deutsch | русский

Protokoll 2006



Das gesamte Protokoll hier als PDF-Download


Vier Themen standen im Mittelpunkt des 9. Schlangenbader Gesprächs: der Regierungswechsel in Deutschland und seine Auswirkungen auf das deutsch-russische Verhältnis, das Problem des Staatszerfalls als humanitäre und sicherheitspolitische Herausforderung für die internationale Staatengemeinschaft, die Energiebeziehungen zwischen Europa und Russland, und schließlich die Rolle Polens in den deutsch-russischen Beziehungen. Details finden sich im anhängenden Programm.
 
Den Auftakt bildete im Jahre 2006 ein Abendvortrag der ehemaligen Bundesjustizministerin Herta Däubler-Gmelin, die sich vor allem mit der Entwicklung der Zivilgesellschaft in Russland auseinandersetzte. Diese werde in Deutschland kritisch gesehen und beschäftige vor allem jene Menschen, die selbst engere Beziehungen mit Russland unterhielten. Anlass zur Sorge gebe es nicht nur wegen der Medienberichterstattung in Deutschland, vielmehr auch auf Grund von Diskussionen mit russischen Kollegen in der Parlamentarischen Versammlung des Europarats und persönlichen Erfahrungen. Gleichwohl sei auch Erfreuliches zu verzeichnen. So berichtete Däubler-Gmelin von einem Studentenaustausch zwischen Sibirien, Polen und Deutschland, der den Kontakt und Erfahrungsaustausch zwischen jungen Menschen fördere. Dabei sei ein wiederkehrendes Problem, dass die Finanzierung solcher Programme nicht durch die öffentliche Hand, sondern durch private Unternehmen gesichert werden müsse. Sie stellte vor allem eine vergleichbare Ausdrucksweise bei den teilnehmenden Jugendlichen fest, die jedoch darüber hinwegtäusche, dass sich dahinter häufig ganz unterschiedliche Bedeutungen und Zukunftsvorstellungen verbergen. Es gelte, die unterschiedlichen Denkweisen und Erfahrungen zu überwinden, wofür die Schaffung persönlicher Kontakte unabdingbar sei.
 
Mit Blick auf das Rahmenthema des 9. Schlangenbader Gesprächs brachte sie Verständnis zum Ausdruck, dass Russland ein erhebliches Interesse an der Kontinuität der deutschen Russlandpolitik auch unter der neuen Bundesregierung habe; auch wenn dies nach dem Regierungswechsel im Jahr 1998 nicht klar gewesen sei. Sie erwarte jedoch, dass es auch jetzt einen stetigen Ausbau der guten Zusammenarbeit geben werde, und das nicht nur wegen des sozialdemokratischen Teils der Großen Koalition. Auch die Kanzlerin strebe keine Änderungen in der Substanz der Politik gegenüber Russland an. Dies sei beim deutsch-russischen Regierungstreffen in Tomsk deutlich geworden.
 
In der anschließenden Diskussion stellte Sergej A. Markow, fest, dass es selbst beim Jugendaustausch zwischen Russland und der Ukraine die von Däubler-Gmelin beobachteten Unterschiede in den Wahrnehmungen und Diskursen gebe. Auf seine Frage, worin diese Unterschiede begründet seien, verwies Däubler-Gmelin auf unterschiedliche Erfahrungen und Traditionen. So würden beispielsweise Jugendliche aus Deutschland, Polen und Russland bei der Frage nach der Übertragung nationaler Souveränität auf supranationale Organisationen ganz unterschiedlich denken, wie sie am Beispiel des Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg verdeutlichte. Deutsche Jugendliche empfänden es als normal, dass die deutsche Regierung von dieser Instanz kritisiert werden könne. Souveräntitätsabgabe werde hier nicht als Verlust sondern als Zugewinn am „Institut Menschenrecht“ gesehen. Aus Sicht der russischen Jugendlichen werde eine Kritik aus Straßburg dagegen zumeist als Angriff auf die nationale Ehre interpretiert, während die polnischen Jugendlichen eher unentschieden seien.
 
