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Protokoll 2007

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Im Jahre 2007 fanden die Schlangenbader Gespräche zum zehnten Mal statt – ein zwar bescheidenes, angesichts der auch in den letzten Jahren recht wechselvollen Beziehungen zwischen Russland und dem Westen gleichwohl bemerkenswertes Jubiläum. Aus Anlass der NATO-Russland-Grundlagenakte 1998 als kleiner Workshop ins Leben gerufen, haben sich die Gespräche seither zu einem repräsentativen Forum des Austauschs über alle Aspekte entwickelt, die in den außen- und sicherheitspolitischen Beziehungen zwischen Deutschland und Russland von Bedeutung sind.

Dies dokumentiert nicht nur das von Jahr zu Jahr wachsende Interesse an einer Teilnahme – insgesamt gab es in den vergangenen zehn Jahren über 200 Teilnehmer. Es dokumentiert auch das beständig wiederkehrende Interesse, denn von diesen 200 Teilnehmern haben 50 der Hälfte aller Gespräche beigewohnt. Und mit Klaus-Dieter Bergner, Günter Joetze und Peter W. Schulze haben sich drei Teilnehmer zusammen mit einem der beiden Dolmetscher, Sergej L. Winogradow, sogar an allen zehn Gesprächen beteiligt. Neun mal waren gemeinsam mit dem zweiten Dolmetscher, Ruslan Kokarew, Wilhelm Hankel, Andrej W. Sagorskij, Dietrich Sperling, Gert Weisskirchen und Klaus Wittmann dabei.
 
Nicht zuletzt dieser Kontinuität verdanken die Schlangenbader Gespräche das offene, nachdenkliche und selbstkritische Diskussionsklima, das sie heute auszeichnet. Ein solches Klima kann nur entstehen, wenn auf unmittelbare öffentliche Wirkung verzichtet wird. Darum auch wurde trotz des zehnjährigen Jubiläums ein ganz normales Gespräch durchgeführt. Da andererseits nicht auf die Öffentlichkeit verzichtet werden kann und soll, fand aus Anlass des Jubiläums eine öffentliche Podiumsdiskussion statt, die in Kooperation mit dem Hessischen Rundfunk durchgeführt und von diesem in einer Zusammenfassung am 1. Mai gesendet wurde. Die Stv. Hessische Ministerpräsidentin, Staatsministerin Karin Wolff, eröffnete im Namen der Hessischen Landesregierung diese Sonderveranstaltung und verband dies mit einer Würdigung der Schlangenbader Gespräche, worüber wir uns ganz besonders freuten.



Panel 1
Annäherung durch Verflechtung:
Brauchen wir eine neue Entspannungspolitik?

 
Zur Einführung in das erste Panel, das von Hans-Joachim Spanger moderiert wurde, verwies dieser auf den eigentümlichen Widerspruch, dass sowohl auf russischer als auch auf westlicher Seite in den vergangenen zehn Jahren grundlegende Veränderungen zu verzeichnen sind, die wechselseitige Wahrnehmung jedoch auffallend konstant und heute wieder dort angekommen zu sein scheint, wo wir 1998 beim Beginn der Schlangenbader Gespräche gestartet waren. Diese fungierten dabei als Seismograph der Ereignisgeschichte, konnten jedoch nicht – im Sinne der longue durée Fernand Braudels – die strukturellen Merkmale der Beziehungen erfassen. Der Widerspruch jedoch, dass über mehr als zehn Jahre eine „strategische Partnerschaft“ beschworen und heute über die Notwendigkeit einer neuen „Entspannungspolitik“ diskutiert wird, erfordert einen tiefer- und weiterreichenden Blick auf die strukturellen Merkmale der deutsch-russischen Beziehungen.
 
Unter Bezug auf den Titel des ersten Panels bekannte sich Andreas Schockenhoff in seiner Einführung ausdrücklich zum Konzept einer Annäherung durch Verflechtung. Dies wollte er jedoch nicht als neue Entspannungspolitik begreifen, die schon deshalb nicht erforderlich sei, da es keinen neuen Kalten Krieg gebe. Vielmehr seien gute Grundlagen geschaffen worden, um über eine weitere Verflechtung, etwa im Rahmen der EU-Russland-Beziehungen, zu einer an Werten orientierten strategischen Partnerschaft zu kommen. Russland sei, so Schockenhoff, trotz demokratischer Rückschläge ein „potenzieller Wertepartner“ der EU. Darüber hinaus liege eine Verflechtung zwischen der EU und Russland im beiderseitigen Interesse. Russland brauche den Westen, um sein Potenzial als weltpolitischer Spieler ausschöpfen und seinen internationalen Einfluss jenseits des Vetorechts im Weltsicherheitsrat, des Energiereichtums und der Militärmacht gestaltend ausüben zu können. Für die EU wiederum sei Russland aufgrund seiner Lage und Größe, seines politischen und militärischen Gewichts, seines Energiereichtums und wirtschaftlichen Potenzials ein unverzichtbarer strategischer Partner. Die Konflikte im Nahen Osten, mit dem Iran und im Kosovo seien ohne eine Beteiligung Russlands nicht zu lösen. Dies erfordere, die bestehende Partnerschaft zwischen der EU und Russland unter Einschluss Nordamerikas so weiterzuentwickeln, dass daraus eine tatsächliche Wertegemeinschaft erwachse.
 
Leider gebe es eine Reihe von Faktoren, die aktuell eine solche Partnerschaft erschweren. Schockenhoff nannte im Einzelnen die einseitig auf Öl und Gas gestützte wirtschaftliche Entwicklung Russlands bei stagnierender Wettbewerbsfähigkeit, die demographischen Probleme sowie die Rückschläge bei der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit und die Korruption. Insbesondere das jüngste Vorgehen der Regierung gegen die friedlichen Demonstranten des „Anderen Russland“ habe dem Image Russlands erheblich geschadet. Auch seien die Unregelmäßigkeiten bei den Regionalwahlen im März des Jahres und die Kontrolle der Presse besorgniserregend. Wenn Russland zu einer Weltmacht werden wolle, brauche es eine umfassende Modernisierung, die nach Ansicht Schockenhoffs nicht ohne Rechtsstaatlichkeit und Demokratie, ohne eine starke und unabhängige Zivilgesellschaft erreicht werden könne. Trotz fehlender demokratischer Traditionen könnten Kontakte zum Westen, z.B. in Gestalt des Jugendaustauschs, im Zuge des Generationenwechsels demokratische Denkweisen fördern und somit zum Aufbau einer Zivilgesellschaft beitragen.
 
Abschließend bekräftigte Schockenhoff, dass dies durch eine nur punktuelle Kooperation nicht zu erreichen sei und die Partnerschaft mit Russland nicht auf eine bloße Interessengemeinschaft reduziert werden dürfe. Vielmehr solle über Einbindung eine Wertegemeinschaft auf der Basis einer gemeinsamen Identität geschaffen werden.
 
Wjatscheslaw Nikonow bat vor Beginn seiner Ausführungen um eine Gedenkminute zu Ehren des verstorbenen ersten russischen Präsidenten Boris Jelzin. Auf die Nachricht vom Tod des russischen Cellisten Mstislaw Rostropowitsch begingen die Teilnehmer zu seinem Gedenken vor Eintritt in die Diskussion des Panels ebenfalls eine Schweigeminute.
 
Einleitend wies Nikonow darauf hin, dass das Thermometer der Beziehungen Russlands mit dem Westen nie eine normale Temperatur angezeigt habe, trotz der immer engeren Zusammenarbeit. Aktuell befänden sich die Beziehungen ohne Zweifel an einem Tiefpunkt, wobei die internationale Position Russlands im auffallenden Gegensatz zu seiner wirtschaftlichen Entwicklung und zum wachsenden Wohlstand der Bevölkerung stehe. Zweifellos sei eine Verbesserung der Beziehungen zum Westen notwendig, jedoch bekräftigte Nikonow wie auch Schockenhoff, dass es keinen Kalten Krieg gebe und daher auch keiner Entspannungspolitik bedarf.
 
Nikonow nannte zehn Gründe für die aktuelle Verschlechterung der Beziehungen Russlands mit dem Westen:
(1)       Zu hohe gegenseitige Erwartungen zu Beginn der 1990er Jahre, die nicht erfüllt worden seien. Der Westen erwartete eine schnelle demokratische Anpassung und Russland Hilfe beim Transformationsprozess und bei seiner Integration in den „Weltklub“.
(2)       Die prinzipielle Verweigerung einer Aufnahme Russlands in die NATO und die EU.
(3)       Unterschiedliche Wahrnehmungen und Auslegungen der Geschichte und der aktuellen Situation. Das betrifft zum einen die These, Russland habe den Kalten Krieg verloren. Zum anderen betrifft es die aktuelle Entwicklung Russlands, die im Westen vorwiegend als Abkehr vom richtigen Weg, in Russland dagegen als Einleitung eines richtigen Weges empfunden werde.
(4)       Ein unterschiedliches Demokratieverständnis. Auch wenn die westliche Kritik nicht völlig unbegründet und die russische Demokratie nicht ideal seien, so bedarf es doch keiner westlichen Rezepte, zumal die gegenwärtige Politik in der russischen Bevölkerung auf hohe Zustimmung trifft.
(5)       Der „Komintern-Stil“ der US-Politik und Russlands übertriebene Abwehrreaktionen. Offizielle Regierungsbeziehungen werden mit Propaganda gegen das herrschende Regime kombiniert und durch Unterstützung der Opposition werden Versuche unternommen, dieses Regime zu stürzen.
(6)       Die sinkende Bedeutung der pro-westlichen Kräfte in Russland nach der NATO-Erweiterung sowie den Kriegen gegen Jugoslawien und Irak, bei steigender antirussischer Stimmung in Europa und den USA.
(7)       Die geopolitische Rivalität und daraus resultierende unterschiedliche Sichtweisen auf außenpolitische Erfolge im postsowjetischen Raum. Während Russland eine möglichst starke Integration anstrebt, gilt für den Westen eine Vergrößerung der Distanz zu Russland als Erfolg.
(8)       Angst um die Energiesicherheit und Ängste vor Russlands Expansion in Europa. Sie gab es in dieser Form im Kalten Krieg nicht und habe eine „Militarisierung“ der Energiesicherheit eingeleitet.
(9)       Die Aufnahme historisch stark antirussisch gesinnter Staaten in die NATO und die EU, was – wie die Situation um den EU-Russland Partnerschaftsvertrag zeige – die Kooperationsmöglichkeiten einschränke.
(10)     Die zunehmend anti-russische Politik der USA, was in Moskau entsprechende Reaktionen ausgelöst habe.
Angesichts der genannten Probleme, plädierte Nikonow für eine Partnerschaft, die sich auf gemeinsame Interessen und insbesondere die Wirtschaftsbeziehungen stützt. Werte und zu hohe Erwartungen stünden einer Entwicklung der Beziehungen im Weg. Der Westen solle Russland besser studieren und das Land so akzeptieren, wie es sei. Der russischen Seite riet Nikonow, überspitzte Reaktionen zu vermeiden und sich stets der Wirkung gewisser innenpolitischer Maßnahmen in der westlichen Öffentlichkeit bewusst sein.
 
