch, der Biowaffenkonvention ein Compliance- und Transparenzprotokoll anzufügen, sei am amerikanischen Widerstand gescheitert.
  Der INF-Vertrag bestehe zwar noch, werde jedoch vermehrt in Frage gestellt.
 
Der Hauptzweck der Rüstungskontrolle bestehe, so Müller, darin, das Sicherheitsdilemma in den Griff zu bekommen. Dies werde durch die Prinzipien der Stabilität, Transparenz, Balance und Defensivität erreicht. Diese Prinzipien seien mit aggressiven Absichten nicht vereinbar und vermittelten den Vertragsparteien die wichtige Nachricht einer „guten Absicht“. Ergänzende Vorkehrungen zur Verifikation seien wichtig, um die Vertrauensbildung zu stärken. Dies gelte auch heute, trotz der fünf zentralen Argumente, die grundsätzlich gegen die Rüstungskontrolle vorgebracht werden:

(1)   Rüstungskontrolle sei ein Erbe des Kalten Krieges. Nach Müllers Ansicht sei Rüstungskon­trolle jedoch auch in einer multipolaren Welt unverzichtbar, gewinne sogar an Bedeutung, da Rüstungswettläufe in einer multipolaren Welt schwieriger zu kontrollieren seien.
(2)   Rüstungskontrolle sei überflüssig, weil es keine Konflikte zwischen den Großmächten gebe. Auch wenn sich aktuelle Konflikte in Grenzen halten, existierten durchaus Strategien, die solche Konflikte einkalkulieren, etwa die Nationale Sicherheitsstrategie der USA.
(3)   Rüstungskontrolle helfe nicht gegen die Hauptbedrohung der modernen Welt, den internationa­len Terrorismus. Hierzu merkte Müller an, dass multilaterale Verträge zu den Massenvernich­tungswaffen die Kontrolle gefährlicher Materialien ermöglichen und so dazu beitragen, deren Transfer an Terroristen zu verhindern.
(4)   Rüstungskontrolle ignoriere innerstaatliche Konflikte. Dieses Argument stimme mit der Realität nicht überein, weil die UNO-Programme zur Demobilisierung und Reintegration von Kombat­tanten sowie das Kleinwaffenprogramm der Ottawa-Konvention zur Dämpfung innerstaatlicher Konflikte eine Abrüstungskomponente besitzen.
(5)   Vertragliche Rüstungskontrolle sei zu langsam und mühsam, die gleichen Ziele könnten auch durch unilaterale Stabilisierungsverpflichtungen erreicht werden. Als Gegenargument betonte Müller die Rolle der Verifikation zur Schaffung von Vertrauen. Es könnten jedoch nur ver­tragliche Bestimmungen durchgesetzt und verifiziert werden.
 
Daraus schloss Müller, dass der aktuelle Notstand der Rüstungskontrolle nicht den veränderten objektiven Bedingungen geschuldet, sondern politisch erwünscht sei. Insbesondere die USA hätten im Verlauf der letzten zehn Jahre das Interesse verloren und würden auf militärische Überlegenheit und präventive Strategien setzen. Eine Umkehr dieser negativen Trends setze daher vor allem eine neue Politik in den USA voraus. Die zur Wiederbelebung notwendigen Schritte umfassen nach Ansicht Müllers:

  Die Wiederbelebung des KSE-Vertrags. Er  plädierte für eine zügige Ratifizierung seitens der NATO-Staaten und die Aufhebung der Suspendierung durch Russland.
  Ein Neubeginn in der strategischen Rüstungskontrolle nach START-1 und als Ersatz für den Moskauer Vertrag. Eine Kappungsgrenze für die Kernwaffenarsenale der kleineren Kern­waffen­staaten sei in diesem Zusammenhang wünschenswert.
  Die Inkraftsetzung des Teststoppvertrags, was in erster Linie die amerikanische Ratifikation erfordere. Ein Ausbleiben dieses Vertrags bedrohe den Nichtverbreitungsvertrag.
  Die Einleitung von Verhandlungen über ein Verifikationsregime zur Spaltstoffproduktion im Rahmen der Genfer Abrüstungskonferenz.
  Eine Vereinbarung der Grenzen für die Raketenabwehr sowie eine Roadmap zur Entwicklung eines globalen Raketenabwehrsystems.
 
Die Intensivierung der Rüstungskontrolle stelle keinen Ersatz für friedliche Beziehungen zwischen den Mächten dar; jedoch könne die Rüstungsdynamik per se Mächtebeziehungen ruinieren, was derzeit in den Beziehungen zwischen NATO/USA, China und Russland zu beobachten sei. Müller mahnte am Ende seines Vortrags an, dass die Wiederbelebung der Idee der kooperativen Sicherheit intensiver Bemühungen von allen Seiten, insbesondere jedoch in den USA, bedarf.
 
Nach Auffassung von Alexander I. Nikitin betrachte die Welt seit 2001 den Terrorismus als Hauptgefahr, obwohl die Hauptagenda aus den Zeiten des Kaltes Kriegs noch lange nicht erfüllt sei. Er veranschaulichte dies am Beispiel der Abrüs­tungsverträge: 2002 hörte der ABM-Ver­trag nach 30 Jahren auf zu existieren; der CTBT-Vertrag von 1996 sei bis jetzt nicht in Kraft getreten, weil zu wenige Länder ihn ratifi­ziert hätten; START-2 sei ebenfalls nicht in Kraft getreten, weil die Parlamente in Russland und den USA den Ratifizierungsprozess hinaus­gezögert und schließlich unterschiedliche Ver­sionen des Vertrags ratifiziert hätten; der bislang größte Kernwaffenvertrag START-1 laufe Ende 2009 aus, und wichtige Instrumente der Verifikation und Kontrolle werden damit verloren gehen; im November 2007 habe Russland den KSE-Vertrag suspendiert, und derzeit werde in der Staatsduma ein Austritt aus dem INF-Vertrag diskutiert.
 