Peter W. Schulze wies darauf hin, dass Jugend- und Studentenaustausch gar nicht so sehr an der mangelnden finanziellen Unterstützung durch staatliche oder private Geldgeber litten, sondern vielmehr an rechtlichen Bestimmungen. Er plädierte dafür, die Bedingungen für die Freizügigkeit der Studierenden zu verbessern, z.B. durch Vereinfachung der Visa-Bestimmungen.
 
 
Panel 1:
Große Koalition – kleiner Wandel? Die neue deutsche Russlandpolitik

 
Zur Eröffnung der Tagung machte Hans-Joachim Spanger darauf aufmerksam, dass es im Programm des 9. Schlangenbader Gesprächs eine Akzentverschiebung gegeben habe. Während bislang der Blick nahezu ausschließlich auf Russland gerichtet gewesen sei, wolle man sich nun gründlicher mit Deutschland beschäftigen, um der asymmetrischen Kommunikation und Perzeption, Russland sei immer Stein des Anstoßes, entgegenzuwirken. Der frühere Schwerpunkt sei natürlich auch den tiefer greifenden Veränderungen in Russland geschuldet gewesen, gleichwohl habe Deutschland ein zu großes Eigengewicht, als dass dessen Politik gegenüber Russland alleine von Ereignissen in Russland abhänge. Spanger stellte fest, dass insofern eine auffallende Kontinuität in den deutsch-russischen Beziehungen bestehe, als es bei jedem Regierungswechsel eine anfängliche Distanzierung gegeben habe – durch Rückbesinnung auf zentrale Parameter deutscher Außenpolitik wie die Westintegration sowie den demokratischen Wertekonsens. Ein Rückblick auf die letzten Jahre zeige jedoch die Relevanz Russlands; so sei zum Beispiel die deutsche Einheit nur in Kooperation mit der Sowjetunion möglich gewesen, und heute sei Russland – zusammen mit China – der dynamischste Wirtschaftspartner Deutschlands.
 
Rolf Mützenich verwies in seinen einführenden Bemerkungen auf die Koalitionsvereinbarung, die die Leitlinie für die Politik der Bundesregierung darstelle und sowohl von Kontinuität als auch von Veränderungen zeuge. Kontinuität bedeute dabei nicht, unbeweglich zu verharren. Vielmehr seien Reaktionen auf Veränderungen nötig. Politik werde unter bestimmten  Rahmenbedingungen betrieben, von denen sich Politiker – ungeachtet ihrer Parteizugehörigkeit – nicht frei machen können. Dazu zählten das Ende des Ost-West-Konflikts, die erweiterte Europäische Union, die Folgen der Globalisierung, Fragmentierung und Verwerfungen in den internationalen Beziehungen, Interessen an der Rohstoffversorgung und schließlich Grundwerte, die in Parteiprogrammen und der öffentlichen Meinung einer Gesellschaft zum Ausdruck kommen. Außerdem sei das außenpolitische Handeln an zahlreiche internationale Verträge gebunden.
 
Beide Koalitionspartner hätten ein besonderes Interesse an der Entwicklung in Russland. Ein wichtiges Ziel sei es, in immer mehr Ländern Strukturen vorzufinden, die konstitutiv sind für ein friedliches Miteinander. Dazu zählten das staatliche Gewaltmonopol und Rechtsstaatlichkeit zum Schutz des Individuums vor staatlicher Willkür sowie demokratische Partizipation der Bevölkerung, was nicht nur Parteien, sondern auch NGOs, Medien und eine kritische Öffentlichkeit einschließe Diese Kriterien sollten im eigenen Interesse eines jeden Landes sein, ebenso wie eine effiziente Ökonomie und soziale Gerechtigkeit. Es sei konstitutiv, sowohl nach innen als auch nach außen friedlich zu arbeiten. Eine langfristige Strategie sei die konstruktive Konfliktbearbeitung, die nicht nur dem Interessensausgleich zwischen den Staaten dienen, sondern auch nach innen wirken solle. Gespräche und ein kritischer Austausch müssen zugelassen werden. Es gelte, nicht nur die Institutionen sondern auch die Menschen zueinander zu bringen.
Abschließend hob Mützenich hervor, dass die wirtschaftlichen Beziehungen als Brücke und als tragender Pfeiler der deutsch-russischen Beziehungen dienen. Sie sollten durch Direktinvestitionen gestärkt werden. Im Bereich der Sicherheitspolitik bestehe Kooperationsbedarf in Bezug auf den Iran und Palästina. Der modifizierte KSE-Vertrag sollte endlich in Kraft treten. Zur demokratischen Entwicklung gelte es, NGOs in Russland zu stärken und auch dafür zu sorgen, dass Organisationen wie die Konrad-Adenauer-Stiftung oder die Friedrich-Ebert-Stiftung in Russland unbehelligt arbeiten können. 2007 gelte es, ein neues Partnerschafts- und Kooperationsabkommen zwischen der EU und Russland zu erarbeiten.
 
