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Kurzbericht 2012

Vom 26. bis 28. April 2012 fand das 15. Schlangenbader Gespräch statt, ein deutsch-russischer Ge-sprächskreis zu außen- und sicherheitspolitischen Fragen, der jedes Frühjahr etwa sechzig Fachleute aus beiden Ländern zusammenführt. In diesem Jahr stand er unter dem Leitthema "Wie weiter? Die Europäische Union und Russland zwischen Stabilität und Fortschritt".

Der Titel signalisiert, dass wir es aktuell nicht mit einer der vielen Krisen in den Beziehungen mit Russ-land zu tun haben, wohl aber mit Krisen auf beiden Seiten, die bei allen Unterschieden übereinstimmend exemplarischen Charakter und potenziell weitreichende Konsequenzen auch für die beiderseitigen Be-ziehungen haben. In der Europäischen Union ist dies die Euro-Krise, die schonungslos die Konstruktionsprobleme des ambitionierten Integrationsmodells einer Währungsunion offengelegt hat. In Russland ist es die Krise eines politischen Steuerungsmodells, dass, basierend auf Putins Sozialkontrakt zwischen dem russischen Volk und der russischen Führung - Wohlstand und wirtschaftlicher Fortschritt im Tausch gegen Freiheit und politische Mitwirkungsrechte -, mit den jüngsten Wahlen scheinbar an seine Grenzen gestoßen ist.

In beiden Fällen ist offen, wie es weitergeht. Damit ist aber auch offen, welche Auswirkungen auf die beiderseitigen Beziehungen von den Krisen ausgehen. Dies zu ergründen war das Ziel der diesjährigen Schlangenbader Gespräche. Zwei Zitate bringen die grundlegende Differenz in der Bewertung des Euro prägnant auf den Punkt: Während die Bundeskanzlerin nach einigem Zögern ihre Rettungspolitik mit der Feststellung legitimierte "Scheitert der Euro, scheitert Europa", vertreten ihre Kritiker die entgegengesetzte Meinung, dass Europa am Euro scheitert. Und während die deutsche Politik die Lösung in einer weiteren Europäisierung, in diesem Fall der Schaffung einer Fiskalunion, sieht, wollen die Kritiker den um-gekehrten Weg einschlagen, zur erneuerten nationalen Verantwortung in einer Wechselkursgemeinschaft. Diese Auseinandersetzung beschäftigt die deutsche und (west-)europäische Politik seit mehr als einem Jahr; in Schlangenbad war es wichtig, die russischen Eindrücke zu diskutieren. Dabei wurde deutlich, dass von russischer Seite keinerlei Interesse an einem Auseinanderbrechen der Eurozone besteht, dieses - mit Ausnahme vielleicht von Griechenland - auch nicht erwartet wird. Beklagt wurde allerdings die Entscheidungsschwäche bei der Krisenbewältigung, nicht allein in Brüssel, sondern auch in Washington. Es klang an, dass Deutschland im Zuge des Krisenmanagements sein extravagantes Exportmodell korrigieren müsse, wenngleich in deren Mittelpunkt weitreichende Strukturreformen und eine Be-grenzung des Sozialstaats in den Defizitländern stünden. Deutlich wurde schließlich, dass die Krise in Russland die Frage zuspitze, ob das europäische Modell auch künftig als Vorbild für die Integration im post-sowjetischen Raum fungieren könne.

Bei der Frage, wie die russischen Wahlergebnisse, die Moskauer Massenproteste der letzten Monate und die Rückkehr Vladimir Putins in den Kreml, innen- und außenpolitisch zu bewerten seien, gingen die Meinungen in nahezu jeder Hinsicht weit auseinander. Das begann bereits bei der Analyse der Protest-bewegung, die allenthalben der "neuen" russischen Mittelschicht zugeschrieben wurde - ein, wie sich herausstellte, nur schwer zu fassendes Phänomen. Hier reichten die diskutierten Daten von konservativen 10% bis optimistischen 65% in der Selbstzuschreibung der russischen Bevölkerung. Aber auch die künftige Orientierung der politischen Elite, eng mit der bürokratischen Elite verzahnt, blieb letztlich unbestimmt - im Bewusstsein der Notwendigkeit von Reformen und der Illusion des Stabilitätskults. Konsens bahnte sich dagegen in der Feststellung an, dass Putin lernen müsse, die Mittelschicht als einen Partner und nicht als ein Herrschaftsobjekt zu betrachten.