Auf der anderen Seite betragen die weltweiten Militärausgaben heute 1.300 Milliarden USD, wovon die Hälfte auf die USA entfallen, 59 Milliarden auf Großbritannien, 53 Milliarden auf Frankreich, 39 Milliarden auf Deutschland und 34 Milliarden auf Russland. Vergleiche man die Militärausgaben der Mitgliedsländer des Vertrags zur Kollektiven Sicherheit, so liege Russland weit vorne, gefolgt von Kasachstan (1,2 Milliarden USD) und Usbekistan (0,9 Milliarden USD). Insgesamt stünden Militärausgaben der Mitglieder des Vertrags für Kollektive Sicherheit von ca. 42 Milliarden USD Ausgaben von ca. 800 Milliarden USD auf Seiten der NATO gegenüber. Diese Differenz zwinge Russland zu asymmetrischen Lösungen, etwa im Kernwaffenbereich. Seit dem Ende der Sowjetunion wurden der strategische und taktische Atomwaffenbestand kontinuierlich abgebaut, so Nikitin. Russland verfüge derzeit über ca. 3200 Atomsprengköpfe auf ca. 1.000 strategischen Trägern, wobei bis 2010 eine grundlegende Transformation geplant sei, so dass nur ca. 1.500 Sprengköpfe auf 400 Trägern verbleiben sollen. Dies ging mit einer Transformation der russischen Nukleardoktrin einher. 1996 verzichtete Russland auf Atomtests, ein Verzicht auf Parität folgte. Die Doktrin ziele auf eine Reduzierung des Waffenbestands, was jedoch mit einer Modernisierung einhergehe. In diesem Zusammenhang beklagte Nikitin die möglichen Folgen eines Austritts Russlands aus dem INF-Vertrag: Dieser würde nicht nur die erfolgreichen Inspektions- und Austauscherfahrungen zunichte machen, sondern eine neue Welle des Rüstungswettlaufs auslösen, auch in Europa. Da die Herstellung von Kurz- und Mittelstreckenraketen neue Tests erfordere, werde ferner das Testverbot untergraben. Zudem schaffe es im Iran, in Pakistan, Indien, China Anreize zum atomaren Rüstungswettlauf. Was die heiß diskutierte Frage der Raketenstationierung in Europa angehe, äußerte Nikitin die Meinung, dass die russische Seite keine militärische Gefahr befürchte, sondern diese Diskussion in erster Linie zu politischen Verhandlungen nutze. Die Verbindung mit der Kündigung des INF-Vertrags sei jedenfalls künstlich.
 
Nikitin betonte, dass die russische Seite nicht dem US-Beispiel folgen und die langfristigen interna­tionalen Vertragsregelungen zugunsten vorübergehender taktischer Vorteile aufgeben solle. In der Rüstungskontrolle sollten folgende Ziele erreicht werden:

  Inkraftsetzung des Vertrags über das Verbot von Atomtests (CTBT).
  Übernahme der Regelungen von START-2 und Reduzierung der strategischen Waffenbestände auf unter 1.000 Sprengköpfe. Dabei sei darauf zu achten, dass die Waffenbestände tatsächlich vernichtet und nicht eingelagert werden.
  Verhindern der Entwicklung neuer Atomwaffentypen und Verbot von Atomwaffen im Weltall, um die vertikale Verbreitung zu stoppen.
  Regelungen zur Raketenabwehr, um die Anreize zum Rüstungswettlauf zu reduzieren.
  Deklaration mit anschließender Reduzierung der Bestände an taktischen Waffen.

Langfristig sollte ein allgemeines Verbot der Atomwaffen analog zu den chemischen und biologischen Waffen angestrebt werden. Die Verwirklichung dieser weitreichenden Ziele betrachtete Nikitin jedoch als unwahrscheinlich. Nur vier Ziele könnten kurzfristig erreicht werden:

(1)   Erhaltung des Verifikationsmechanismus des im kommenden Jahr auslaufenden START-1 Ver­trags;
(2)   Kürzung der Obergrenze der strategischen Waffen unter 1.000 Sprengköpfe;
(3)   Fortführung des nuklearen Teststopps;
(4)   Finalisierung des Vertrags über das Verbot zur Herstellung spaltbaren Materials (FMCT).

Zu den in nächster Zukunft unrealistischen Zielen zählte Nikitin auch die Rettung des KSE-Vertrags sowie die Einbeziehung der sieben „anderen“ Atommächte in die Verhandlungen. Es bestehe das Risiko, bis 2010 den Vertrag zur Nichtverbreitung von Atomwaffen zu verlieren. Abschließend hob Nikitin die direkte Verbindung zwischen der Krise in der Rüstungskontrolle und der Krise in der Nichtverbreitung hervor. Seine Schlussfolgerung lautete, dass eine weitere Verbreitung von Atomwaffen nur verhindert werden könne, wenn internationale Rüstungskontrolle wieder praktiziert und als Wert anerkannt werde.
 
Ulrich Brandenburg zitierte eingangs seines Beitrags das Kommuniqué des NATO-Gipfels in Bukarest, in dem der Beitrag von Rüstungskontrolle, Abrüstung und Nichtverbreitung zur Herstellung von Frieden, Sicherheit und Stabilität bekräftigt werde. Zudem wurde bei diesem Treffen ein von Deutschland und Norwegen veranlasster Be­richt zum Stand der Rüstungskontrolle zur Kennt­nis genommen. Die Bedeutung von Rüs­tungskon­trolle und Abrüstung für die Sicherheit im euroatlan­tischen Raum seien für die Mitglieds­länder der NATO, so Brandenburg, seit vie­len Jahren unumstritten und spiegelten sich auch im geltenden strate­gischen Konzept der NATO wider. Die NATO sei allerdings kein Block, son­dern eine Organi­sation, in der Konsens manch­mal nur in langwierigen Verhandlungen zu erreichen sei. Deutschland werde jedoch dafür sorgen, dass das Thema der Rüstungskontrolle oben auf der Tagesordnung bleibe, schließlich sei in keinem Land die Abrüstungslobby so groß. Andererseits nehme nach seinem Eindruck auch bei den Verbündeten in der NATO, wie Großbritannien oder den USA, das Interesse zu, als Reaktion auf die Krise der globalen Nichtverbreitungspolitik und der Entstehung „inoffizieller“ Atommächte. So sei auch beim Treffen von Bush und Putin in Sotschi die Rüstungskontrolle ein Schwerpunkt gewesen. Dazu gehörten START-1, vertrauensbildende Maßnahmen im Rahmen der Raketenabwehr sowie das Schicksal des KSE-Vertrags.
 