Erich G. Fritz betonte, dass die Kontinuität stärker sei als Mützenich sie dargestellt habe, denn sie mache die Berechenbarkeit und Wirksamkeit deutscher Außenpolitik aus. Das deutsche Interesse an einer stabilen sozialen, demokratischen und ökonomischen Entwicklung in Russland habe sich durch den Regierungswechsel nicht verändert. Fritz stellte fest, dass sich reiche Länder schwerer tun mit Veränderungen. Das gelte für Deutschland wie aktuell für Russland, wo hohe Einnahmen aus den Rohstoffverkäufen notwendige Reformen verhinderten bzw. verzögerten. Eine partnerschaftliche Diskussion sei notwendig und Deutschland könne seine eigenen Schwierigkeiten exemplarisch in den Dialog einbringen. Man habe ein Interesse an intensiver Kooperation, weil man daraus Vorteile für die Wirtschafts- und Sicherheitspolitik ziehe. Europäische Sicherheit könne nur mit Russland erreicht werden. Darüber hinaus sei es wichtig, sich um eine sichere Energieversorgung und wirtschaftliche Kooperation zu kümmern. Russland sei ein wichtiger Absatzmarkt für Deutschland und bei der Energiesicherheit ein zuverlässiger Partner; gleichwohl sei eine Diversifizierung der Lieferbeziehungen notwendig. Der WTO-Beitritt Russlands wäre ein weiterer wichtiger Pfeiler für stabile Beziehungen. Das bedeute aber auch Veränderungen und „Zumutungen“ für Russland. Ein weiterer wichtiger Aspekt sei die gemeinsame Bekämpfung des Terrorismus und der grenzüberschreitenden Kriminalität.
 
Beide Staaten trügen globale Verantwortung für die Nichtverbreitung von Massenvernichtungswaffen. Russland habe dafür gesorgt, dass die Verhandlungen mit dem Iran nicht schon früher in einer Sackgasse landeten. In Bezug auf Palästina sei die Position der EU, die auf das Existenzrecht Israels verweise, verständlich. In diesem Fall sei es aber gut, in Russland einen beweglichen Partner zu haben. Die Kombination von Verlässlichkeit und verteilten Rollen sei positiv zu werten. Im Verhältnis Russlands und der EU sei zu berücksichtigen, dass die EU nicht nur eine Interessens- sondern auch eine Wertegemeinschaft darstelle. Zum Partnerschafts- und Kooperationsabkommen erwarte er, dass es eine Zwischenlösung geben werde, da vor dem Auslaufen des geltenden Abkommens kaum ein neues abzuschließen und Russland mit einer reinen Verlängerung nicht zufrieden sei. Auch im NATO-Russland-Rat seien Verbesserungen notwendig. Schließlich gelte es, das Verhältnis zu Ländern wie der Ukraine zu klären.
 