Rolf Mützenich sprach sich im Gegensatz zu den beiden vorherigen Rednern für eine Fortsetzung der Entspannungspolitik aus, deren Instrumentarium notwendig sei, um die neuen Spannungen in den Ost-West-Beziehungen abzubauen. Jedoch bewertete er die Bereitschaft zu einer solchen Politik skeptisch. Es fehlten auf beiden Seiten wichtige Voraussetzungen, namentlich Empathie, die Bereitschaft zu Verhaltensänderungen und Kooperation sowie im Bereich der Rüstungskontrolle das Interesse am Abschluss neuer Verträge unter Einschluss notwendiger Verifikationsmaßnahmen. In den letzten Jahren, so Mützenich, habe der Unilateralismus zugenommen. Gleiches gelte für die Bereitschaft zu militärischen Gewaltanwendungen. Auch stünden wir am Beginn neuer Aufrüstungsprozesse, die durch die bestehenden Rüstungskontrollverträge nicht mehr eingegrenzt werden.
 
Abschließend stellte Mützenich fest, dass der ideologische Ost-West Konflikt des Kalten Krieges derzeit durch eine beginnende Machtkonkurrenz ersetzt werde. Die Reflexe aus den Zeiten des Kalten Krieges könnten und dürften jedoch keine Basis für die internationalen Beziehungen bilden. Im Gegensatz zum Kalten Krieg bestünden allerdings heute gegenseitige wirtschaftliche Abhängigkeiten und sicherheitspolitische Herausforderungen, die gemeinsam beantwortet werden sollten. Mützenich nannte den Iran als erfolgreiches Beispiel. Deshalb plädiere er für eine Kooperation mit Russland und strebe eine Entspannungspolitik mit neuen Instrumenten und auf einer neuen Grundlage an.
 
Wladimir Lukin unterstützte in seiner Einführung Schockenhoffs und Nikonows Ausführungen zur „neuen Entspannungspolitik“. Er charakterisierte Russlands Beziehungen zum Westen als „wellenartig“, betonte zugleich aber, dass der Begriff „Westen“ differenziert betrachtet werden müsse: Mit Deutschland bestünden sehr profilierte Beziehungen auf breiter Rechtsgrundlage mit der Bereitschaft zu bilateralen Verhandlungen und politischem Dialog, intensiven Wirtschafts- und Investitionsbeziehungen und Vergangenheitsbewältigung. Auch die Beziehungen zu der EU intensivierten sich, während die zentralen Schwierigkeiten in den Beziehungen zu den USA entstanden seien. Dies sei nicht zuletzt durch das US-amerikanische Konzept einer unipolaren Welt begründet, doch rege sich auch gegen die wachsende Stärke und selbstbewusstes Auftreten Russlands massiver Widerstand.
 
Grundsätzlich beklagte Lukin, dass sich die Diskussion über die russisch-deutschen Beziehungen immer wieder – und so auch in den bisherigen Ausführungen des Panels – auf die Situation in Russland konzentriere. Über Deutschland werde nicht gesprochen, doch sei Russland weder das wichtigste Land noch todkrank. Er plädiere daher, sich mehr auf die Beziehungen zu konzentrieren.
 
Als Beauftragter für Menschenrechte der Russischen Föderation sprach Lukin seinen jüngsten Bericht zur Menschenrechtssituation in Russland an und betonte, dass diese Probleme innerhalb Russlands sehr viel deutlicher kritisiert werden als im Ausland. Das gewalttätige Vorgehen von Sicherheitskräften gegen Demonstranten werde gerichtlich untersucht. Auch wenn Russland gewiss kein Musterbeispiel auf diesem Gebiet darstelle, so finde doch eine innenpolitische Diskussion statt.
 
Wladimir Ryschkow äußerte in der anschließenden Diskussion seine Überzeugung, dass derzeit keine gemeinsamen Werte zwischen Russland und dem Westen existieren, da das Demokratieverständnis immer stärker auseinanderfalle. An die Stelle der sowjetischen „Volksdemokratie“ sei jetzt in Russland die „souveräne Demokratie“ getreten und ebenfalls sehr weit vom allgemeinen Demokratieverständnis entfernt. Das werde sich auch bei den kommenden Parlaments- und Präsidentenwahlen zeigen. Die Parteien und Politiker, so Ryschkow, die von den Wahlen ausgeschlossen sind, werden von ca. 25 Prozent der russischen Bevölkerung unterstützt. Diese Rückschläge bei der Demokratie machten bis auf weiteres lediglich eine Interessenpartnerschaft mit dem Westen möglich.
 
Michail Deljagin meinte, dass die Spannungen in den Beziehungen zu Russland durch den Kulturschock im Westen verursacht seien, den die jüngsten Versuche Russlands, nach fünfzehnjähriger Pause seine Interessen durchzusetzen, ausgelöst hätten. Nicht alle Interessen und Werte zwischen Russland und dem Westen, so Deljagin, stimmten überein, umso wichtiger sei die Zusammenarbeit bei Themen wie Korruptions- und Gewaltbekämpfung, Verbesserung des Lebensstandards der Bevölkerung und Voranbringen der Modernisierungsprozesse. In diesen Bereichen solle der Westen die Interessen der russischen Bürokratie von den Interessen des Volkes trennen und die Interessen des russischen Volkes verteidigen.
 
Gunther Hellmann sprach die werte- und interessenbedingten strukturellen Spannungen in den Beziehungen zu Russland an. Sie machten, wie letztlich alle Beiträge zum Ausdruck brachten, eine Entspannungspolitik attraktiv. Seiner Meinung nach seien die Voraussetzungen für Verflechtungen nicht gegeben, da insbesondere auf der russischen Seite keine Bereitschaft zur Abhängigkeit vom Westen bestehe.
 
Andrej Sagorskij pflichtete Nikonow bei, dass die Partner auf der Suche nach Gemeinsamkeiten einander so akzeptieren müssten, wie sie sind. Dies schließe eine kritische Sichtweise nicht aus. Dabei müsse man jedoch stets nach Berührungspunkten suchen, um ein künftiges Verständnis durch Transparenz und Vorhersehbarkeit zu sichern. Bei den aktuellen Kommunikationsproblemen sei eine strategische Partnerschaft kaum möglich, doch sollten die Probleme – sei es die Raketenabwehr, sei es KSE – nicht dramatisiert werden.
 
Günter Joetze gliederte die Beziehungen zwischen Russland und dem Westen in drei Schichten, wovon die erste durch die mediale Aufgeregtheit gebildet werde. Die zweite Schicht sei die der intergouvernementalen Transaktionen, die aktuell nur noch virtuellen Charakter hätten. Die letzte reale Transaktion sei die Neuverhandlung des KSE-Vertrags gewesen, der jedoch durch das ungerechtfertigte Istanbuler Junktim ebenfalls in Frage stehe. Die dritte Schicht werde von den elementaren Bedürfnissen der Staaten und Nationen gebildet, zu denen er u.a. die Energieversorgung rechne. Hier fühle sich Deutschland, anders als Polen und im Gegensatz zum Kalten Krieg, nicht von Russland bedroht, weshalb es im Vergleich zum Kalten Krieg auch einen nonchalant kritischen Umgang mit Russland gebe.
 
Ernst-Jörg von Studnitz warf die Frage auf, was im bilateralen deutsch-russischen Verhältnis zu einer Verbesserung der Beziehungen des Westens mit Russland getan werden könne und verwies u.a. auf die Notwendigkeit einer Entdramatisierung der Sprache. Das gelte etwa für die Rede von einem neuen Kalten Krieg. Als Problem identifizierte auch er die illusionären Ausgangsvisionen 1991. Es gelte daher, eine gemeinsame Basis zu finden, zu der auch die demokratische Ordnung gehöre. Der Weg dahin sei jedoch im Dialog und nicht in einem Lehrer-Schüler-Verhältnis zu finden. Deswegen interessiere ihn, wie angesichts der von Nikonow benannten Probleme ein positiver Dialog möglich sei. Rudolf Adam bedauerte ebenfalls, dass die begrifflich überholte Kategorie des Kalten Krieges weiterhin verwendet werde. Er machte auf das Schwanken der Wertekonzepte auch in den USA und Deutschland aufmerksam und merkte an, dass die unzureichende russische Wirtschaftsleistung und Wettbewerbsfähigkeit (Petrostaat) ein größeres Problem darstellten als die Demokratie. Auch Wilhelm Hankel beklagte den relativ langsamen Wachstumsprozess der russischen Binnenwirtschaft, der ohne Kapitalbildung und Entwicklung von Unternehmertum in nicht-exportorientieren Sektoren nicht angetrieben werden könne. Klaus-Dieter Bergner wies in diesem Zusammenhang darauf hin, dass die Globalisierung auch in Russland zur Neudefinierung der wirtschaftlichen Interessen führen müsse, denn sie erfordere eine wissensbasierte Entwicklung.
 
Herta Däubler-Gmelin fragte Nikonow, ob die Kontrolle der Einhaltung der von Russland unterschriebenen Menschenrechtskonventionen seitens internationaler Organisationen, wie des Europarats, ebenfalls zur „Kominternpolitik“ zähle. Nikonow antwortete, dass man zwischen der Tätigkeit zur Unterstützung der Demokratie und den Mechanismen der weichen Gewalt differenzieren solle. Er sprach sich für eine konstruktive Zusammenarbeit, jedoch gegen eine Einmischung in die Innenpolitik Russlands aus.
 
Mathias Brüggmann warf die Frage auf, welche Interessen Russland genau verteidigen möchte und wieso gerade mit Russland und nicht etwa mit China eine Wertepartnerschaft denkbar sei. Schockenhoff bekräftigte in seinem Schlusswort die Existenz gemeinsamer Werte zwischen Russland und Europa. Eine „fallweise“ Zusammenarbeit mit Russland sei keine Lösung für die europäische Politik, weil keine strategische Frage ohne Russland gelöst werden könne. Darin bestehe auch der wesentliche Unterschied zwischen China und Russland.
 
Auf den Hinweis Wittmanns zu Schikanen und Folterungen in der Armee, antwortete Lukin in seinem Schlusswort, dass dieses Problem bekannt sei und bekämpft werde, jedoch negative Anreize nur wirksam seien, wenn die Betreffenden stolz auf ihren Beruf seien und somit Angst haben, diesen zu verlieren. Die tatsächlichen Beziehungen zwischen Russland und den westlichen Kernländern, selbst mit den USA, seien weitaus besser als oft geschildert, merkte er ferner an. Lukin warf der westlichen Außenpolitik vor, zu häufig und pragmatisch das Thema der Menschenrechte zu nutzen. Im Hinblick auf die Wertediskussion sei er von der Existenz gemeinsamer Werte überzeugt, jedoch soll die Dichotomie der Entwicklung Russlands berücksichtigt werden. Einerseits sei Russland bereits stark international eingebunden, andererseits befinde es sich erst in der postimperialen Phase des Nationalstaates. Diese Dichotomie, so Lukin, stelle eine objektive Schwierigkeit dar, jedoch sei Russland auf dem Weg zur Demokratie.
 
 
 
Panel 2
Die Russen kommen – oder auch nicht.
Marktzugang als Vorneverteidigung mit anderen Mitteln?