Der Grund, dass die Rüstungskontrolle wieder nach oben auf der politischen Agenda gerückt sei, ist laut Brandenburg die Erkenntnis, dass die Erosion der Rüstungskontrollregime Anlass zur Sorge biete. Weitere Gründe zur Beunruhigung lieferten der Umgang mit vertraglich nicht fassbaren Akteuren sowie die Kontrolle und Begrenzung neuer Rüstungstechnologien. Brandenburg schließe sich den Plädoyers seiner Vorredner zur Wiederbelebung der Rüstungskontrolle an, habe jedoch den Eindruck, dass die Rüstungskontrolle künftig immer mehr einer Sisyphus-Arbeit gleiche.
Neu aufkommende Risiken und Bedrohungen von Akteuren, die sich nicht an vertragliche Regelungen halten, bezeichnete Brandenburg als Hauptgefahr für die Rüstungskontrolle. Als Beispiel führte er das iranische Atomprogramm oder die Diskussion über einen Ausstieg aus dem INF-Vertrag in Russland an. Die Rüstungsexportkontrolle und Sanktionsmaßnahmen gegen die Proliferation von Massenvernichtungswaffen würden daher an Bedeutung gewinnen. Die neuen Bedrohungen werfen zugleich die Frage auf, ob bei Vorhandensein irrational handelnder Akteure Vertragsregelungen möglich seien, oder ob der Begriff des strategischen Gleichgewichts überholt sei. Dieses Argument werde in letzter Zeit oft gegen die Rüstungskontrolle in Form von rechtlich verbindlichen Beschränkungen verwendet, jedoch brachte das Treffen in Sotschi eine positive Entwicklung, weil die Präsidenten einig waren, eine rechtsverbindliche Nachfolge des START-1 Vertrags gemäß den quantitativen Vorgaben des Moskauer Vertrags anzustreben.
 
Die Suspendierung des KSE-Vertrags und die Präsentation neuer Forderungen Russlands legten den Schluss nahe, dass Russland bereit sei, auf das gesamte Instrumentarium des Vertrags zu verzichten. Deutschland habe sich, so Brandenburg, lange für die Ratifizierung des angepassten Vertrags von 1999 eingesetzt. Inzwischen werde diese Linie auch von den USA unterstützt. Die NATO habe seine Ratifizierung bei einer parallelen Regelung der ausstehenden Konfliktfragen in Georgien und Moldawien angeboten. Auch die dem Vertrag bis jetzt nicht angehörenden Staaten haben ihre Bereitschaft erklärt, dem modifizierten Vertrag beizutreten. Die nach der Suspendierung des Vertrags entstandene Situation führe nach Brandenburgs Meinung mittelfristig zu einem Vertrauens- und Transparenzverlust, weil Russland sich nicht mehr am Datenaustausch beteilige und keine Inspektionen zulasse, während sich andere Staaten – bis auf weiteres – an die alte Version des Vertrags halten. Dies berge die Gefahr einer dauerhaften Schädigung des KSE-Regimes.
 
Als weiteren Problemaspekt thematisierte Brandenburg die Pläne zum Aufbau eines Raketen­abwehrschildes in Europa. Dieser Konflikt verdeutliche erneut die Bedeutung von Transparenz und Vertrauen zwischen den Akteuren. Russland könne zwar die neu entstehenden Bedrohungen, z.B. durch den Iran, nicht ignorieren, sehe jedoch durch die Raketenabwehr seine strategische Sicherheit bedroht. Hier sei Transparenz geboten, um zu verdeutlichen, dass das Abwehrsystem nicht gegen Russland gerichtet sei. Eine bedenkenswerte Maßnahme wäre nach Ansicht Brandenburgs der Aufbau einer gemeinsamer Raketenabwehr, an der sich die USA, NATO und Russland beteiligten.
Abschließend hob Brandenburg den humanitären Aspekt der Rüstungskontrolle hervor, bei dem die Grenze nicht zwischen den USA und Russland verlaufe. Dieser Bestandteil ziele auf die Vermeidung von Kollateralschäden in militärischen Konflikten. Die meisten Personenschäden entstehen, auch Jahre nach einem Konflikt, durch den Einsatz von Kleinwaffen, wie Minen oder Streumunition. Die Lösung dieses Problems sieht Brandenburg zum einen in der Entwicklung neuer, Kollateralschäden minimierender Waffen; zum anderen in dem Abrüstungsregime der Osloer Initiative zu Streumunition. Er wolle bei Prognosen vorsichtig sein, es sei jedoch gewiss, dass es in der Rüstungskontrolle in den kommenden Jahren nicht an neuen Themen mangeln werde, schloss Brandenburg seinen Vortrag.
 