Wjatscheslaw A. Nikonow wies in seinen einführenden Bemerkungen darauf hin, dass Persönlichkeiten in der Geschichte eine besondere Rolle spielten. Jedoch seien die deutsch-russischen Beziehungen davon nicht abhängig, da sie entsprechend institutionalisiert seien. Das Verhältnis zu Polen gefährde die deutsch-russischen Beziehungen nicht. Auch das Thema der russischen Demokratie und der Achtung der Menschenrechte sei nicht schädlich für die deutsch-russischen Beziehungen. Das Treffen von Tomsk zwischen Präsident Putin und Kanzlerin Merkel Anfang 2006 habe gezeigt, dass der Dialog sich zufrieden stellend entwickele, von einer Krise in den Beziehungen zwischen Russland und der EU könne keine Rede sein. Die wirtschaftlichen Beziehungen seien gut, Siemens, Volkswagen und DamlerChrysler tätigen beispielsweise Investitionen, der gemeinsame Außenhandel könne aber noch gesteigert werden. Als Beispiel nannte er die ausgeprägte Zusammenarbeit Russlands mit China.
 
Die öffentliche Meinung in Russland gegenüber Deutschland sei ausgesprochen positiv. Umfragen zeigten, dass Deutschland als befreundeter Partner gesehen werde, nur ein Prozent der Bevölkerung nehme Deutschland als Bedrohung wahr. Anti-deutsche Haltungen gebe es nur in Reaktion auf russische Übersetzungen deutscher Zeitungsartikel über Russland. Oliver Wieck merkte dazu in der Diskussion an, dass im Unterschied dazu in der deutschen Öffentlichkeit ein eher negatives Russlandbild vorherrsche.
 
Gasprom, so Nikonow, erweise sich als zuverlässiger Partner. Im „Gaskrieg“ mit der Ukraine habe Gasprom in rechtlicher und wirtschaftlicher Hinsicht Recht gehabt, sei aber ungeschickt vorgegangen. Gerade die Ukraine, die im Gegensatz zu Russland die Energiecharta ratifiziert hat, habe viele Vereinbarungen gebrochen. Europa habe die Situation jedoch anders interpretiert, und zwar als Ausnutzung ukrainischer Abhängigkeit. Es handele sich also um eine Auseinandersetzung, bei der sich jede Seite im Recht sehe. Die Reaktion Europas, die Abhängigkeit von russischen Gaslieferungen verringern zu wollen, musste Reaktionen der russischen Seite hervorrufen. Wenn es an der Überzeugung fehle, dass die Partner an den von ihnen übernommenen Verpflichtungen festhalten werden, so sei es für Gasprom wichtig, nach anderen Absatzmärkten, wie zum Beispiel in China, zu suchen.
 
Nikonow sieht Probleme für die Beziehungen nicht in jenen Bereichen, die in den vorhergehenden Vorträgen genannt wurden, d.h. weder im Iran noch im Nahen Osten. Viel ernster sei die Lage in Weißrussland. Hier sei Russland daran interessiert, das Problem alleine zu lösen – ohne Einmischung der EU –, damit nicht ein neuer Machthaber vom Typ Juschtschenko die Führung übernehme. Auch sehe Russland den Kosovo als einen Präzedenzfall für die Lösung „eingefrorener“ Konflikte. Im Falle einer Unabhängigkeit des Kosovo werde sich die Frage Ossetiens und Abchasiens verschärfen. Außerdem stelle die mögliche Mitgliedschaft der Ukraine in der NATO ein Problem dar. Die russische Reaktion werde heftig sein und könne zu einer Krise in den Beziehungen führen.
 