 
Zur Eröffnung des zweiten Panels verwies Matthes Buhbe als Moderator auf das jüngste Beispiel der Expansion russischer Konzerne in Westeuropa durch die Übernahme von 30 Prozent der Anteile am österreichischen Baukonzern STRABAG durch Oleg Deripaska, die in beiderseitigem Interesse erfolgt sei. Die Zunahme solcher gegenseitiger Verflechtungen sei strategisch eine hervorragende Nachricht, die jedoch verstärkt Misstöne hervorrufe. Dabei solle man erfreut sein, so Buhbe, dass sich in Russland neben den Rohstoffsektoren auch andere Wirtschaftsbereiche entwickelten.
 
Der Sprecher von Gasprom, Sergej Kuprijanow, konzentrierte seine Ausführungen auf die Probleme, mit denen sein Konzern im Westen konfrontiert sei. Zwar habe dessen Expansion großes Interesse, aber auch beträchtliches Unbehagen hervorgerufen. Wie andere Großunternehmen wolle Gasprom nicht geliebt, wohl aber in seinen Zielen und Absichten verstanden werden. Daher sei unter dem Titel „Shrek II“ ein Programm aufgelegt worden, um den Konzern im Westen bekannt zu machen. In diesem Sinne setzte sich Kuprijanow mit den sieben der meist verbreiteten Mythen über Gasprom auseinander:

(1)   Die Angst vor einer Abhängigkeit. Seit dem Beginn der Gaslieferungen nach Westeuropa in den 1970er Jahren habe es nie Lieferprobleme gegeben, nicht einmal während des Zerfalls der UdSSR. Dabei sei damals der Anteil von null auf durchschnittlich 25 Prozent gesteigert worden, während es heute allenfalls noch um eine Steigerung des Gaspromanteils an der westeuropäischen Versorgung um sechs bis acht Prozent gehe.
(2)   Die Nutzung der Gaslieferungen als politische Waffe. Zwar könnten politische Aspekte nicht immer von den wirtschaftlichen getrennt werden, doch sei diese Formulierung zu emotional und überspitzt. Gasprom jedenfalls werde seine Lieferungen nie als politische Waffe einsetzen. So seien etwa die Preisdifferenzen im georgischen ($ 235) und armenischen Fall ($ 100) darin begründet, dass Gasprom im Gegenzug seine Beteiligung an der armenischen Gasgesellschaft ausbauen konnte.
(3)   Gasprom könne die Gasförderung nicht erhöhen und somit in den kommenden Jahren seinen Lieferverpflichtungen nicht mehr genügen. Tatsächlich sei die Gasförderung von 2002 bis 2006 von 512 auf 555 Milliarden cbm gesteigert worden, und allein 2006 seien zwei neue Vorkommen mit jeweils 50 Milliarden cbm erschlossen worden.
(4)   Die Investitionen seien nicht ausreichend. 2005 und 2006 betrugen die Investitionen jeweils $10 Milliarden. Davon wurden fast 30 Prozent in die Förderung investiert. Die Investitionen würden pragmatisch nach den Lieferverpflichtungen berechnet, die bis 2025 feststehen.
(5)   Gasprom wolle auf Kosten Westeuropas seine Gaslieferungen nach Asien umsteuern. Dies sei im Rahmen der langfristigen Verträge gar nicht möglich. Und auch mit China würden erst dann Pipelines errichtet, wenn solche langfristigen Verträge abgeschlossen werden konnten. Eine Liberalisierung wiederum komme erst dann in Betracht, wenn die notwendige Infrastruktur vorhanden sei.
(6)   Gasprom expandiere zu sehr in fremde Bereiche jenseits seines Kerngeschäfts. Richtig daran sei, dass Gasprom derzeit Unternehmen im Öl- und Strombereich erwerbe, um seine Stellung dort zu stärken. Das geschehe jedoch nur, wenn dadurch Synergien erm��glicht werden. Zugleich würden Nebengeschäfte abgestoßen. Als Beispiele nannte Kuprijanow Versicherungen, Anteile an der SIBUR-Chemieholding, 50 Prozent der Gasprombank und die Holding Gasprommedia, die an die Bank verkauft worden sei.
(7)   Ausländischen Unternehmen werde nur ein sehr begrenzter Zugang ermöglicht. Das stimme in gewissem Umfang, sei jedoch auch in anderen Ländern Praxis, zumal in den USA. Gasprom selbst strebe einen Zugang zu den Endkunden an. Und umgekehrt sei der Konzern offen für Kooperationen mit westlichen Unternehmen, wie die Beispiele Wintershall und EON zeigten.
 
Nach Meinung von Oliver Wieck kommen die Russen nicht erst, sondern seien längst da, wie die Investitionen von über eine Milliarde Euro in Deutschland im Gas- und Ölsektor, aber auch in Branchen wie der Stahlindustrie, dem Fahrzeugbau und sogar im Modebereich (Escada) zeigten. Das Interesse russischer Investoren sei in erster Linie der Zugang zur Technologie und zum Absatzmarkt, aber sie wollten auch den russischen Markt mit den im Westen hergestellten Produkten beliefern. Es werde viel von der Diskriminierung russischer Unternehmen in Europa gesprochen, wobei die britische Centrica als typisches Beispiel gelte. Allerdings sollte nicht übersehen werden, dass im Energiebereich, so Wieck, weltweit zunehmende Restriktionen und politische Diskriminierungen zu beobachten seien. Ein Beispiel im Westen sei EONs gescheiterter Versuch einer Übernahme des spanischen Versorgers ENDESA gewesen.
 
Russische Unternehmen seien neue Spieler, daher seien anfängliche Imageprobleme nicht ungewöhnlich. Die entscheidende Frage sei jedoch, nach welchen Spielregeln sie ihre Expansionspolitik betreiben. Diese Spielregeln beinhalten soft facts wie klare Kommunikation der Unternehmensziele, Transparenz, Überzeugungskraft und auch Gegenseitigkeit der Investitionen. Ein schlechtes Beispiel sei hier das Interesse der Vneschtorgbank an einem Ausbau der Beteiligung an EADS gewesen; ein positives dagegen das Interesse von AFK Sistema an der Deutschen Telekom. Unverzichtbar sei jedoch die Gegenseitigkeit, und hier weckten die Gesetzesinitiativen zur Beschränkung ausländischer Beteiligungen an den „strategischen“ Sektoren der russischen Wirtschaft durchaus Zweifel. Es gehe in diesem Fall nach Wiecks Ansicht nicht um strategische Abwehr, sondern um Einhaltung der Spielregeln zum beiderseitigen Vorteil.
 
Jewgenij Gawrilenkow konzentrierte seine Ausführungen auf die ökonomischen Rahmenbedingungen der russischen internationalen Expansion. Die Expansion russischer Unternehmen auf den Weltmärkten sei eine natürliche Tendenz, jedoch könne man die aktuellen Wachstumsraten der Auslandsinvestitionen nicht linear fortschreiben, da diese durch hohe finanzielle Reserven der Unternehmen angetrieben würden. Langfristig von einem BIP-Wachstum in der Größenordnung von sechs bis sieben Prozent auszugehen, sei nach Gawrilenkows Meinung gefährlich. Ein weiteres Problem stelle die Zahlungsbilanz dar. Derzeit zeichneten sich sowohl der russische Haushalt als auch die Zahlungsbilanz durch hohe Überschüsse aus. Falls diese verschwinden, würde der finanzielle Spielraum der Unternehmen kleiner und somit deren Expansionsmöglichkeiten sinken. Nach den letzen Haushaltsplänen werde der Haushalt erst ab einem Ölpreis über $ 38 pro Barrel einen Überschuss ausweisen. Wenn das Wachstum der Exporte bei einer unverändert hohen Wachstumsrate der Importe nachlasse, könne der Leistungsbilanzsaldo langfristig negativ werden. Die Zahlungsbilanz müsse dabei nicht zwingend negativ werden, wie das Beispiel Kasachstan (ausgleichende Wirkung der Kapitalbilanz mit hohen Zinszahlungen an das Ausland) verdeutliche. Die Auslandsverschuldung wachse auch in Russland, zusätzlich angetrieben durch den starken Rubel. Somit werde Russland zunehmend von Investitionen aus dem Ausland und Auslandsverschuldung abhängig.
 
Bei einem langsameren Wachstum der Wirtschaft erwartet Gawrilenkow eine Liberalisierung der Wirtschaft. Liberale Wirtschaftspolitik konnte sich, so Gawrilenkow, immer durchsetzen, wenn sich die wirtschaftliche Lage verschlechterte und die Energiepreise sanken. Positiv sei ferner zu vermerken, dass die Expansion russischer Unternehmen auf den Weltmärkten zur Integration Russlands und zur Transformation der Geschäftsmentalität und Kultur beitragen. Auch werde eine Sättigung der Konsumbedürfnisse die Demokratievorstellungen verändern und neue Bedürfnisse in der Bevölkerung wecken.
 
Mit Blick auf das Thema des Panels fand Ewald Böhlke, dass die Russen „noch nicht genug da“ seien, vor allem in der Produktion. Gliedere man die Globalisierungsstrategien in zwei Typen, so finde die Integration nach angelsächsischem Muster über die Finanzmärkte, im Portfoliobereich und den Aktienmärkten, bereits statt, auch wenn die Kapitalisierung vieler russischer Unternehmen noch nicht ausreichend sei. Der zweite Typ der Expansion sei der sogenannte globalizing patrotism, welcher zu zunehmenden Verschränkungen zwischen Staat und Wirtschaft und zur Revitalisierung staatlicher und politischer Faktoren in der Wirtschaft führe. In diesem Zusammenhang riet Böhlke Gasprom und anderen russischen Unternehmen, moderne Marketing- und Kommunikationsstrategien entlang der Wertschöpfungskette anzuwenden, um in offenen Gesellschaften als große Unternehmen erfolgreich zu sein.
 
Die meisten russischen Unternehmen der verarbeitenden Industrie seien nach Böhlkes Meinung im Gegensatz zum Rohstoffbereich global nicht wettbewerbsfähig, so dass sich europäische Unternehmen, auch mittelständische, in Russland einkaufen können. In Russland finde derzeit ein doppelläufiger Prozess statt: Einerseits boome der Konsum. Dabei charakterisierte er den russischen Konsummarkt als einen boomenden Markt für deutsche und europäische Produkte, der gegenwärtig die Überkapazitäten der europäischen Produktion aufnehme. Dieser Kontext müsse bei der Diskussion über nachhaltige Verflechtungen zwischen Russland und dem Westen im Blick behalten werden. Andererseits leide das Land an Fachkräftemangel, so dass in Russland engagierte ausländische Unternehmen ihre Experten „importieren“ müssten. Die Frage sei, so Böhlke, ob die in Russland in Gang gesetzte Dynamik mit der Dynamik auf der Humankapitalseite vereinbar sei. Zudem führten logistische Engpässe dazu, dass Russland de facto nicht an den großen Transportströmen teilnehme.
 