In der anschließenden Diskussion beklagte Egon Bahr, dass eine substanzielle Verbesserung der rüstungskontrollpolitischen Aussichten erst unter einer neuen amerikanischen Administration zu erwar­ten sei. In der Zwischenzeit sei es für alle Parteien wichtig, darauf hinzuwirken, dass die Chancen für eine solche Verbesserung nicht verspielt werden. Dies sei umso wichtiger, als Konflikte heute schnell entstehen und außer Kontrolle geraten könnten. Noch grundsätzlicher stellt für Sergej A. Markow die Hegemonie der USA das Hauptproblem der internationalen Sicherheit dar. Der Fehler der Irak-Invasion und die Fortsetzung einer solchen fehlgeleiteten US-Politik führten nach seiner Meinung zu einem allgemeinen Rüstungswettlauf, auch im Bereich chemischer und biologischer Waffen. Gefordert sei daher eine politische Koalition, mit der die USA zur Aufgabe ihrer gefährlichen Außenpolitik bewegt werden könnten. Der Machtwechsel in den USA allein werde eine solche Änderung nicht herbeiführen. Diese Koalition solle nicht gegen die führende Rolle der USA gerichtet sein, sondern eine ausgewogene und nachhaltige amerikanische Außenpolitik anstreben.
 
Pawel S. Solotarjow griff das Thema auf und erläuterte den aus seiner Sicht bestehenden An­passungsbedarf der Rüstungskontrolle an die neue Realität einer bei den Atomwaffen eindeutig multipolaren Welt. Die Anzahl „latenter“ Atommächte – Staaten, denen einzig der politische Wille zur Herstellung von Atomwaffen fehle – nehme zu. Dieser Entwicklung könne man vorbeugen, wenn neben der Nichtverbreitung auch solche Aspekte in den Zielkatalog der Rüstungskontrolle aufge­nommen würden wie die Motivation zum Atomwaffenbesitz oder die Verhinderung eines atomaren Einsatzes in lokalen Konflikten. Dazu müssten zumindest die bestehenden Verträge erhalten bleiben. Das Ziel der Motivationssenkung habe einen politischen und einen technischen Aspekt. Ein negatives Beispiel für ersteres stelle die aktuelle Politik der USA gegenüber dem Iran dar, die dort erhebliche politische Anreize für die Entwicklung von Atomwaffen schaffe. Unter technischen Aspekten könne ein umfassendes Raketenabwehrsystem der Verbreitung von Atomwaffen vorbeugen, weil die Zerstörung der Raketen im Angriffsfall den Anreiz nehme, solche Waffen zu entwickeln. Hier sei internationale Kooperation geboten, wie der von Solotarjow zitierte Vorschlag Putins zur Schaffung von Zentren für den Datenaustausch, die einen ersten Schritt zu einer gemeinsamen Raketenabwehr darstellten. Die USA seien zu einer solchen Kooperation jedoch nicht bereit, wie der Aufbau einer eigenen Raketenabwehr in Europa verdeutliche. Den damit verknüpften Austritt aus dem INF-Vertrag betrachtet Solotarjow dagegen als militärisch ungerechtfertigt; der Vertrag müsse vielmehr erweitert werden.
 
Peter W. Schulze fragte in diesem Zusammenhang nach, ob das neue Raketenabwehrsystem im NATO-Russland-Rat diskutiert worden sei und wie die Stimmungslage innerhalb der NATO zu einem gemeinsamen System der Raketenabwehr in Europa unter Einbeziehung Russlands sei. Brandenburg antwortete, dass das Thema der Raketenabwehr im NATO-Russland-Rat mehrfach, sowohl im Plenum als auch auf Expertenebene, diskutiert worden sei, auch unter dem Gesichtspunkt einer möglichen Zusammenarbeit. Für Iwan A. Safrantschuk sind es vor allem militärische operative Gründe, die einen Austritt Russlands aus dem INF-Vertrag herbeiführen könnten. So könnten bei bestimmten Interventionsszenarien in Zentralasien Mittelstreckenraketen mit konventionellen Sprengköpfen ein geeignetes und schnell einsatzbereites Instrument darstellen. Er fragte nach, wie die Vertragspartner auf einen Austritt Russlands aus dem Vertrag reagieren würden, wenn dieser mit einer Verpflichtung zur ausschließlich konventionellen Bestückung verknüpft sei. Nikitin antwortete, dass ein solchen Schritt großen Schaden anrichte und ein wesentlicher Destabilisierungsfaktor sei, weil die Beschaffenheit der Sprengköpfe nicht durch Satelliten kontrolliert werden könne und somit stets für andere Länder ein Unsicherheitsfaktor bliebe.
 
Die Situation um den KSE-Vertrag bezeichnete Safrantschuk als politisch und juristisch verworren. Einerseits wurde die Ratifizierung von den Vertragspartnern so lange hinausgezögert, dass Russlands Unzufriedenheit verständlich sei. Andererseits verdiene auch die russische Position Kritik. Günter Joetze warf ein, dass die Verhand­lungen über eine Modifikation des KSE-Ver­trags in Kenntnis der Stationierung russischer Truppen in Georgien und Moldawien begannen, und ursprünglich dieses Problem im Rahmen des Vertrags gelöst werden sollte, so dass die Verknüpfung der Ratifizierung mit den Istan­buler Verpflichtungen künstlich sei. Dem wider­sprach Andrej W. Sagorskij. Die Verknüpfung resultierte aus der Weigerung Moldawiens, Georgiens und Aserbaidschans, den modifizierten Vertrag ohne Garantien zu unterschreiben, dass eine Stationierung ausländischer Truppen auf ihrem Boden ohne ihr Einverständnis verboten sei. Somit sei die Verknüpfung nicht willkürlich. Russland sei daher zu einem großen Teil dafür verantwortlich, dass die Verhandlungen stagnierten und der Vertrag nicht in Kraft treten konnte. Auch Brandenburg bekräftigte, dass es sich bei Istanbul Commitments um einen vertragsrelevanten Bestandteil handele. Auch widersprach Brandenburg der These von Sergej Markow, dass sich die Sicherheitslage in allen Teilen der Welt verschlechtert habe, indem er verdeutlichte, dass sich die Situation in Europa durch das dichte Netz von Rüstungskontrollverträgen verbessert habe und die vertragsrelevanten Arsenale des alten KSE-Vertrags weit unter der Grenze für die westliche Gruppe liegen. Zugleich wies er auf die Gefahr hin, dass es durch das russische Moratorium zur Erosion des Vertragsregimes und zum Verlust an Kontroll- und Inspektionsmechanismen komme.
 