Wladimir Ryschkow betonte die Besonderheit der deutsch-russischen Beziehungen. Sie seien sowohl unter Gerhard Schröder als auch unter Helmut Kohl und Helmut Schmidt außergewöhnlich gewesen. Dies habe nicht nur an den Personen gelegen, sondern an grundlegenderen Faktoren und Interessen. Zu den Möglichkeiten und Grenzen einer strategischen Partnerschaft verwies er auf die unterschiedlichen qualitativen Ebenen. Russland und Deutschland seien keine Verbündeten, das setze engere Verbindungen voraus wie z.B. eine Mitgliedschaft Russlands in der EU. Auf der nächst niedrigeren Stufe verortete er ein Assoziationsabkommen. Das Partnerschafts- und Kooperationsabkommen mit der EU laufe Ende 2007 aus. Bislang gebe es leider nur den Wunsch, mit einer Verlängerung die vier Freiheiten zwischen Russland und der EU auszubauen, reale Fortschritte dagegen kaum. Schließlich könne es sich um eine bloße Partnerschaft bzw. Kooperation handeln. Man kooperiere in den Bereichen, wo dies möglich ist, und vermeide andere. Hier zeigten sich die Grenzen der Beziehungen: Die Aufnahme der Ukraine und Georgiens in die NATO könne die Beziehungen Russlands auch mit Deutschland beeinträchtigen. Dies habe mit dem militärisch-industriellen Komplex der Ukraine, der Schwarzmeerflotte und den Radarfrühwarnsystemen auf ukrainischem Territorium zu tun. Beide Fragen tangierten lebenswichtige Interessen Russlands. Ähnlich verhalte es sich wegen der russischen Präsenz in Abchasien und Südossetien bei Georgien. Der WTO-Beitritt Russlands zeige ebenfalls Grenzen der Partnerschaft auf. So stellten die USA immer neue Forderungen, und die Bestimmungen des Jackson-Vanick-Amendments gelten immer noch.
 
Zu den Energiefragen verwies Ryschkow darauf, dass über die Energiecharta auch in Schlangenbad schon häufig diskutiert wurde. Dabei gebe es trotz erfolgreicher Kooperation prinzipielle Unterschiede in der Wahrnehmung und den Interessen. Bei den ausländischen Direktinvestitionen und dem Handel zwischen Deutschland und Russland stelle sich das Problem des Marktzugangs in Russland. Hier entscheide die Regierung häufig noch in sowjetischer Manier über Einzelfälle. Gleichwohl seien die ausländischen Firmen insgesamt in einer sichereren Position als die russischen. Innerhalb der GUS erweise sich Weißrussland als besonders brisanter Streitpunkt zwischen der EU und Russland. Jedoch ändere sich die russische Haltung gegenüber Weißrussland. Dies sei beispielsweise am Verhalten Gasproms zu sehen, das nun auch dort die Preise an das europäische Niveau anpassen wolle. Leider verstärkten sich innerhalb Russlands die autoritären Tendenzen, was sich in der Einschränkung der Medien und der Tätigkeit von NGOs sowie der Stärkung des staatlichen Sektors zeige. Dies zähle zu den Hindernissen, die einer Entfaltung der großen Potenziale in den deutsch-russischen Beziehungen entgegenstehen.
 
Die nachfolgende Diskussion widmete sich nicht allein den bilateralen Beziehungen, sondern thematisierte ein breit gespanntes Spektrum an Fragen, insbesondere auch die Position Russlands gegenüber der EU und der NATO sowie die wechselseitige Abhängigkeit bei den Energieträgern. Ewald Böhlke fragte nach den kurz-, mittel- und langfristigen Zielen der deutschen Außenpolitik gegenüber Russland. Gunther Hellmann machte auf die Akzentverschiebungen der deutschen Außenpolitik in den Beziehungen zu den USA und in der EU aufmerksam, woraus sich Rückwirkungen auf die deutsche Russlandpolitik ergeben hätten. Und Oliver Wieck interessierte sich für Antworten der russischen Seite auf die Konflikte in Georgien, im Kosovo und in der Ukraine. Von den deutschen Politikern wollte er wissen, wie das Partnerschaftsabkommen zwischen der EU und Russland weiter entwickelt werden solle.
 
In diesem Zusammenhang wies Klaus Wittmann darauf hin, dass der Fall der Ukraine keine NATO-Expansion bedeute. Vielmehr handele es sich um eine Erweiterung im Rahmen der Politik der Offenen Tür. Russland müsse sich fragen, warum Polen, Ungarn oder die baltischen Staaten in die NATO drängten, und was die Attraktivität der NATO ausmache. Dem hielt Peter W. Schulze entgegen, dass kein Interesse an einer Destabilisierung der „Grauzone“ bestehen könne, und dass durch einen schnellen NATO-Beitritt der Ukraine das Konfliktpotenzial eher noch verschärft werde. Nikonow machte darauf aufmerksam, dass zumindest in der Ukraine der NATO-Beitritt nicht auf öffentliche Zustimmung treffe. Und Ryschkow empfahl, schnelle und scharfe Schritte zu vermeiden. Die Mitgliedschaft der Ukraine und Georgiens in der NATO sei mit dem Scheiden von Präsident Bush aus dem Amt verbunden. Hinsichtlich der Verhandlungen zwischen Russland und der EU betonte er, dass das Partnerschafts- und Kooperationsabkommen völlig veraltet sei und tiefer Veränderungen bedürfe. Es gehe um bestimmte Formen der Assoziierung, nicht um eine Mitgliedschaft. Wichtig sei eine bessere Umsetzung und Bestimmung der vier gemeinsamen Räume.
 