In der Außenpolitik trafen die schon vertrauten wechselseitigen Vorbehalte und Vorwürfe aufeinander, die mit der Rückkehr Putins voraussichtlich deutlicher akzentuiert werden. So könne kein Zweifel be-stehen, dass Putin unbequem sei, da er eine eigene Meinung vertrete und sich keinem Druck unterwerfe. Das allerdings habe ihm eine dauerhafte Unterstützung in Russland gesichert. Andererseits lasse auch Putin keinen Zweifel daran, dass Russland sich als Teil Europas verstehe - aber eines gemeinsamen Europas und damit nicht am Rand, sondern im Zentrum. Die Visafrage mache dies ebenfalls deutlich.

In diesem Zusammenhang wurde auf drei "Traumata" verwiesen - Kosovo, Irak, und Libyen -, als der Westen unter Umgehung des Völkerrechts und ohne Rücksicht auf russische Interessen unilateral ge-handelt habe. Vor diesem Hintergrund betrachte Russland Syrien als einen neuerlichen Testfall. Die Trauma-Metapher stieß bei den deutschen Teilnehmern als "Konfrontationsstereotyp" weithin auf Un-verständnis, russische geostrategische Interessen und Sorgen hingegen - etwa mit Blick auf die Eurasische Union - weniger. Allerdings sollte diese nicht der Abwehr gegen Modernisierung und Demokratisierung bei einzelnen Mitgliedern wie Belarus dienen. Und die Eurasische Union solle guter Nachbarschaft dienen und nicht als Alternative zur Westorientierung fungieren.

Ein aktuell breit diskutiertes Thema ist die internationale Machtverschiebung, in der nicht nur Russland, sondern auch die Türkei einen prominenten Platz bekleidet. Das türkische Wirtschaftswunder, die wachsende Bedeutung des Landes als Energie-Hub und seine strategische Rolle in einer der brisantesten Regionen der Welt machen die Türkei nicht nur für die NATO und in ihrer Folge auch für die EU, sondern nicht minder auch für Russland zu einem eminent wichtigen Partner. Dass in der Türkei zudem von einer "Putinisierung" des Landes die Rede ist, bei der sich wirtschaftliches Wachstum, Islamisierung und politische Repression (so befinden sich in der Türkei mehr Journalisten im Gefängnis als in China) paaren, schafft eine weitere, potenziell aktivierbare Verbindung.

Allerdings befindet sich die Türkei in einer ambivalenten Lage. Auf der einen Seite kann ihr Versuch, eine Außenpolitik der "Null Probleme" mit ihren Nachbarn zu betreiben, als gescheitert betrachtet werden. Gegenüber Ländern wie Armenien, Iran, Irak, Syrien, Zypern war sie von vornherein illusionär, und bekräftigte die Notwendigkeit nicht nur hoher Flexibilität, sondern auch stabiler Rückversicherung, was auf bewährte Bündnisse verweist. Auf der anderen Seite finden sich in der Türkei parallel zum Bedeutungsgewinn zunehmend Anklänge einer "Osmanischen Renaissance", einer Wiedererrichtung eines Imperiums, was sie als Gestaltungmacht und als moralische Macht in der Region des Nahen Ostens vorstellt. Davon ist Russland wie die EU betroffen. So wurde eher scherzhaft die Überlegung lanciert, dass die Türkei auch der Eurasischen Union beitreten könnte, sollte sie eine Einladung von Russland erhalten. Sehr viel ernsthafter erfolgte dagegen die Feststellung, dass der angestrebte Beitritt zur Europäischen Union letztlich von der Türkei entschieden werde und sie sich nicht länger in der Rolle des Bittstellers sehe.