In seinem Schlusswort bekräftigte Nikitin erneut die Notwendigkeit der Rüstungskontrolle auch unter den heutigen Bedingungen. Ihre Instrumente seien nicht nur zwischen Gegnern und Feinden, sondern auch unter Partnern förderlich. Die Erosion der bestehenden Kontrollen schaffe zudem Präzedenzfälle für lokale Rüstungswettläufe wie zwischen Indien und Pakistan, die vermieden werden sollten. Abrüstungsregime senkten den Anreiz „latenter“ Atommächte zur Entwicklung atomarer Waffen, und nicht zuletzt komme ihr eine wichtige Rolle bei der Verhinderung terroristischer Aktivitäten zu.
 
Müller setzte sich in seinem Schlusswort mit der Frage auseinander, wie sich das Verhalten der Kernwaffenmächte auf die Motivation der Proliferatoren auswirke. Er widersprach Safrantschuks Einschätzung, dass die Proliferatoren ausschließlich regionale Ziele verfolgten, die Abrüstung der Atommächte für deren Verhalten folglich ohne Bedeutung sei und nannte drei mögliche Wir­kungskanäle. Zum einen stellten Nuklearwaffen eine Bedrohung und damit eine Motivation für Auf­rüstung dar, wenn zwischen einem Kernwaffenstaat und einem Proliferator eine feindliche Beziehung besteht, wie etwa zwischen den USA und dem Iran. Zum anderen demonstriere die Weigerung der Kernwaffenstaaten zur Abrüstung die Bedeutung, die sie ihren Kernwaffenarsenalen beimessen, und liefere so den Proliferatoren ein Verhaltensmuster. Schließlich zerstöre ein solches Verhalten die Vertragsgemeinschaft und verhindere ein solidarisches Verhalten der internationalen Gemeinschaft gegenüber Proliferatoren.

Panel 4


Die Schanghaier Vertragsorganisation: Ein Instrument des Multipolarismus?  

Spätestens seit der Durchführung zweier Militärübungen in den Jahren 2005 und 2007 wird die Entwicklung der Schanghaier Vertragsorganisation (SCO) auch im Westen mit größerer Aufmerksamkeit verfolgt und die Frage gestellt, ob sich dort eine Allianz formiert, die der Vorstellung einer multipolaren Weltordnung Gewicht verleihen will. Der Organisation gehören seit ihrer Gründung im Jahre 2001 neben Russland und China alle zentralasiatischen Staaten (außer Turkmenistan) an sowie als Beobachter die Mongolei, Indien, Pakistan und der Iran. Sie ist damit die größte Regionalorganisation der Welt, die zugleich aber auch Länder umfasst, die in vielfacher Hinsicht nicht nur höchst heterogen sind, sondern in einigen Fällen auch auf eine recht konfliktreiche Geschichte zurückblicken. All dies sowie die Berührungen mit der EU-Strategie in Zentralasien oder auch der Organisation des Vertrags für Kollektive Sicherheit (OVKS) ließen es den Veranstaltern der Schlangenbader Gespräche geboten erscheinen, in einer Art Zwischenbilanz der Organisation ein eigenes Panel zu widmen.
 
Jianrong Zhang wies am Beginn seines Vortrags darauf hin, dass man den Sicherheitsrisiken der modernen Welt nur durch Kooperation aller Sicherheitsorganisationen Rechnung tragen könne und nicht die Rolle einer Organisation hervorheben solle. Auch die Schanghaier Vertragsorganisation (SCO) sehe im Aufbau der Kooperation mit anderen Organisationen eine Richtung ihrer künftigen Entwicklung zur Gewährleistung der Sicherheit in der Region, bei der Bekämpfung des internationalen Terrorismus, des religiösen Extremismus und des Drogenhandels. Dies diene, so Zhang, Chinas außenpolitischem Bestreben nach Schaffung „harmonischer Regio­nen“ und von Stabilität in Zentralasien. Als vor­rangiges Sicherheitsziel in Zentralasien nannte Zhang die Stabilisierung der Lage in Afghanis­tan. Hier gebe es zwischen den einzel­nen Orga­nisationen keine Differenzen, so dass eine breite Kooperation angestrebt werden könne, die sich auf die Militärtechnik und Grenzkontrolle er­strecken könne, die Bekämpfung von Drogenhandel, illegalen Einwanderungen und organisierter Kriminalität sowie schließlich auch auf Militärübungen zur Terrorismusbekämpfung.
 
Einen besonderen Akzent legte Zhang auf die Beziehungen zwischen der SCO und der EU. Die EU-Erweiterung erhöhe die geopolitische und die ökonomische Bedeutung Zentralasiens für die EU, wobei die Zentralasienstrategie der EU nur in enger Zusammenarbeit mit der SCO umzusetzen sei. Dabei könne allerdings nicht übersehen werden, dass die wachsende Bedeutung der SCO in Zentralasien in gewisser Konkurrenz zur Zentralasienstrategie der EU trete. Da zwischen beiden Organisationen jedoch keine strategische Konkurrenz, sondern eine stabile Vertrauensgrundlage existiere, gebe es ein großes Kooperationspotenzial. Im Zuge der Umsetzung der Zentralasienstrategie der EU sei es bereits zu einer Annäherung zwischen der EU und der SCO gekommen. Dabei werde die Zusammenarbeit durch folgende Faktoren begünstigt:

(1)   Eine ähnliche Grundorientierung: Beide Organisationen stellten keine Militärblöcke, sondern wirtschaftliche und politische Organisationen dar, die sich auch im organisatorischen Aufbau ähnelten.
(2)   Eine ähnliche Zielsetzung: Beide Organisationen strebten regionale Sicherheit und Wirtschafts­integration als Prioritäten an.
(3)   Eine Komplementarität in der Zusammenarbeit: Es bestünden bereits enge bilaterale Beziehungen zwischen den Mitgliedern der SCO und der EU, wobei Russland und China strategische Partner der EU seien.
 