Sergej Markow machte darauf aufmerksam, dass nach seinem Eindruck die relevanten Bedrohungen nicht aus den Beziehungen zwischen Deutschland und Russland stammen. Diese würden eher zur Geisel äußerer Konflikte. So sei die Mitgliedschaft der Ukraine in der NATO eine amerikanische Idee und reduziere den Spielraum einer EU-Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Markow zeigte einige Aspekte auf, die für die Fortsetzung der russisch-deutschen Zusammenarbeit wichtig seien: 1) die Weiterentwicklung der vier Räume; 2) die Gesetzgebung in Lettland und Estland und die rechtliche Situation der russischen Bürger; 3) die strategische ökonomische Partnerschaft und die Bildung eines gemeinsamen Wirtschaftsraums; 4) die Aufnahme Russlands in die WTO nach allgemein gültigen Bedingungen; 5) die Unterstützung der positiven Entwicklung der Beziehungen zwischen Russland und seinen Nachbarn, zum Beispiel zwischen Russland und der Ukraine; 6) die Öffnung des Marktes für Hochtechnologien, wie zum Beispiel der atomaren Produktion.
 
Dazu stellte Heinz Timmermann fest, wie sehr sich auf beiden Seiten die Situation seit 1991 verändert habe. Damals galt die EU als potenziell supranationales Gebilde und Russland bewegte sich Richtung Westen. Heute gleiche die EU eher einer Konföderation und Russland trage post-imperiale Züge. Sodann wandte Timmermann sich Weißrussland zu, das in den deutsch-russischen Beziehungen ein erhebliches Problem darstelle. In Deutschland sei das Interesse an den Wahlen in Weißrussland sehr groß gewesen. Die Wahlen seien durch die europäischen Beobachtermissionen einerseits und die GUS-Missionen andererseits unterschiedlich eingeschätzt worden. Die Stabilität in Weißrussland sei eine geliehene, die von Russland gestützt werde. Der steigende Außenhandel mit der EU sei nur möglich durch den Aufkauf billigen russischen Öls und den Weiterverkauf von Erdölprodukten im Westen.
 
Ernst-Jörg von Studnitz bezog sich auf Nikonows Äußerungen zu den eingefrorenen Konflikten und betonte, dass politische Probleme entstünden, wenn man den Kosovo als Präzedenzfall nehme und die Unterschiede zu Transnistrien, Abchasien und Nagorni Karabach nicht beachte. Beim Kosovo handele es sich um ein Scheitern des Staates Jugoslawien, was in den anderen Fällen ganz anders gelagert sei. Dem hielt Nikonow entgegen, dass er zwischen dem Kosovo und den Konflikten in den post-sowjetischen Staaten eher Gemeinsamkeiten als Unterschiede sehe.
 
Hannes Adomeit stellte fest, dass die russische Außenpolitik in einem neuen Klima des Bewusstseins der Stärke stattfinde. Dies zeige sich auch beim Atomstreit mit dem Iran. Wie sei, so fragte er, die Lieferung von Luftabwehrraketen zu bewerten, bestehe hier nicht ein Widerspruch zu der von der internationalen Gemeinschaft verfolgten Linie? Dazu merkte Nikonow an, dass eine Absage dieser Lieferungen zum Verlust vorteilhafter Verträge führen könne, was nicht im Interesse Russlands sei. 
 