In der Diskussion bezweifelte Wilhelm Hankel, dass sich Investitionen im Ausland derzeit positiv auf Russland auswirken können. Das Kapital solle in Russland bleiben und zur Förderung der Binnenmarktentwicklung dienen, um der dualistischen Ökonomie mit einem prosperierenden Export- und einem unterentwickelten Binnensektor ein Ende zu machen. Axel Lebahn merkte dazu an, dass die Expansion der russischen Unternehmen im Ausland auch als Zeichen der im eigenen Land herrschenden Investitionsunsicherheit aufgrund von zunehmender Verstaatlichung gesehen werden könne.
 
Michail Deljagin bezeichnete die zurückhaltende Reaktion auf die russische Expansion als normale Konkurrenz. Wenn russische Unternehmen selbst einen Zugang zu Endkunden bekommen, die früher durch Zwischenhändler bedient wurden, entgingen den westlichen Unternehmen Profite. Auch könne auf Grund des europäischen Protektionismus der europäische Markt nicht von Russland aus bedient werden, so dass eine Expansion die logische Folge sei.
 
Matthias Brüggmann begrüßte Investitionen russischer Privatunternehmen in Deutschland, fand jedoch die Auslandsexpansion staatlicher Monopolisten bedenklich, da dies z.B. für den europäischen Energiesektor eine Bewegung weg von der Liberalisierung sei. Jürgen Möpert nannte dagegen potenzielle Vorteile eines Gasprom-Engagements in Europa. Durch den direkten Kontakt zu den Endkunden lerne Gasprom viel schneller die Marktreaktionen kennen. Über den europäischen Markt könnte nicht nur der Zugang zu neuer energieeffizienter Technologie erschlossen, sondern auch Impulse für Reformen im russischen Kommunalbereich gewonnen werden.
 
Per Fischer ergänzte Böhlkes Bedenken um die Nachhaltigkeit der russischen Entwicklung um einen weiteren Problembereich, den Bankensektor. Dieser sei sehr fragmentiert, die Assets aller russischen Banken liegen unter denen der Commerzbank. Darüber hinaus finanziere der Bankensektor die boomenden Konsum- und Immobilienbereiche, was eine Blase verursachen könne.
 
Peter W. Schulze wies darauf hin, dass es in Russland erst ab 2000 eine wirtschaftspolitische Strategie gebe. Deswegen könne die russische Regierung derzeit nicht alle Probleme gleichzeitig bekämpfen. Wenn jedoch ab 2008 die beiden fehlenden Elemente der Binnenwirtschaft – die Infrastruktur und die technologische Innovation des industriellen Kerns– ergänzt würden, könne Russlands Wettbewerbsfähigkeit gesichert werden. Wieck schloss sich der Meinung von Schulze an, dass die Mammutaufgaben der Modernisierung nur konsekutiv angegangen werden können. Seit zwei Jahren liefen die nationalen Projekte im Gesundheits- und Bildungsbereich sowie in der Landwirtschaft. Das Humankapitalproblem sei ebenfalls erkannt. Die Bildung von staatlichen Konsortien außerhalb des Energiesektors sei seiner Meinung nach als letzter Rettungsversuch maroder Wirtschaftsbranchen anzusehen.
 
In seinem Schlusswort kam Gawrilenkow erneut auf das Problem der steigenden Auslandsverschuldung zu sprechen, die insbesondere im Falle quasisouveräner Schuldner (Gasprom, Rosneft) ein Problem darstelle. Bei privaten Schuldnern sei die Verschuldung im Ausland durch die niedrige Kapitalisierung des inländischen Bankensystems bedingt. Weiterhin merkte er an, dass langfristig Russlands Energieexportkapazitäten sinken werden, was mit einem steigenden Energiebedarf im Inland verbunden sei. Die Liberalisierung der Inlandspreise für Energie werde dazu beitragen, den russischen Markt attraktiver zu machen. Auf die auch von Winfried Schneider-Deters mit Verweis auf den durch die Internationale Energieagentur geschätzten Investitionsbedarf bei der Förderung geäußerten Zweifel antwortete Kuprijanow mit Nachdruck, dass die von ihm bereits eingangs genannten Investitionszahlen diesen Schätzungen entsprächen und Gasprom allen seinen Lieferverpflichtungen in Zukunft nachkommen werde.
 
Adomeit fragte, ob die Gas-OPEC ein reales Projekt sei und wie ausländische Investitionen im Energiebereich behandelt werden. Kuprijanow antwortete, dass die Gas-OPEC kein Mythos sei, jedoch der Name nicht die Idee des geplanten Projektes widerspiegele. Sie solle kein internationales Kartell werden, sondern vielmehr ein Klub zur Synchronisierung der Investitionspläne der teilnehmenden Gasexporteure. Die zweite Frage beantwortete Kuprijanow am Beispiel des Gasfelds Schtockman. Dort führe Gasprom derzeit Verhandlungen mit ausländischen Partnern über 49 Prozent der Aktien. Das Schtockman-Gas werde durch eine Pipeline Richtung Europa und nicht als Flüssiggas in die USA geliefert. Ein Teil des Imageproblems Gasproms resultiere aus der klaren Kommunikation seiner Ziele, so Kuprijanow. Dies sei bei den Verhandlungen mit der Ukraine geschehen, in denen Gasprom seine Position offen dargelegt habe, während die ukrainische Seite nicht öffentlich agierte. Böhlke merkte dazu an, dass russische Konzerne ein grundlegendes Imageproblem hätten, das nicht durch oberflächliche Medienstrategien zu bekämpfen sei.
 
 
 
Panel 3
Im Schatten der Geschichte:
Wird die Staatsbildung von außen auch in Afghanistan scheitern?

 
Peter Fischer-Bollin moderierte das dritte Panel und brachte einleitend seine Hoffnung zum Ausdruck, mehr über Interessen Deutschlands und Russlands in Afghanistan zu erfahren. Dies sei nach den Klagen im ersten Panel auch eine gute Gelegenheit, den Schwerpunkt der Diskussion von Russland auf Deutschland zu verlagern sowie unter anderem den Aspekt des Zusammenspiels von Militär-, Außen-  und Entwicklungspolitik zu beleuchten.
 
Markus Kneip berichtete von der Arbeit der Bundeswehr in Afghanistan und von seinen persönlichen Erfahrungen. So war er u.a. 2001 mitverantwortlich für die Erkundung erster deutscher Kontingente in Kabul. 2006 war er dort als Brigadekommandeur stationiert und von März bis Oktober deutscher und NATO-Kommandeur im Norden des Landes. Derzeit ist Kneip Abteilungsleiter im Führungsstab des Heeres, verantwortlich für Planung, Leitung und Weiterentwicklung von Landoperationen.
 
Kneip ging zunächst auf die Parameter des Wiederaufbaus ein. Der Zerstörungsgrad der Infrastruktur sei insbesondere in den Dörfern unvorstellbar. Das Bildungsniveau sei extrem unterschiedlich, so dass die Kommunikation mit der Bevölkerung oft bereits deswegen scheitere. Die Verwaltungsstrukturen seien nur in Kabul gut, außerhalb der Hauptstadt seien sie zwar nominal vorhanden, jedoch nicht funktionsfähig. Durch häufigen Wechsel sei Nachhaltigkeit nicht gewährleistet. Positiv zu bewerten sei das ressortübergreifende Konzept der Zusammenarbeit in Deutschland sowie das Stützpunktkonzept der Provincial Reconstruction Teams.
 
Ein akutes Problem stellten die fünf Säulen des Security Sector dar: Justiz, Drogenbekämpfung, Armee- und Polizeiaufbau sowie Entwaffnung und Auflösung illegaler Milizen. Das Konzept sei im Ansatz richtig, der Aufbau der einzelnen Säulen,  die einander stützen sollen, sei jedoch in seiner Parallelität undurchführbar. Die zeitlichen Ziele des Konzepts seien ebenfalls überambitioniert. Der Aufbau der Justizorgane hinke hinterher. Die Entwaffnung und Auflösung illegaler Milizen sei gestoppt. Die Drogenbekämpfung sei nicht ausreichend geplant. Alternativen zum Drogenanbau stünden nicht zeitgerecht zur Verfügung. Der Aufbau der Polizei sei zwar auf dem Papier auf gutem Weg, leide jedoch in der Realität am Präsenzmangel in der Fläche. Mehr Arbeit mit den Menschen sei gefragt. Der Armeeaufbau sei noch der beste Aspekt bei der Verwirklichung der 5-Säulen-Strategie. Er sei ein notwendiges Instrument der Stabilisierung, unentbehrlich um eines Tages die Nato-Präsenz reduzieren zu können und zur heimischen Kontrolle überzugehen.
 
Ferner beschrieb Kneip die Risiken, mit denen die Wiederaufbauarbeit in Afghanistan konfrontiert ist. Die Bundeswehr sei in Afghanistan für neun Provinzen im Norden zuständig, mit einer multiethnischen Bevölkerung von zehn Millionen Menschen. In diesen Provinzen gebe es 60 bis 70 „Vorfälle“ pro Monat, also zwei bis drei Bombenanschläge, Raketenangriffe oder Beschüsse pro Tag. Im Einzelnen benannte er als Risiken die mit dem Terror einhergehende Drogenkriminalität, Flüchtlingswellen, die fehlende Qualität der Sicherheitsorgane und die Tatsache, dass die Taliban eine erfolgreichere Öffentlichkeitsarbeit betrieben als die ISAF-Kräfte. Als Hauptrisiko nannte Kneip daher die Gefahr, die Herzen und die Unterstützung der Bevölkerung zu verlieren. Und als Hauptherausforderung, den Aufbau unter Bedingungen ständiger terroristischer Anschläge durchführen zu müssen. Die Terrorbekämpfung voranzustellen sei keinesfalls der richtige Weg, da dadurch die Herzen der Menschen unwiederbringlich verloren gingen, schloss Kneip.
 
Ruslan Auschew war zwischen 1980 und 1987 mehrfach als Kommandeur in Afghanistan eingesetzt. Im vergangenen Jahr besuchte er das Land in seiner Funktion als Vorsitzender des Verbandes der Afghanistan-Veteranen der GUS, der sich mit der Suche nach vermissten sowjetischen Soldaten beschäftigt.
 
Ein starker Staat in Afghanistan sei wichtig, weil der Sieg reaktionärer Kräfte sich auf die zentralasiatischen Länder auswirken und so eine Gefahr für die Sicherheit in Russland und Europa darstellen würde, so Auschew. Die NATO-Kräfte seien für die Stabilisierung der Region erforderlich, jedoch zweifelte Auschew, ob die Truppenstärke ausreiche: In den 1980er Jahren waren in Afghanistan 100.000 sowjetische Truppen stationiert, zusätzlich zu den 100.000 mit Luftwaffe und Artillerie gut ausgerüsteten afghanischen Streitkräften. Die afghanische Armee verfüge heute lediglich über sieben Helikopter, und die 30.000 Mann starke NATO-Truppe stelle eine gute Zielscheibe für ihre Gegner dar. Ohne eigene Streitkräfte sei ein Staat jedoch nicht vorstellbar.
 