China habe, so Zhang, nicht nur für die SCO große Bedeutung, auch umgekehrt trage die SCO wesentlich zur Unterstützung der chinesischen Politik bei. Eine Schlüsselrolle komme China bei der Prägung der Grundorientierung zu, die sich u.a. im Begriff des „Schanghaier Geists“ niederschlage, wonach alle Länder zum gegenseitigen Vorteil agieren, den Traditionen ihrer Partner Respekt zollen und nicht versuchen sollten, die eigene Meinung aufzuzwingen. Ähnliches gelte für die neue Konzeption der „harmonischen Regionen“. Bedeutsam war der chinesische Beitrag gleichfalls bei der Institutionalisierung der SCO sowie bei der Umsetzung größerer Projekte, etwa in Form von Finanzinvestitionen oder vergünstigten Krediten für SCO-Mitgliedsländer in Zentralasien.
 
Auf der anderen Seite bilde die SCO eine unentbehrliche strategische Stütze für die friedliche Weiterentwicklung Chinas, indem sie:

(1)   Das gegenseitige Vertrauen in Bezug auf neun Nachbarstaaten im Westen und Norden Chinas fördere und eine Grundlage für die endgültige Klärung der Grenzfragen zu Indien bilde.
(2)   Die enge Kooperation mit den Mitgliedsländern bei der Bekämpfung moderner Sicherheits­gefahren begünstige.
(3)   Durch regionale Kooperation zur Entwicklung der westlichen Provinzen beitrage und einen Zugang zu den zentralasiatischen Öl- und Gasvorräten über Land biete, Energiekooperationen fördere und so die Energiesicherheit Chinas gewährleiste.
(4)   Eine neue Herangehensweise zur friedlichen Weiterentwicklung Chinas im Sinne des Konzepts der friedlichen Koexistenz biete.
Abschließend formulierte Zhang Ziele, die von der SCO angestrebt werden sollten. Darunter nannte er:
(1)   In der Region eine enge Zusammenarbeit mit der Organisation des Vertrags für Kollektive Sicherheit (OVKS) bei der Bekämpfung des Extremismus, Terrorismus und der Kriminalität entwickeln. Auch eine Kooperation mit der Eurasischen Wirtschaftsgemeinschaft (EURASEC) und anderen Organisationen zur Förderung der Wirtschaft sei wünschenswert.
(2)   Überregional einen Dialog mit der OSZE, der EU, NATO, ASEAN und der UNO zur Ent­wicklung der internationalen Zusammenarbeit in der Wirtschaft und in Sicherheitsfragen einlei­ten. Dies gewährleiste ein nachhaltiges und schnelles Wachstum der eurasischen Wirtschaft.
(3)   Langfristig die Zusammenarbeit mit der Organisation des Vertrags über Kollektive Sicherheit und der EU vertiefen und die Rolle der SCO in der Politik der Region stärken.
(4)   Mittelfristig eine Kooperation mit den USA und der NATO zur Terrorismusbekämpfung an­streben, wobei ein geopolitischer Konflikt zwischen den USA und der SCO vermieden werden sollte.

Die SCO habe das Potenzial, künftig eine politische Schlüsselrolle zu erlangen und zu einem wichtigen Partner für andere Staaten in regionalen wie auch internationalen Fragen zu avancieren, schloss Zhang.
 
Nach Darstellung von Iwan A. Safrantschuk verband Russland ursprünglich mit der SCO das Ziel, gemeinsam mit den zentralasiatischen Staaten seine Beziehungen mit China zu regeln. Dabei war in den Jahren 2001 bis 2003 insofern eine Stagnation der russischen SCO-Politik zu verzeichnen, als in Moskau darüber debattiert wurde, ob die USA nicht vielleicht ein geeigneterer Partner in Zentralasien sein könnten als China, das dort, im Unterschied zu den temporären amerikanischen, permanente Interessen – und Präsenz – habe. Abgesehen davon würden die Mitgliedsländer heute sehr unter­schiedliche Erwartungen mit der SCO verbinden. Für Kirgistan und Tadschikistan stelle die SCO ein wichtiges Instrument der Außenpolitik und eine Ressourcenquelle dar. Kasachstan verhalte sich sehr zurückhaltend und suche, über die SCO vor allem die chinesischen Aktivitäten in der Region zu kontrollieren. Usbekistan hingegen betrachte die SCO als Korrektiv in seinen Beziehungen zu Russland, zur OVKS sowie zur EURASEC und sei daher am Ausbau der Kooperation interessiert. Für die Beobachterstaaten Indien und Pakistan biete die Organisation eine attraktive Zugangsmöglichkeit in die Region. Der Iran interessiere sich wegen der Kooperationsmöglichkeiten mit den beiden Groß­mächten für eine Teilnahme. Afghanistan und Turkmenistan, die als Gäste zu den Sitzungen eingeladen werden, sähen die SCO in erster Linie als Instrument ihrer regionalen Politik in Zentralasien. Sowohl China als auch Russland begreifen die SCO dagegen als universelle Organisation, wobei China in erster Linie an der wirtschaftlichen und Russland an der sicherheitspolitischen Zusammenarbeit interessiert seien. Auch wenn China die dominierende Macht in der SCO darstelle, setze die Organisation doch nicht alle Wünsche Chinas um.
 