Michail G. Deljagin verwies darauf, dass die russisch-deutschen Beziehungen sowie die Beziehungen zwischen Russland und der EU nicht auf Verträge begrenzt seien. Es bestehe eine gegenseitige Abhängigkeit, die auf einem breiteren System informeller „Pakte“ zwischen Russland und dem Westen basiere. In Russland vollziehe sich eine „Verstaatlichung“ und ein Teil der Politik Russlands bestehe darin, auf einige Fragen in der Politik einfach nicht zu reagieren. Der Westen habe für sein Schweigen Zugriff auf das russische Territorium erhalten, und nun stiegen die Auslandsinvestitionen. Deljagin wies darauf hin, dass Russland in hohem Maße von den Einnahmen aus den Energieexporten abhängig sei. Außerdem seien die Importe aus den EU-Staaten hoch, während umgekehrt russische Investitionen in der EU gering seien. Wolfram Schrettl widersprach ihm. Russische Auslandsinvestitionen überstiegen die Auslandsinvestitionen in Russland bei weitem, besonders wenn man auch die nicht registrierten Investitionen berücksichtige.
 
Wilhelm Hankel griff die Gedanken Ryschkows auf und stellte fest, dass die Wirtschaftssysteme Deutschlands und Russlands auseinanderdriften. Deutschland sei ein Land der großen Manager, während in Russland erprobte Staatspolitiker relevant seien. Im Westen gebe es im Zuge der Globalisierung und der europäischen Integration eine Aufgabe der Regelungskompetenz des Staates. In Russland dagegen finde eine Re-Etatisierung statt. Es sei positiv zu sehen, dass der russische Staat seine Regelungskompetenz nicht aufgebe, denn eine laissez-faire Politik hält Hankel für problematisch. Schulze stellte in diesem Zusammenhang eine Asymmetrie fest, wonach der russische Staat an Handlungsfähigkeit gewinne, während die Gestaltungskompetenz der EU abnehme. Die Hoffnung, dass die EU hier gestaltend einwirken könne, habe sich zerschlagen.
 
Auf die Frage von Manfred Sapper, was sich aus russischer Sicht angesichts des Autoritarismus in der deutschen und europäischen Politik ändern müsse, machte Aleksandr A. Scharawin deutlich, dass die westlichen Kritiker Russlands nicht vergessen sollten, dass Russland ein neuer Staat sei, der sich auf dem Weg zur Demokratie befinde. 15 Jahre seien dafür eine kurze Zeitspanne. Der russische Staat habe seinen bisherigen demokratischen Aufbau selbst geleistet, wobei es natürlich Defizite bei der Umsetzung gebe. Ryschkow merkte dazu an, dass die Demokratisierung nicht Aufgabe des Westens sein könne, sondern jene des russischen Volkes und der russischen politischen Klasse sei. Die Aufgabe der EU und auch Deutschlands solle es vielmehr sein, die russische Zivilgesellschaft zu unterstützen. Dabei komme den deutschen politischen Stiftungen eine wichtige Rolle zu. Zudem solle der Jugendaustausch gefördert werden. Ein Export der Demokratie sei nicht möglich. Ryschkow hob das Verhalten von Bundeskanzlerin Merkel positiv hervor, die sich bei ihrem Moskau-Besuch mit oppositionellen Kräften und NGOs getroffen und eine offene Diskussion zu den Themen Menschenrechte und Tschetschenien geführt habe. Dies sei ein wichtiges Zeichen, dass sich die Partner Deutschlands nicht nur im Kreml befinden.
 
 
Panel 2:
Responsibility to Protect?
Staatszerfall als geostrategisches und humanitäres Problem