Bei der Beantwortung der Frage, ob der afghanische Staat von außen aufgebaut werden könne, konzentrierte sich Auschew auf die Fehler während der sowjetischen Präsenz. Ein Hauptfehler sei der Versuch gewesen, die sowjetische Lebensweise einzuführen, bei der Ausübung der Religion, dem Parteisystem und im Gesellschaftsleben. Dies sei in der afghanischen Bevölkerung auf entschiedenen Widerstand gestoßen. Darüber hinaus waren die sowjetischen Truppen genötigt, den Krieg stellvertretend für die afghanischen Streitkräfte zu führen. Die sowjetischen Truppen hätten lediglich zur Unterstützung der afghanischen Armee dienen sollen, so Auschew, wurden von dieser jedoch vorgeschickt. Die Fähigkeit der Streitkräfte, in der afghanischen Gebirgslandschaft einem Partisanenkrieg widerstehen zu können, wurde überschätzt. Die Mentalität, Kultur und Geschichte Afghanistans waren weitgehend unbekannt. Diese Fehler hätten dazu geführt, dass das Vertrauen des afghanischen Volkes bis 1989 vollständig verloren ging.
 
Die Erfahrungen aus Auschews jüngsten Besuchen in Afghanistan zeigten, dass die mit dem Einsatz der NATO-Truppen verbundenen Hoffungen nicht in Erfüllung gingen. An der Armut und dem niedrigen Bildungsstand der Bevölkerung habe sich kaum etwas geändert. Die Wirtschaft bestehe zu 50 Prozent aus illegalem Drogenanbau, bei einer Produktion von jährlich 6.000 Tonnen. Hinter dem Drogenanbau stünden Stammesoberhäupter, die ihrerseits von illegalen bewaffneten Formierungen kontrolliert würden. Korruption sei allgegenwärtig und die Entwicklungshilfe lande in den Taschen der Beamten. Der afghanische Präsident könne seine Macht weder über die Provinzgouverneure noch über die Stammesoberhäupter ausüben. Dank besserer Organisation gelinge es den Taliban zunehmend, auf dem Land die Oberhand zu gewinnen. Solange der NATO-Einsatz zu keinen sichtbaren Verbesserungen im Lebensstandard führe, werde der religiöse Fanatismus der Taliban attraktiv bleiben; deren Ideen könnten mit Gewalt nicht vernichtet werden.
 
Auschew schloss mit der Empfehlung, den Staatsaufbau in Afghanistan mit minimaler und sensibler Hilfe von außen zu unterstützen. Diese solle sich vor allem auf die Wirtschaft konzentrieren und müsse eine Abstimmung mit den Nachbarländern einschließen. Die Afghanen sollten ihre Probleme selbst lösen; man dürfe ihnen keinesfalls eine Lebensweise oder eine Staatsstruktur von außen aufdrängen.
 
Erich Stather wandte sich eingangs gegen die Formulierung des Panelthemas. Zum einen unterstelle es, dass Staatsaufbau von außen in allen bisherigen Fällen gescheitert sei, zum anderen interpretiere es das Ziel des NATO-Einsatzes falsch. Die NATO versuche nicht, von außen den afghanischen Staat aufzubauen, sondern wolle lediglich Afghanistan beim Staatsaufbau unterstützen.
 
Wie seine Vorredner sah Stather als zentrale Herausforderung die Vertrauensbildung, was sowohl die ausländischen Streitkräfte als auch die afghanischen Staatsorgane betrifft. Die staatlichen Strukturen existierten zwar, es sei jedoch die Frage, ob sie funktionieren, von den Verantwortlichen richtig eingesetzt und von den Menschen im Lande akzeptiert werden. Hier müsse man nüchtern feststellen, dass in den fünf Jahren der NATO-Präsenz in Afghanistan die Bevölkerung das Vertrauen in die ausländischen Militärmächte verloren habe und dass Vertrauen in die Staatsorgane und die Regierung nicht aufgebaut werden konnte. Aus der Perspektive der Entwicklungspolitik folgerte er daraus, dass der Zeitpunkt gekommen sei, zivilen Strategien Vorrang zu geben. Bis heute dominierte die militärische Strategie, an die zivile Aspekte lediglich angehängt würden. Und dies, obwohl die deutsche Entwicklungshilfe an Afghanistan mit 200 Millionen Euro der höchste Betrag für ein Einzelland sei – die dank eines elaborierten Kontrollsystems zudem nicht in korrupte Kanäle fließe. Zivile Strategie, wenn auch mit militärischen Komponenten, bedeute jedoch, so Stather, dass ihre Ausführung von der Regierung des Landes selbst gesteuert werde. Der Westen solle lediglich helfend und beratend zur Seite stehen, die Verantwortung für die Strategie und die Umsetzung müsse die Regierung tragen, die nur so ihren Willen und ihre Fähigkeit zum Staatsaufbau demonstrieren – und entwickeln – könne.
 
Stather widersprach Auschews Aussage, dass sich der Lebensstandard in Afghanistan nicht verbessert habe. Zwar hätten nicht alle Menschen ein geregeltes Einkommen, jedoch seien in der Infrastruktur, bei der Wasserversorgung, der schulischen Bildung und der Frauenarbeit viele erfolgreiche Projekte durchgeführt worden. Bei der Drogenproblematik jedoch seien alle ratlos. Da die bisherigen Methoden keinen Erfolg zeigten, solle ernsthaft über den italienischen Vorschlag nachgedacht werden, die Ernten aufzukaufen und für medizinische Zwecke zu verwenden. Man könne den Drogenanbau nicht verbieten, ohne Alternativen vorzuschlagen.
 
Zu den Taliban merkte Stather an, dass diese nicht in Bausch und Bogen als Terrorbewegung abgetan werde könne. Vielmehr müsse die Frage gestellt werden, woher eigentlich die wachsende Unterstützung komme. Da die Taliban mit den zur Verfügung stehenden militärischen Mitteln nicht zu bekämpfen seien, müsse man zumindest mit Teilen von ihnen ins Gespräch kommen.
 
Das Engagement der Sowjetunion beim Staatsaufbau in Afghanistan war, so Andrej Sagorskij, typisch für zahlreiche erfolglose Versuche einer schnellen Modernisierung unterentwickelter Länder mit traditioneller Gesellschaft und Wirtschaftsstruktur. Ihr Scheitern sei daher nicht ausschließlich auf die Sowjetisierungsversuche zurückzuführen, sondern enthalte auch viele Elemente, die generell für Modernisierungs- und Staatsaufbauversuche charakteristisch seien. Tatsächlich hatten die sowjetischen Aktivitäten nicht nur eine militärische Komponente, sondern auch sehr umfangreiche nicht-militärische Komponenten in Gestalt finanzieller und technischer Entwicklungshilfe. Deren Umfang betrug bereits in der Anfangsphase $ 2,5 Milliarden in Form etwa für Erdöl- und Lebensmittellieferungen. Hinzu kamen beratende Tätigkeiten beim Aufbau neuer staatlichen Institutionen (1.500 zivile Berater bereits im Jahre 1979), technische Unterstützung, Aus- und Weiterbildung von Fachkräften und politische Konsultationen für die demokratische Volkspartei Afghanistans.
 
Ein weiterer negativer Aspekt, der auch zu den heutigen Ereignissen Parallelen habe, bestand darin, dass die sowjetische Regierung beschlossen habe, den Erfolg in Afghanistan mit jedem Preis zu erkaufen. Zwar habe die sowjetische Parteiführung intern von Anfang an Zweifel am Erfolg gehabt, es habe jedoch Gromykos Devise gegolten: Kein Schritt zurück! Dieses Prinzip habe die Politik fatal beeinflusst. Wenn die Hilfsmaßnahmen nicht zum Erfolg führten, wurden die finanziellen und personellen Ressourcen einfach erhöht. Der Staatsaufbau in Afghanistan war jedoch kein technisches Problem. Daher habe die Erhöhung der Mittel nie zum erwünschten Erfolg geführt: Je mehr Geld investiert wurde, desto niedriger wurde seine Grenzproduktivität.
 
Die Sowjetunion sah sich, so Sagorskij, in Afghanistan mit folgenden strukturellen Problemen konfrontiert:
(1)  Die Unfähigkeit der traditionellen afghanischen Gesellschaft, Reformen anzunehmen. Selbst klassische populäre Maßnahmen wie die Boden- und Bildungsreform seien feindlich aufgenommen worden und hätten die politische Basis der Regierung nicht erweitert.
(2)  Die Inkompetenz der Führung auf allen Ebenen der Bürokratie. Positionen wurden nicht nach Fachkompetenz sondern nach Loyalität zur regierenden Partei besetzt.
(3)  Die fehlende politische Unterstützung der Regierung in den Provinzen außerhalb Kabuls. Die Regierung war weder über die Stimmung noch über die Ereignisse in der Provinz unterrichtet. De facto unterstanden diese Gebiete nicht der Zentralregierung.
(4)  Die afghanische Führung habe ständig versucht, die Entscheidungs- und Ausführungslast sowohl militärisch als auch in zivilen Bereichen auf die Sowjetunion abzuwälzen.
(5)  Ein Afghan ownership konnte nie erreicht werden. Die Maßnahmen im Rahmen des Staatsaufbaus fanden weder Interesse noch Unterstützung in der Gesellschaft. Dieses Problem sei auch heute noch nicht gelöst.
 
Auf Seiten der Sowjetunion identifizierte Sagorskij folgende Probleme:
(1)  Die Inkompetenz der sowjetischen Berater, die starr versuchten, sowjetische Rezepte in Afghanistan umzusetzen und kaum über Landeskenntnisse verfügten.
(2)  Massive Informationsdefizite in Moskau, trotz der starken Präsenz im Lande. Entscheidungen beruhten daher oft auf inkorrekten Informationen. So nutzten die sowjetischen Nachrichtendienste ungefiltert Informationen der lokalen Strukturen, welche aus Eigeninteresse verzerrt weitergegeben wurden.
(3)  Die Inflexibilität der sowjetischen Regierung bei der Änderung ihrer Beschlüsse.
 
Die fehlende Bereitschaft Afghanistans, andere Gesellschaftsentwürfe anzunehmen, bleibe bestehen. Daher sei es wichtig, einen Königsweg zwischen der Definition und dem Aufzwingen bestimmter Standards zu finden, schloss Sagorskij.
 
Die Vorträge machten deutlich, so Gert Weisskirchen in der Diskussion, dass ein Staatsaufbau nur von innen gelinge könne. Er wies auf die Notwendigkeit einer konzeptionellen Veränderung hin, weg von den militärischen Mitteln. Nach seinen Informationen habe sich – trotz der schwierigen Bedingungen in Afghanistan – die Situation für die Menschen vorwiegend in den zivilen Leuchtturmprojekten verbessert. Dies verdeutliche die Notwendigkeit eines Paradigmenwechsels, wenngleich ohne Vernachlässigung der Sicherheitsaspekte.
 
Von Studnitz dagegen zweifelte grundsätzlich an den Erfolgsaussichten der westlichen Staatsaufbaukonzepte in Afghanistan. Für einen Export westlicher Ordnungen in solche Länder fehlten jegliche Voraussetzungen. Wie das Beispiel Tschetschenien zeige, könne man solche Konflikte erst befrieden, wenn man das Land sich selbst überlasse. Das Beispiel Kadyrow demonstriere, dass nur solche Methoden erfolgreich seien, die diesen Gesellschaften entsprechen. Für die Europäer bleibe somit nur das Kriegziel einer Vernichtung von Al Qaida und die Drogenbekämpfung. Das Drogenproblem könne jedoch militärisch nicht gelöst werden, weil es in erster Linie durch die Nachfrage im Westen generiert werde. Matthias Brüggmann wandte ein, dass ein ziviler Aufbau ohne militärische Unterstützung nicht erfolgen könne, die Unterstützung für die Truppeneinsätze schwinde jedoch auch im deutschen Parlament.
 