Zur künftigen Entwicklung der SCO sei es essenziell, so Safrantschuk, ein Gleichgewicht zwischen der Wirtschafts-, Militär- und Sicherheitskomponente zu finden. Auch sei die künftige Rolle der Beobachter zu klären; der Iran und Indien strebten eine Mitgliedschaft an, jedoch seien bislang keine Schritte in diese Richtung unternommen worden. Des weiteren müsse eine Abstimmung zwischen der SCO mit der EURASEC und der OVKS angestrebt werden. Diese Organisationen konzentrierten sich ebenfalls auf den zentralasiatischen Raum, weshalb es zu einer Reihe von Widersprüchen gekommen sei. Zwar wurde 2007 in Bischkek beschlossen, einen Koordinierungsmechanismus zu entwickeln, doch existiere bislang nur ein Memorandum. Falls die gegenwärtige Konkurrenz zwischen den Organi­sationen überwunden werde, erwartet Safrantschuk, dass dies auf Kosten der OVKS geschehen werde.
 
Was das Verhältnis zu den USA betreffe, sei die SCO nicht gegen die USA gerichtet, wolle jedoch ohne die USA handeln und selbstständig Verantwortung für die Region übernehmen. Deshalb auch seien die USA nicht als Beobachter in der Organisation willkommen. Die Beziehungen zu ASEAN und zur EU entwickeln sich allmählich, obwohl hierzu noch wenige Dokumente vorliegen. Zusammenfassend sieht er die SCO durchaus als ein Instrument des Multipolarismus an, wenngleich sie lediglich eine koordinierende Funktion wahrnehme. Jedoch stelle sie keinen Machtpol dar, weil zu außenpolitischen Fragen zwar Konsens angestrebt, dieser jedoch nicht aktiv international durchgesetzt werde.
 
Hans-Dieter Lucas leitete seinen Beitrag mit einer Bilanz der SCO ein. Danach stünden auf der Habenseite gemeinsame Ziele der Mitglied­staaten und eine beginnende Institutionali­sierung. Auch habe die SCO eine bessere Per­formance aufzuweisen als etwa die OVKS. In­sofern könne sie prinzipiell als Instrument des Multipolarismus begriffen werden. Im An­schluss an Safrantschuk bekräftigte jedoch auch er die fortbestehenden Defizite und ver­wies dabei insbesondere auf die unterschiedlichen Interessen ihrer Mitglieder, weshalb die SCO nicht als Pol bezeichnet werden könne. Während Russland an sicherheitspolitischer Kooperation und daran interessiert sei, seine Rolle in Zentralasien zu festigen, bei gleichzeitiger Begrenzung des US-Einflusses, stünden für China Wirtschaftsinteressen und die Energiesicherheit im Vordergrund. Die zentral­asiatischen Staaten suchten ebenfalls nach wirtschaft­lichen Entwicklungsmöglichkeiten, und zudem sei ihre Mitgliedschaft Ausdruck ihrer Lage zwischen Russland und China. Nach Meinung von Lucas werde der Kurs der SCO im Wesentlichen durch die Beziehungen zwischen Russland und China bestimmt. Er machte deutlich, dass die Interes­senunterschiede die Finanzierungsmöglichkeiten be­schränkten, so dass Ausgaben tendenziell auf bilate­raler Basis getätigt werden. Die Schaffung einer Freihandelszone sei bis jetzt nur theoretischer Natur, und im Bereich der Energie scheitere eine Eini­gung an den konkurrierenden Interessen. Auch im mili­tärischen Bereich sei die SCO weit davon ent­fernt, zu einer „Ost-NATO“ zu werden.
 
Auch wenn, so Lucas, die SCO keinen Pol darstelle und sich – entgegen Zhangs Meinung – fundamental von der EU unterscheide, stelle sie doch eine ernst zu nehmende Regional­organisation mit Entwicklungspoten­zialen dar. Sie sei daher bei allen Widersprüchen für die EU-Außenpolitik relevant. Da für einen Beob­achterstatus der EU die Voraussetzungen fehl­ten, käme für die EU eine punktuelle prag­ma­tische Zusammenarbeit in Frage. So gäbe es deutliche Übereinstimmung in den Feldern Drogen- und Kriminalitätsbe­kämpfung, Nichtverbreitung und Afghanistan. Lucas wies jedoch darauf hin, dass die Kooperation mit der SCO nur ein Element der EU-Zentralasienstrategie darstelle; Schwerpunkt bleibe die Festigung der bilateralen Beziehungen.
 
In der folgenden Diskussion bekräftigte auch Wjatscheslaw A. Nikonow, dass die Mission der SCO als eurasischer Regionalorganisation zwar klar sei, und sie als Forum für den strategischen russisch-chinesischen Dialog gesehen werden könne, ihre Effizienz leide jedoch unter den Differenzen ihrer Mitglieder, etwa den Konflikten zwischen Kasachstan und Usbekistan. Die SCO stelle daher weder einen Energieklub noch eine Mili­tärallianz dar, weil kein Mitglied zu gegen­seitigen Verpflichtungen bereit sei. Im Übrigen merkte Nikonow an, dass Zentralasien als Energiequelle für die EU uninteressant sei, weil die gesamte Fördermenge bereits durch langfris­tige Verträge an China und Russland gebunden sei. Lucas widersprach dieser These und verwies auf weitere Öl- und Gasvorräte in Turkmenistan und Kasachstan, die für die EU offen seien. Allerdings sei Russland ohne Frage Hauptpartner der EU in Sachen Energie, Zentralasien könne dies nur ergänzen. Safrantschuk bestätigte, dass Energielieferprojekte an die EU denkbar seien, etwa aus Turkmenistan, wenn die Vorräte des Westschelfs die Durchleitungskapazität der Kaspischen Pipeline übersteigen. Nikonow fügte hinzu, dass tiefere Integrationsprozesse zwischen den SCO-Mitgliedstaaten an der feh­lenden Bereitschaft Russlands scheitern werden. Auch zu einer ökonomischen Integration sei Russland weniger bereit als China, nicht zuletzt weil ein gemeinsamer Arbeitsmarkt große Bedenken auslöse. Nikonow nannte Turkmenistan als mögliches neues Mitglied der SCO, eine weitere Ausdehnung auf die Mongolei, Pakistan oder Indien halte er jedoch für problematisch. Eine Aufnahme der USA in die Organisation sei dagegen völlig ausgeschlossen, weil innerhalb der SCO Entscheidungen ausdrücklich ohne amerikanische Beteiligung angestrebt werden.
 
