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Kurzbericht 2008


Vom 24. bis 26. April 2008 fanden die 11. Schlangenbader Gespräche statt, ein jährlicher deutsch-russischer Gesprächskreis zu außen- und sicherheitspolitischen Fragen. In diesem Jahr stand er unter dem Leitthema "Multipolarismus, Systemfrage und eine neue Epoche der Konfrontation?" Damit sollten nicht nur die angespannten und von manchen als neuer Kalter Krieg gekennzeichneten Beziehungen zwischen Russland und dem Westen aufgegriffen werden. Es ging vielmehr auch um die internationalen Machtverschiebungen, die mit dem Aufstieg von Ländern wie China und Russland verknïpft werden, sowie deren ordnungs- und sicherheitspolitischen Konsequenzen. Nähere Angaben zum Programm und zu den Teilnehmern der Schlangenbader Gespräche finden Sie unter dem Stichwort Presse & Veranstaltungen auf www.hsfk.de.

Der Einstieg in die Tagung widmete sich aus Grïnden der Aktualität den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen in Russland und deren Bedeutung fïr die kïnftigen deutsch-russischen Beziehungen. Von beiden Seiten wurde ïbereinstimmend betont, dass die deutsch-russischen Beziehungen positiv zu bewerten seien, was fïr die Wirtschaftsbeziehungen schon immer, fïr die politischen aus russischer Sicht spätestens seit dem Bukarester NATO-Gipfel gelte. Dort hatte Deutschland wesentlich daran mitgewirkt, die Aufnahme Georgiens und der Ukraine in den "Membership Action Plan" der NATO zu verhindern. Dass dies keineswegs nur geostrategische Interessen Russlands berïhre, sondern auch seine Identität und daher eine "Existenzfrage" sei, machten mehrere russische Teilnehmer in durchaus drastischen Wendungen deutlich. Hier eröffne sich eine Chance zur deutsch-russischen Partnerschaft bei der Schaffung einer europäischen Sicher-heitsarchitektur, die Russland ein- und nicht ausschließe.

Dem wurde von deutscher Seite zwar entgegengehalten, dass eine Erweiterung der NATO dem nicht prinzipiell widerspreche, doch wurden auch hier ausgeprägte Entspannungs- und Ko-operationserwartungen artikuliert. Diese richteten sich jedoch vor allem an Russland und sind mit dem neuen Präsidenten Medwedew verknïpft. Sie mïndeten in die Botschaft, dass den vielen sehr kritischen Worten Medwedews wie auch Putins an den Zuständen in Russland endlich Taten folgen sollten, bei der Modernisierung und Diversifizierung der Wirtschaft, vor allem aber bei der Stärkung des Rechtsstaats und der demokratischen Institutionen. Daran habe Deutschland als Modernisierungspartner Russlands ein ausgeprägtes Interesse. Dass in Russland nunmehr eine "liberalere" Phase folgen werde - nicht weil Medwedew liberaler als Putin sei, sondern weil die anstehenden Aufgaben liberale Antworten verlangten - räumten auch die russischen Teilnehmer aus dem offiziellen Spektrum ein - verwahrten sich zugleich aber dagegen, in dieser Frage vom Westen belehrt zu werden. Auch bekräftigten sie, dass sich Partnerschaft nicht darin erschöpfen könne, dass Russland eine Kopie Deutschlands werde.

Der Einstieg in das Leitthema erfolgte ïber die "BRIC" - eine Abkïrzung aus dem Investment-Banking, unter der die dynamisch wachsenden Schwellenländer Brasilien, Russland, Indien und China zusammengefasst werden. Zwar gelten die BRIC nicht zuletzt auch Putin immer wieder als Beleg fïr die Herausbildung einer multipolaren Weltordnung, und in der Diskussion wurde be-kräftigend darauf verwiesen, dass es erste Ansätze eines Dialogs innerhalb dieser Gruppe gebe. Die beiden Referenten aus Berlin und Moskau legten jedoch ïbereinstimmend und ïberzeugend dar, dass die Unterschiede im Potenzial, den Interessen und den Wachstumsaussichten der vier Länder so gravierend seien, dass sie allenfalls als Ausdruck einer entstehenden "nichtpolaren" Welt wahr-genommen werden können. Die liberale Weltwirtschaftsordnung werde von ihnen jedenfalls nicht herausgefordert. Russlands Perspektiven wurden in diesem Zusammenhang ïberwiegend skeptisch beurteilt: Es sei zwar ein eigenes Machtzentrum, verfïge jedoch im Unterschied etwa zu Brasilien noch nicht einmal ïber eine regionale Fïhrungsrolle, und die wirtschaftliche Modernisierung stagniere, da es nicht von der "Energienadel" wegkomme und folglich im Unterschied zu den anderen drei nicht auf den westlichen Märkten präsent sei. Russland weise daher mehr ähnlich-keiten mit den Vereinigten Arabischen Emiraten auf.