Sowohl Kneip als auch Stather wiesen den Vorwurf zurück, das deutsche System oder deutsche Traditionen nach Afghanistan exportieren zu wollen. Stather fügte hinzu, dass der Erfolg einer zivilen Strategie zum größten Teil vom Willen der afghanischen Regierung selbst abhänge, weil nur sie die Funktionsfähigkeit der staatlichen Institutionen gewährleisten könne. Kneip merkte an, dass 2006 mit der Ausweitung der NATO-Verantwortung eine neue Operation gestartet sei, so dass Probleme durchaus normal seien. Trotz der Schwierigkeiten beim Staatsaufbaus sah er die Lebensverhältnisse in Afghanistan deutlich verbessert, was durch den Militäreinsatz allein nicht möglich gewesen wäre.
 
Klaus Wittmann rief dazu auf, der zivilen Komponente mehr Systematik und der militärischen mehr Vernetzung zu verleihen. Das Vertrauen der Bevölkerung Afghanistans könne nur durch die Verbesserung der Lebenssituation erreicht werden. Gelingt so etwas nicht bereits am Beginn eines Einsatzes, werden die Truppen als Besatzungsmächte wahrgenommen. Auch Heinz Timmermann sah den Fokus zu stark auf die militärische Komponente gerichtet und fragte, ob dies durch den US-amerikanischen Einfluss geschehe. Er wies auf die Notwendigkeit eines Mittelwegs der Entwicklung zwischen Tradition und Modernisierung hin, der von außen lediglich angeregt und nicht gesteuert werden dürfe.
 
Michail Deljagin widersprach der Meinung, in Tschetschenien sei bereits eine Befriedung erreicht worden. In Afghanistan träfen heute eine traditionelle Gesellschaft, die keine Neuerungen akzeptieren wolle, und der Westen, der diese Kultur nicht verstehen wolle, aufeinander. Deljagin ist daher überzeugt, dass die NATO-Streitkräfte in zwei bis drei Jahren vor den Taliban kapitulieren werden. Dies stelle für Russland eine ernsthafte Bedrohung dar, weil auch Tadschikistan und Kirgisien unter starkem Taliban-Einfluss stünden.
 
Erich Reiter zweifelte an der Darstellung von Terrorismus als größter Herausforderung der Gegenwart. Zwar wolle er nicht in Frage stellen, dass sich die Europäer stärker im internationalen Krisen- und Konfliktmanagement engagieren. Jedoch werde in ihrer derzeitigen Erscheinungsform die vom Terrorismus ausgehende Gefahr gewaltig überschätzt, wobei die Berichterstattung der Medien einen erheblichen Beitrag leiste. Terrorismus sei heute vielmehr ein psychologisches Problem und der Einsatz in Afghanistan sei im Sinne der Terrorismusbekämpfung nicht notwendig.
 
Auch Günter Joetze warf die Frage auf, ob die als Kriegsziel deklarierte Bekämpfung von Al Qaida eine flächendeckende Besetzung und sechsjährige Bemühungen im Staatsaufbau erfordere und ob die von den Taliban ausgehende Bedrohung anwachse, wenn Afghanistan sich selbst überlassen würde. Darauf antwortete Kneip, dass die derzeitigen Operationen in Afghanistan kein Krieg sondern eine militärische Operation zum Wiederaufbau und Stabilisierung seien. Auf die Frage von Markus Ingenlath nach einer Exit-Strategie antwortete Kneip, dass eine Exit-Strategie durchaus sinnvoll sei, um Zeitgrenzen der NATO-Präsenz zu setzen.
 
Auf die Frage Ingenlaths nach der Wahrnehmung des sowjetischen Engagements in Afghanistan in der damaligen Sowjetunion antwortete Auschew, dass dies offiziell nicht als Krieg, sondern als Militärübungen deklariert wurde. Sagorskij fügte hinzu, dass die damalige Diskussion der heutigen Wahrnehmung des Tschetschenienkrieges ähnele. Der Einmarsch der Truppen konnte zunächst nur in privatem Rahmen kritisiert werden. Erst in Zeiten der Glasnost wurde es zum zentralen Thema, auch angesichts der wachsenden wirtschaftlichen Last und der ersten toten Soldaten. Sagorskij wies darauf hin, dass ohne klare Ziele beim Staatsaufbau keine Bewertung der Einzelschritte und kein systematischer Erfolg erzielt werden könne. Man solle insbesondere die Nachhaltigkeit der Hilfsprojekte berücksichtigen, damit Afghanistan auch nach Einstellung der Hilfe zur selbstständigen Existenz fähig ist.
 
 
 
Panel 4
Zentralasien und die deutsche EU-Präsidentschaft:
Schritt in ein geostrategisches Minenfeld?

 
Matthes Buhbe merkte als Moderator zur Eröffnung des Panels an, dass die Europäische Union Probleme habe, in Zentralasien eine glaubwürdige Politik zu verfolgen. Das Panel diene dazu zu diskutieren, inwieweit sich die im Rahmen der deutschen Ratspräsidentschaft angekündigte Zentralasienpartnerschaft von bisherigen Politikkonzepten unterscheide.
 
Gernot Erler nannte die Lösung der Verfassungsfrage und eine Reihe regionaler Projekte – die Neuverhandlung des auslaufenden EU-Russland Partnerschaftsabkommens, Nachbarschaftsprogramme für die Ukraine, Moldawien und Georgien sowie die Zentralasienpartnerschaft – als wesentliche Ziele der deutschen EU-Präsidentschaft. In Zentralasien sei die EU ein Latecomer. Es gehe darum, die Region in das Beziehungsgeflecht der EU einzuordnen. Die neue Konzeption befinde sich gegenwärtig noch in der Ausarbeitung, doch unterscheide sich die Zentralasienpolitik der EU grundsätzlich von der Einflusspolitik Russlands, Chinas, des Iran oder den USA in der Region. Dabei seien die Felder der Zusammenarbeit mit den fünf zentralasiatischen Staaten (Kasachstan, Usbekistan, Kirgisien, Tadschikistan und Turkmenistan) durch die Interessen der EU in der Region begründet.
 
Die Interessen der EU in Zentralasien seien, so Erler, dreifacher Natur. Zum einen gehe es um das Sicherheits- und Stabilitätsinteresse der EU. Dieses resultiere u.a. aus der Nachbarschaft zu Afghanistan, den damit verbundenen Problemen des Drogentransits sowie der Herausforderung durch Islamismus und Extremismus. Von Bedeutung seien ferner wirtschaftliche Interessen, die in Zentralasien primär im Energiebereich lägen. Schließlich sei die EU an einem Ausbau von Rechtsstaat und Demokratie interessiert. Aus diesen Interessen ergeben sich die Kooperationsfelder Sicherheit, Förderung der Demokratie, Umwelt, Wirtschaft und Energie, Kultur- und Bildungsaustausch sowie Intensivierung des politischen Dialogs.
 
Ein zentraler Aspekt der europäischen Strategie in Zentralasien sei – in Fortführung guter deutscher Traditionen – der partnerschaftliche Ansatz. Die EU wolle weder eine klassische Einflusspolitik noch ein Containment Russlands betreiben. Sie wolle die europäischen Erfahrungen kommunizieren und ihre Interessen transparent machen – auch gegenüber den anderen potenziell Interessierten wie den USA, Japan, China und Russland. Sowohl innerhalb der EU als auch in der Region sei die Resonanz bisher überwiegend positiv ausgefallen.
 
Bulat K. Sultanow leitete seinen Beitrag mit der Hoffnung ein, im geostrategischen Minenfeld Zentralasien werde eines Tages positive Früchte tragen, was heute gesät wird. Seine Ausführungen konzentrierten sich sodann auf die politische und wirtschaftliche Lage Kasachstans und dessen Position in Zentralasien, zu Russland und zur EU.
 
Kasachstan sei, so Sultanow, im Unterschied zu anderen Staaten der Region ein – multinationales und multikonfessionelles – eurasisches Land. Nach seiner geographischen Lage rechne es zu Mittelasien, während Zentralasien etwa auch Afghanistan und die Mongolei umfasse. Alle Staaten der Region befänden sich derzeit in einem schwierigen Transformationsprozess, der von den politischen Eliten fordere, ihre sowjetischen und postsowjetischen Denkmuster zu revidieren. Kasachstan sei trotz seiner Probleme eine „Insel der Stabilität“. Zur wirtschaftlichen Lage bemerkte Sultanow, dass eine Diversifizierung stattfinde, durch Nutzung der Öleinnahmen für die Modernisierung und Innovation der Wirtschaft. So würden für Bildung und Wissenschaft zwei Prozent des BIP aufgewandt, für die Verteidigung dagegen nur ein Prozent. Die Probleme der Korruption und der Drogenkriminalität blieben nach wie vor akut. Da sich jede Instabilität in Zentralasien durch Extremismus und Flüchtlingswellen auf Kasachstan unmittelbar auswirke, müsse das Land auch für die Sicherheit in der Nachbarschaft Sorge tragen, was z.B. durch Hilfsprojekte in Afghanistan, Tadschikistan und Kirgisien geschehe.
 
Priorität in der Außenpolitik hätten die Beziehungen zu den direkten Nachbarn. Kasachstan werde unabhängig von politischen Wendungen enge Kooperationsbeziehungen zu seinen Nachbarn Russland und China aufrechterhalten. Dies allein schon deshalb, weil vier Millionen Russen in Kasachstan und eine Million Kasachen in Russland leben. Aufgrund der Fragilität der zentralasiatischen Region sei hier jegliche Einflusspolitik und geostrategische Rivalität schädlich. Das Kernproblem in den russisch-kasachischen Beziehungen sieht Sultanow in einer Vermischung wirtschaftlicher und politischer Fragen, zumal auf russischer Seite. So verteidige Russland beim Erdöltransit seine Monopolstellung, was erhebliche Probleme aufwerfe, da die russischen Transportkapazitäten nicht ausreichten, um die geplanten Exportsteigerungen zu bewältigen. Auch lehne Russland beim Transit nach China eine Pipeline-Kooperation mit Kasachstan ab. Nach Ansicht Sultanows spiegelt dies die wachsende Bedeutung der Energiemonopole und insbesondere Gasproms in der russischen Außenpolitik und widerspreche den eigentlichen Interessen des Landes.
 
Kasachstan sei bereit, als Vorposten der Stabilität und Sicherheit für die Europäische Union zu wirken, wobei dies nur durch Zusammenarbeit gelingen könne. Die demokratische Entwicklung jedoch könne in einem „Porzellanladen“ wie Kasachstan nur langsam auf einem evolutionären Weg erfolgen, weil eine forcierte Demokratisierung schwerwiegende ethnische Konflikte verursachen würde.
 