Heinz Timmermann bezeichnete den wachsenden Einfluss Russlands in Zentralasien bei gleich­zeitigem Einflussverlust in der westlichen GUS als Paradox. Darüber hinaus fragte er wie auch Wladislaw L. Inosemzew nach, ob bereits qualitativ sichtbare Schritte unternommen worden seien, um die von Zhang angesprochene Annäherung an die Strukturen der EU zu erreichen. Zhang antwortete, dass die Schaffung übernationaler Organe derzeit nicht angestrebt werde und daher auch keine offiziellen Dokumente hierzu vorliegen. Jedoch betonte er, dass die EU sich anders als ASEAN für die SCO als Vorbild eigne.
 
Abweichend von Safrantschuk bewertete Aleksandr I. Nikitin das jeweilige Potenzial der SCO und der OVKS. Nach seiner Auffassung sei die OVKS von der Intensität der fachlichen Zusam­menarbeit, der Funktionalität und der Organisationsstruktur der SCO überlegen. Die OVKS habe sowohl beim Militär als auch auf dem Gebiet der „weichen“ Sicherheit (Drogenbekämpfung) größere Fortschritte erzielt und operative Bedeutung erlangt. Dagegen bewertete er die SCO als ein politisches Forum, das „für die Zukunft auf Lager gehalten“ werde. Wladimir A. Ryschkow zog eine positive Bilanz des achtjährigen Bestehens der SCO. Die Situation in Zentralasien habe sich stabilisiert, die Demilitarisierung der Region schreite voran und das gegenseitige Vertrauen steige. Für die Zukunft zeigte er sich insoweit optimistisch, als zwar wegen der Konkurrenz um die Energieressourcen Konflikte entstehen könnten, Grundsatzkonflikte jedoch nicht zu erkennen seien. Für Russland sei es ein entscheidender Vorteil, über die SCO die chinesische Politik in Zentralasien kontrollieren zu kön­nen. Auch bei den natürlichen Ressourcen, wie z.B. dem Wassermanagement, stellten sich gemeinsam zu lösende Aufgaben.
 
Mathias Brüggmann äußerte die Meinung, dass die SCO lediglich aus dem Bestreben, einen Gegenpol zu den westlichen Organisationen und den USA zu schaffen, gegründet worden sei. Dieser Einschätzung widersprach Lucas, der auf die regionale Zusammenarbeit und die russisch-chinesischen Beziehungen als Kernstück der Organisation hinwies. Für Russland sei die SCO vor allem ein Instru­ment zur Wahrnehmung seiner Interessen in Zentralasien, jedoch keine Alternative zu den Beziehungen mit dem Westen. Und auf die Frage Brüggmanns nach einem möglichen SCO-Beitritt des Iran trotz des Atomprogramms antwortete Lucas, dass auch die SCO Interesse an der Verhinderung des Atomprogramms habe und eine Aufnahme unter gegebenen Umständen nicht hilfreich sei. Hans-Joachim Spanger machte darauf aufmerksam, dass die EU Russland zwar eine Umgehung Brüssels und eine Konzentration auf bilaterale Beziehungen zu den EU-Mitgliedsländern vorwerfe, jedoch in Zentralasien selbst auf bilaterale Beziehungen setze. Lucas hielt dem den doppelten Ansatz der EU-Zentralasienstrategie entgegen. Einerseits werde auf Grund der Heterogenität der Region den bilateralen Beziehungen Priorität eingeräumt, andererseits strebe man eine regionale Zusammenarbeit zu Themen an, die sich nur in der gesamten Region regeln ließen.
 
Die Rolle der SCO in Afghanistan wurde von mehreren Teilnehmern, so von Heinz Timmermann, Ulrich Brandenburg und Egbert Jahn, angesprochen. Die zögernde Reaktion des Westens auf russische Hilfsangebote sei nach Meinung von Lucas durch die historische Rolle Russlands in Afghanistan bedingt. Das Akzeptanzproblem verliere jedoch an Bedeutung, und Russland nehme nun etwa an Drogenbekämpfungspro­grammen teil. Safrantschuk wies auf die Widersprüche zwischen den SCO-Mitgliedern in dieser Frage hin. Kasachstan interessiere sich sehr für Aufbauprogramme und sei bereits in Afghanistan involviert. Usbekistan begegne dem NATO-Einsatz in Afghanistan ebenfalls wohlwollend. Russlands Position sei dagegen von einem Dilemma geprägt: Einerseits sei Moskau nicht an einer NATO-Niederlage in Afghanistan interessiert, andererseits glaube es nicht, dass der NATO die Wiederherstellung der Ordnung in Afghanistan gelingen werde.
 
Zum Abschluss schnitt Wolfram Schrettl mit Verweis auf das Nichteinmischungsgebot der SCO das Thema Tibet an und fragte nach der russischen Sicht auf die Situation dort. Nikonow antwortete, dass die chinesische Politik in Tibet insoweit auf Vorbehalte in Russland stoße, als der Buddhismus eine der Hauptreligionen im Lande sei und die Verletzung der Rechte der Buddhisten daher auf Beun­ruhigung treffe. Russland plädiere jedoch, so Nikonow, für die territoriale Integrität Chinas, da Separa­tismus eine ernste Gefahr für die Stabilität der Region darstelle.

 

Protokoll: Daria Orlowa