ïberwiegend skeptisch wurde die Zukunft der Rïstungskontrolle beurteilt. Sie bekleidet zwar auf der internationalen politischen Agenda wieder einen prominenten Platz, werde jedoch insbesondere von den USA, so das weithin ïbereinstimmende Urteil, noch immer als ungebïhrliche Beschränkung ihrer Handlungsfreiheit begriffen und daher nur sehr zurïckhaltend betrieben. Dies spiele nunmehr auch jenen Kräften in Russland in die Hände, die ihrerseits kein Interesse an einer Beschränkung der Rïstungsproduktion haben. Ein Beispiel aus der Diskussion ist hier der noch geltende bilaterale INF-Vertrag, dessen von Russland angestrebte Universalisierung (durch Ein-beziehung seiner sïdlichen Nachbarn) kaum gelingen werde. Beim KSE-Vertrag, den Russland bereits "suspendiert" hat, sieht es angesichts der russischen Vertragsforderungen ähnlich aus. In diesem Zusammenhang wurde darauf hingewiesen, dass die NATO ihrerseits das Inspektionsregime des Vertrags nicht unbefristet aufrecht erhalten werde, ungeachtet der - unterschiedlich bewerteten - "Istanbul-Verpflichtungen". Mit Blick auf die anstehenden Nachfolgeverhandlungen zu START I gab es breite ïbereinstimmung auf beiden Seiten ïber die Notwendigkeit eines erneuerten Veri-fikationsregimes, was in der Diskussion auch als unverzichtbarer Beitrag begriffen wurde, um bei der geplanten Stationierung der Raketenabwehr in Osteuropa zumindest Transparenz zu schaffen und Vertrauensbildung zu ermöglichen.

Die Schanghaier Vertragsorganisation, deren Militärmanöver auf westlicher Seite im vergangenen Jahr einiges Erstaunen und die Befïrchtung geweckt hatten, dass damit ein neues Militärbïndnis aufstrebender Mächte entstehen könnte, wurde in den Präsentationen und der Diskussion sehr nïchtern betrachtet. Mitglieder sind neben Russland und China vier zentralasiatische Staaten (außer Turkmenistan), Beobachter sind Indien, Iran, Mongolei und Pakistan. Die Organisation sei, so die ïbereinstimmende Darstellung aus China und Russland, kein Instrument "gegen", sondern "ohne" die USA, das heißt, sie lehne eine Mitwirkung der USA dezidiert ab und verwehre ihr daher auch den angestrebten Beobachterstatus. Anders verhalte es sich mit der Europäischen Union, die be-sonders von chinesischer Seite zur Mitwirkung eingeladen wurde, was das primär ökonomische Inte-resse Chinas an der Organisation unterstreicht. Das russische Interesse ist im Unterschied dazu vor allem sicherheitspolitisch begrïndet, eine Kontrolle Chinas in der Region eingeschlossen, während etwa Kasachstan und Usbekistan untereinander gravierende Differenzen haben. Allein deshalb sei eine handlungsfähige Allianz nicht zu erwarten, wohl aber eine ernstzunehmende Regionalorganisation, die etwa im Rahmen der EU-Zentralasienstrategie ein wertvoller Ko-operationspartner bei der Drogen-, Kriminalitäts- und Terrorismusbekämpfung sowie mit Blick auf Afghanistan sein könne, was von gemeinsamem Interesse sei.