Holger Haibach merkte in seiner Einführung an, dass alle Weltregionen in gewisser Weise geostrategische Minenfelder darstellten, so dass lediglich die Frage nach dem „wie“ und nicht nach dem „ob“ eines Engagements der EU in Zentralasien sinnvoll sei. Er benannte eine Reihe von Problemen, mit denen die EU-Zentralasienstrategie konfrontiert sei. Das erste Problem bestehe in den großen Unterschieden zwischen den zentralasiatischen Ländern, das zweite in den stark divergierenden Erwartungen der Partner. Die EU messe Demokratie und Menschenrechten hohe Bedeutung zu, während für die Staaten Zentralasiens die praktische Zusammenarbeit im Mittelpunkt stehe. Dies schaffe Schwierigkeiten beim Interessenausgleich. Das dritte Problem liege darin, dass die EU trotz ihres Verzichts auf Einflusspolitik handfeste Stabilitäts- und Energieinteressen in Zentralasien habe, was zu Interessenkonflikten mit anderen Staaten führen könne. Es stelle sich die Frage, so Haibach, ob die EU als Ganzes bereit und in der Lage sei, hinreichend Kraft aufzuwenden und genügend Masse zu mobilisieren, um auch als Latecomer eine nennenswerte Rolle in der Region zu spielen.
 
Abschließend warf Haibach die Frage auf, ob nicht der Rechtsstaat der geeignete gemeinsame Lösungsansatz sei. Er habe Zweifel, dass die Demokratie in der asiatischen Region die angemessene politische Ordnung darstelle. Die EU müsse bereit sein, alternative politische Ordnungsentwürfe zu akzeptieren. Da die Zusammenarbeit mit Zentralasien unverzichtbar sei, stelle die Zentralasienstrategie zweifelsfrei einen wichtigen Ausgangspunkt dar, so Haibach. Jedoch erfordere die Etablierung von Strukturen der Zusammenarbeit viel Zeit.
 
Manfred Sapper bezweifelte in der folgenden Diskussion, dass die Maßnahmen der EU ausreichend seien, um ihre Normen und Werte in der Region zu verankern, ähnlich wie dies im Nachbarschaftsprogramm vorgesehen sei. Er wies auf die Notwendigkeit konkreter Projekte im Interesse Zentralasiens hin, insbesondere in den Bereichen des Ressourcemanagements und der Stabilisierung der Region. Auch Andrej Sagorskij beklagte, dass Forderungen nach good governance ohne konkrete Angebote der EU zur Entwicklung der Region kaum zielführend seien. Good governance müsse in die Entwicklungskonzeption eingebaut werden. Darauf antwortete Erler, dass Ressourcenmanagement sehr wohl in die Strategie eingehe. Dies gelte etwa für eine regionale Verflechtung im Wassermanagement. Auch Sultanow ging auf diese Frage ein und identifizierte Infrastruktur, Innovation und Bildung als Bereiche, in denen Deutschland in Kasachstan eine starke Position einnehmen könne. Er warf Deutschland jedoch vor, die Region zu vernachlässigen.
 
Alexander Rahr warf die Frage auf, ob während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft mehr zur Eröffnung eines Dialogs mit dem neuen Turkmenistan getan werde und ob die Zentralasienstrategie nicht dazu genutzt werden könne, den Rechtsstatus des Kaspischen Meeres zu klären, um dort den Pipelinebau zu ermöglichen. Auf die erste Frage antwortete Erler, dass angesichts der Rivalität in der Region eine Sonderstellung einzelner Länder im Rahmen der EU-Strategie nicht vorstellbar sei. Die EU-Strategie solle nicht als Energiebeschaffungsstrategie erscheinen, weshalb auch die Frage des Rechtsstatus des Kaspischen Meeres gemieden wurde, so Erlers Antwort auf die zweite Frage. Sultanow ergänzte, dass der Rechtsstatus des Kaspischen Meeres nicht ohne Beteiligung Russlands und des Iran entschieden werden könne und der Unterwasser-Pipelinebau in der Region zudem auf große ökologische Bedenken stoße.
 
Wladimir Ryschkow meinte, dass die kasachischen Erfahrungen im Allgemeinen unterschätzt würden, trotz erfolgreicher Reformprojekte in der Landwirtschaft oder im kommunalen Bereich. Des Weiteren nahm er die Frage von Winfried Schneider-Deters aus dem zweiten Panel nach der von Gasprom geplanten Pipeline durch das Altaj-Gebirge auf und fragte nach der Einstellung Kasachstans zu diesem Projekt. Sergej Kuprijanow hatte dazu zu bedenken gegeben, dass der negative Einfluss der Pipeline auf die Landschaft des Altaj stark übertrieben werde und darüber hinaus nichts für eine Pipeline durch Kasachstan spreche. Sultanow wiederum erinnerte daran, dass die kasachische Regierung Russland angeboten habe, die Pipeline durch Kasachstan zu leiten, um schwerwiegende ökologische Probleme zu vermeiden und wies noch einmal auf den Widerspruch zwischen den Interessen Russlands und Gasproms hin.
 
Günter Joetze fand, dass die EU ihre Interessen in Zentralasien offen in die Strategie einführen sollte, auch die Fragen des Energietransports und der Energiesicherung. Dem pflichtete auch Sagorskij bei. Peter W. Schulze ergänzte, dass eine Ökonomisierung der Außenpolitik auf der Basis konkreter Interessen keineswegs von vornherein verwerflich sei, da sie Spielraum für eine Verständigung jenseits der Wertedifferenzen schaffe. Erler erläuterte, die Fragen des Energietransports seien mit der Strategie durchaus angesprochen, es würden jedoch keine Einzelprojekte erwähnt.
 
Intensiv diskutiert wurde darüber hinaus der mögliche Interessenkonflikt mit Russland. Sagorskij befand, dass die EU-Strategie im Widerspruch zur russischen stehe, denn in Zentralasien habe Russland seine größten Erfolge bei der Konservierung und Stabilisierung autoritärer Regime erzielt. Auch Konflikte mit Gasprom seien vorprogrammiert. Mit den Thesen Sultanows zu den Interessen Gasproms und Russlands waren sowohl Joetze als auch Ruslan S. Grinberg nicht einverstanden. Es sei heute unvorstellbar, dass Gasprom dem Kreml seine Interessen diktiere, wobei die Interessen des Kremls nicht zwingend mit den eigentlichen Interessen Russlands übereinstimmen müssten. Erler fügte hinzu, dass die offiziellen russischen Reaktionen auf die EU-Strategie in Zentralasien positiv ausgefallen seien, wobei allerdings die meisten russischen Politikberatungsinstitute diese Politik fälschlicherweise als Einflusspolitik eingestuft hätten und ihr deswegen kritisch gegenüberstanden.
 
Wladimir Lukin zeigte sich erstaunt über den Unterschied in den Diskussionen über Demokratie und Menschenrechte in Zentralasien und in Russland. Die Situation in Russland werde scharf kritisiert, während man in Zentralasien gar alternative Ordnungsentwürfe und einen Verzicht auf Demokratie erwäge. Dies erschien ihm als typisches Beispiel für Doppelstandards und führte ihn unter Verweis auf die Reden des amerikanischen Vizepräsidenten im Frühjahr 2006 in Vilnius und Astana zu der Frage, wann endlich die Demokratie entpolitisiert und nicht länger als geostrategisches Anhängsel missbraucht werde. Cornelius Ochmann fragte, ob die neue EU-Strategie zu einem Paradigmenwechsel geführt habe, so dass die EU sich bei der Beurteilung von Zwischenfällen wie in Andijan zurückhalte. Dem hielt Erler entgegen, dass zu den Ereignissen in Andijan intensive Gespräche mit der usbekischen Führung stattgefunden hätten. Die Möglichkeit eines solchen Dialogs sei positiv zu bewerten, auch wenn es dadurch nicht gelinge, alle Probleme zu lösen. Sultanow wiederholte als Reaktion auf die Diskussion seine These, dass der Aufbau der Demokratie in Zentralasien nur sehr langsam durchgeführt werden könne, während Ulrich Brandenburg ergänzte, dass es als Voraussetzung für wirtschaftliche Entwicklung vor allem auch auf Rechtsstaatlichkeit ankomme.
 
Ein weiteres Diskussionsthema war die multilaterale Zusammenarbeit in der Region. Auf Rahrs Frage nach der Rolle der Shanghaier Vertragsorganisation (SCO) bei der Stabilisierung der Region, insbesondere nach einem eventuellen Abzug der NATO-Truppen aus dem Irak und Afghanistan, antwortete Sultanow, dass diese primär zur Einbindung Chinas und zur Demarkation der Grenzen zu den Nachbarn entstanden sei. Ihre Aufgabe bestehe in der Bekämpfung des Fundamentalismus, des Terrorismus und des religiösen Separatismus. Angesichts der geostrategischen Ambivalenz der Organisation und um keine „künstlichen Probleme“ zu schaffen, solle sie nach Meinung Sultanows schrittweise zu einer Handels- und Wirtschaftsorganisation transformiert werden. Darüber hinaus regte er an, dass auch die EU einen Beobachterstatus bei der SCO einnehmen könnte. Schulze fand Sultanows Betrachtung zu reduziert. In der SCO beobachte man eine zunehmende Verdichtung, unterfüttert durch Verträge wie der Eurasischen Wirtschaftsgemeinschaft und dem kollektiven Verteidigungsrat. Durch die Wahrnehmung gemeinsamer Funktionen in Koordinationsgremien könne sich hier ein stark integrierter, durch Investitionen vernetzter Komplex entwickeln, der auch in der Sicherheits- und Außenpolitik eine wichtige Rolle spielen werde.
 
Heinz Timmermann fragte nach der Entwicklung des Projekts eines Euroasiatischen Wirtschaftsraums mit Russland. Per Fischer bezeichnete die Perspektive eines gemeinsamen zentralasiatischen Marktes als einen wichtigen investitionsfördernden Faktor. Interessant wäre es, ob dies im Rahmen Zentralasiens möglich sei. Sultanow antwortete, dass ein gemeinsamer Markt in Zentralasien die Etablierung supranationaler Organe erfordere, wozu die Regierungen nicht bereit seien. Deswegen setze Kasachstan auf die Zusammenarbeit mit Russland und Belarus im Rahmen einer Zollunion. Egbert Jahn fragte nach Gründen, warum Zentralasien, anders als bei der OSZE und beim früheren TACIS-Programm der EU, nicht in die Nachbarschaftspolitik einbezogen wurde und nannte drei Vermutungen: geringes ökonomisches Interesse der EU, Gefahr eines Interessenkonflikts mit Russland und der besondere Charakter der Region. Erler antwortete, dass hinter der Nachbarschaftspolitik keine geographische Logik stehe. Es habe auch keiner der zentralasiatischen Staaten sein Interesse an einer Beteiligung angemeldet.
 
In seinen Abschlussbemerkungen bekräftigte Haibach, dass man die werte- und die interessenbedingten Aspekte der Zentralasienstrategie kaum konfliktfrei miteinander in Einklang bringen könne. Das Streben der EU nach stabilen und demokratischen Verhältnissen und ihr Energieinteresse schüfen ein Spannungsfeld, doch könne die EU Zentralasien Expertise und Know How bei der Problemlösung anbieten. Sultanow rief abschließend dazu auf, nicht nach Gegnern und Widersprüchen, sondern nach Möglichkeiten der Zusammenarbeit zu suchen. Und Erler erinnerte daran, dass die USA mit Einflusspolitik in Zentralasien keinen Erfolg hatten. Der EU-Ansatz sei ein Experiment zur Reorganisation eines Raumes.


Am Freitag Abend fand im Rahmen der 10. Schlangenbader Gespräche zum Thema „Strategische Partnerschaft mit Russland?“ eine öffentliche Diskussionsveranstaltung statt, die in Kooperation mit dem Hessischen Rundfunk durchgeführt wurde. An ihr wirkten unter der Moderation von Andreas Horchler (HR Info) mit: Gernot Erler, Ruslan Grinberg, Andrej Sagorskij und Wolfram Schrettl.
 
Eröffnet wurde die Veranstaltung durch eine Ansprache des Hessischen Kultusministerin Karin Wolff, deren Wortlaut im Folgenden wiedergegeben ist.
  
Ansprache
Kultusministerin Karin Wolff

 
Russland ist Deutschland so nah wie kaum ein anderes Land. Kaum ein anderes europäisches Land hat ältere und engere Beziehungen zu Russland als Deutschland. Und wenn hoffentlich im kommenden Mai die Verhandlungen zwischen der Europäischen Union und Russland über ein neues Partnerschaftsabkommen beginnen, wird Deutschland eine treibende Kraft bei der Vertiefung der wirtschaftlichen und politischen Zusammenarbeit sein.
 
In den wechselvollen Phasen der gemeinsamen Geschichte gab es lange Zeiten des gegenseitigen Austauschs, der Zusammenarbeit und eine große Fülle an Begegnungen im kulturellen, wissenschaftlichen und philosophischen Bereich.
 
In Deutschland hat man aufmerksam verfolgt, welch schwierigen Weg Russland gerade in den letzten 15 Jahren zurückgelegt hat. In der unmittelbaren Zeit nach 1991, als Europa und die Nachfolgestaaten der ehemaligen UdSSR sich wieder stärker annäherten, wurden wichtige Grundsteine für die guten Beziehungen gelegt.
 
Politik und Gesellschaft in Russland mussten sich seit Beginn der 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts in Zeiten großer Umbrüche auf immer wieder neue und schwierige Aufgaben einstellen. Allen Beteiligten wurde viel Engagement und Mut zu Veränderungen abverlangt. Vor allem auch auf der kommunalen und regionalen Ebene wurden enge Verbindungen und Freundschaften zu Deutschland geknüpft.
 
Und so möchte ich, bevor das Expertengremium sich den Themen der Weltpolitik zuwendet, auch kurz auf die guten Beziehungen Hessens zur Russischen Föderation eingehen. Denn ohne eine stabile Basis auf der regionalen Ebene, ohne die Bemühungen der deutschen Länder und ihrer russischen Partner, und insbesondere ohne das bürgerschaftliche Engagement auf beiden Seiten ergäbe sich – vermutlich – ein anderes, weniger klares Bild der politischen Beziehungen.
 
Die Russische Föderation und das Land Hessen verbinden seit vielen Jahren gewachsene, zum großen Teil enge Beziehungen. Ein Blick zurück in die Geschichte belegt die Tradition der Verbundenheit: hierfür stehen berühmte Namen wie Fjodor M. Dostojewski oder Alexej von Jawlensky, die in Hessen wirkten, oder – um nur ein Beispiel zu nennen – Kulturdenkmäler wie die Russische Kirche in Wiesbaden, die im Andenken an die jung verstorbene russische Großfürstin und nassauische Herzogin Elisabeth errichtet wurde. Heute pflegen hessische Landkreise, Städte, Handwerks- und Handelskammern und nicht zuletzt hessische Vereine Kooperationen, Partnerschaften und Freundschaften mit Russland. Und alle hessischen Universitäten unterhalten Partnerschaften mit russischen Hochschulen.
 
Besonders stolz ist das Land Hessen auf die Regionalpartnerschaft mit der Oblast Jaroslawl, die 1991 als Weiterentwicklung der schon 1988 gegründeten Städtepartnerschaft des nordhessischen Kassel mit der gleichnamigen Stadt Jaroslawl offiziell besiegelt wurde. Diese Partnerschaft hat eine Vielzahl an Kooperationen und Aktivitäten in unterschiedlichen Bereichen hervorgebracht. Das Land Hessen errichtete 1992 in der Stadt Jaroslawl das Kooperationsbüro Hessen-Jaroslawl, in dem zwei feste Angestellte tätig sind.
 
Im Zuge der bestehenden guten Verbindungen Hessens zu Russland wurden sowohl mit der Region als auch der Stadt Moskau Gemeinsame Erklärungen über die Zusammenarbeit unterzeichnet. Wir arbeiten gemeinsam an der praktischen Umsetzung wirtschaftlicher und wissenschaftlich-technischer Kooperationen auf den Gebieten Wohnungsbau, Energie und Energieeffizienz, Wasserversorgung, Logistik, Verkehrsinfrastruktur und Gesundheit.
 
Die Hessische Landesregierung freut sich auf ein weiteres Ereignis, nämlich den Petersburger Dialog im Oktober 2007 zu seiner Jahrestagung in Wiesbaden begrüßen zu können. Mit dem Thema „Einheit Europas – deutsche und russische Beiträge“ und vielen kulturellen Begleitveranstaltungen wird dieses Jahrestreffen einen wichtigen Beitrag zum Dialog der Zivilgesellschaften in Russland und Deutschland leisten. Dass Wiesbaden ein guter Gastgeber für den Petersburger Dialog ist, hat sich schon bei der Sitzung des deutsch-russischen Lenkungsausschusses unter Vorsitz von Michail Gorbatschow und Lothar de Maizière im Juni letzen Jahres gezeigt. Mit der Jahrestagung des Petersburger Dialogs und den sich anschließenden deutsch-russischen Regierungskonsultationen werden Wiesbaden und Hessen zur Plattform eines intensiven deutsch-russischen Austauschs.
 
Die Hessische Landesregierung freut sich außerordentlich, dass die Schlangenbader Gespräche nun im zehnten Jahr ihren wichtigen Beitrag als repräsentatives und vertrauensbildendes Forum des sicherheitspolitischen Dialogs leisten.
 
Sie haben sich in Ihren Expertengesprächen mit den Überlegungen zu einer „neuen Entspannungspolitik“, der russischen Außenwirtschaftspolitik und der Lage in Afghanistan befasst. Morgen wird Zentralasien Ihr Thema sein. Ich hoffe, dass Sie bei diesen Erörterungen zu Ergebnissen gelangt sind, die Sie in Ihren Ministerien, Unternehmen und Wissenschaftseinrichtungen in Russland und Deutschland werden einfließen lassen können.
 
Denn allen politisch Handelnden in Moskau, Berlin und Bonn, aber auch in den deutschen Ländern ist sehr bewusst, dass ein Austausch der politischen, wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und militärischen Eliten unserer beiden Länder, wie hier in Schlangenbad, von hoher Bedeutung für das gegenseitige Kennen, das Vertrauen und das Verstehen ist.
 
Die sicherheitspolitischen Beziehungen zwischen der Europäischen Union und der NATO und Russland spielen dabei eine entscheidende Rolle für Sicherheit und Stabilität, für Integration und Wohlstand in Europa und der Welt.
 
Russland ist ein herausgehobener Partner von Europäischer Union und NATO – nicht nur wegen seiner Größe und seines Potentials, sondern auch wegen seiner Geschichte. Gerade wir Deutschen wissen darum. Russland ist G-8-Mitglied, Nuklearmacht und ständiges Mitglied im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. Es steht als Mitglied des Europarates und der OSZE auch in europäischer Verantwortung. Als Energielieferant spielt Russland eine wichtige wirtschaftliche Rolle.
 
Zwischen der NATO und Russland besteht seit der Verabschiedung der NATO-Russland-Grundakte im Jahr 1997 eine herausgehobene Beziehung. 2002 wurde der NATO-Russland-Rat in seiner jetzigen Form ins Leben gerufen. Die 26 NATO-Staaten und Russland arbeiten seitdem politisch und praktisch-operativ gut zusammen. Ein gutes Beispiel für diese Zusammenarbeit ist die Beteiligung Russlands mit einem Verband am NATO-Einsatz im Kosovo von 1999 bis 2003. Russland und die NATO arbeiten auch beim Kampf gegen den internationalen Terrorismus eng zusammen.
 
Die Hessische Landesregierung unterstützt daher den Kurs der Bundesregierung, die politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen zwischen der Europäischen Union und der NATO und Russland zu verbessern. Wenn die in Hessen stattfindenden Schlangenbader Gespräche einen kleinen Teil dazu beitragen könnten, dann sind wir damit sehr zufrieden.
 
Ich wünsche mir, dass die russischen Teilnehmer der Schlangenbader Gespräche die Gewissheit bekommen, dass wir Russland jetzt und in Zukunft als engen und strategischen Partner ansehen. Die Bundeskanzlerin hat diese strategische Partnerschaft immer wieder betont. Wir brauchen Russland und Russland braucht uns.
 
Denn gerade die sicherheitspolitischen Herausforderungen sind uns allen bekannt: Internationaler Terrorismus, Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen, innerstaatliche und regionale Konflikte, Destabilisierung und Zerfall von Staaten. Angesichts dieses Spektrums von aktuellen und künftigen Gefahren ist eine Partnerschaft zwischen EU, NATO und Russland unverzichtbar.
 
Die Bundesrepublik Deutschland hat ein besonderes Interesse an einem stabilen Russland, an einer Modernisierung Russlands und an Demokratie in Russland. Die Anfänge der Demokratie in Russland stehen in engem Zusammenhang mit der Wiedervereinigung Deutschlands. Ohne Glasnost und Perestrojka wäre die Berliner Mauer nicht gefallen. Diese Ereignisse sind jetzt fast zwanzig Jahre her, sind jedoch konstitutiv für die guten deutsch-russischen Beziehungen in der Zeit seit dem Ende des Kalten Krieges. Und – meine Damen und Herren – der Kalte Krieg ist beendet.
 
Die enge politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Zusammenarbeit ist ein wichtiges Instrument, um das beiderseitige Verstehen zu fördern, aber auch die Entwicklung in Russland hinzu mehr Freiheit, Demokratie und Wohlstand voranzubringen. Wir wollen eine starke Demokratie in Russland, die auch die Stärke zu Toleranz und Meinungs- und Versammlungsfreiheit hat.
 
Die Hessische Landesregierung wünscht Russland, dem russischen Volk und der Demokratie in Russland bei den bald anstehenden wichtigen politischen Entscheidungen – den Parlamentswahlen im November 2007 und den Präsidentschaftswahlen im März 2008 – viel Erfolg. Ich bin gespannt, welchen Weg dieses große und wichtige Land einschlagen wird, wie die Demokratie weiter wächst, wer die entscheidenden Positionen in Moskau besetzen wird und wie sich die Beziehungen zwischen Deutschland und Russland, der EU und NATO und Russland weiter entwickeln werden. Vielleicht hören wir ja schon heute Abend dazu Einschätzungen.

 

Protokoll: Daria Orlowa