 
In diesem Panel gab es zwei allgemeine Einführungen sowie eine Vertiefung der Problematik am Beispiel des Kaukasus. Hans-Joachim Spanger gab einen Überblick über die internationale akademische und politische Diskussion zum Phänomen des Staatszerfalls. Der verbreitete englische Begriff state failure werde im Deutschen sowohl mit Staatsversagen als auch Staatszerfall übersetzt. Es handele sich dabei seit dem 11. September 2001 um eine sicherheitspolitische Herausforderung globalen Maßstabs. Bis dahin sei das Thema im Norden eine rein akademische Beschäftigung gewesen, obwohl es für die Menschen im Süden schon zuvor eine „alltägliche Plage“ darstellte. Angesichts der globalen Bedeutung sei state failure zu einem Schlüsselthema aller internationaler Organisationen geworden. Bei der EU habe es neben Terrorismus, Massenvernichtungswaffen und internationaler Kriminalität Eingang in die europäische Sicherheitsstrategie gefunden. Die OECD und die Weltbank haben Programme für die nach ihrer Nomenklatur „difficult partnerships“ oder auch „poor performers“ aufgelegt, für die im Frühjahr 2005 die Pariser Prinzipien des Engagements in failed states beschlossen und Pilotprojekte in „low income countries under stress“ eingeleitet wurden, um sich dem Problem der begrenzten Absorptionskapazität dieser Staaten anzunehmen. In einer ganzen Reihe von Staaten seien darüber hinaus neue Instrumente der Krisenprävention und Konfliktbewältigung in einem operativ integrierten Ansatz („joined-up government“) erarbeitet worden. Und im Dezember 2005 sei im gleichen Sinne eine Peace Building Commission der UN geschaffen worden.
 
Das klassische Beispiel – und im strikten Sinne der einzige Fall – eines failed state sei Somalia. Daneben gebe es ein breites Spektrum unterschiedlicher Kompositionen von Staatsschwäche, von denen weite Teile Afrikas, zum Teil auch der Kaukasus, wie etwa Georgien, betroffen waren oder sind. Früher sei in diesem Zusammenhang auch Russland erwähnt worden. Bei der Definition ließen sich zwei Ansätze unterscheiden. Der klassische enge Begriff gehe vom Staatsbegriff Max Webers aus und beschränke sich auf die Existenz eines legitimen Gewaltmonopols. Das zweite Verständnis, das die OECD favorisiere, messe Staaten umfassender an ihren Leistungen. Danach seien failed states weder willens noch fähig, zentrale Sicherheits- und Wohlfahrtsfunktionen zu erfüllen und verfügten über eine nur begrenzte demokratische Legitimation. Daraus folgten unterschiedliche Diagnosen und Therapien, doch müssten sich beide Ansätze grundsätzlich mit der Frage auseinandersetzen, wie aus Staatsschwäche Staatszerfall entsteht und wie darauf zu reagieren ist (early warning und early action). Hier sei eine Unterscheidung zwischen (grundlegenden) Strukturproblemen und (auslösenden) Prozessfaktoren hilfreich. Im ersten Fall gehe es um die Inkompatibilität der staatlichen Form und ihrer gesellschaftlichen Grundlage. Da in weiten Teilen der ehemals Dritten Welt die gesellschaftlichen Beziehungen auf personaler Loyalität basierten, denen ein rationaler, okzidentaler Staat übergestülpt worden sei, sei es zu Brechungen gekommen. Die Universalisierung des europäischen Staatsmodells führte so zum Neo-Patrimonialismus und zur Nutzung des Staates als „Beute“, stelle er doch vielfach die einzige Einkommensquelle dar. Diese grundlegenden Probleme verschärften sich, als mit dem Ende des Kalten Krieges der extern begründete Klientelismus des Nordens beendet und zugleich mit den Strukturanpassungsprogrammen und der Betonung von Good Governance „Entstaatlichung“ propagiert wurde. Russland spiele bei all diesen Aktivitäten bislang keine erkennbare Rolle – ganz anders als zu Zeiten der Sowjetunion. Da aber Russland in seiner Nachbarschaft von dem Problem direkt betroffen sei, bestehe Kooperationsbedarf.
 
Sergej A. Karaganow konzentrierte sich in seiner Einführung auf die praktische Dimension des Problems. Er unterschied zwischen failed states und failing states. Im Jahr 1945 hatten die UN nur 50 Mitglieder. Im Zuge der Dekolonisierung der 1950er und 1960er Jahre kam es mit Unterstützung der USA und der Sowjetunion zu neuen Staatsgründungen, wodurch eine ganze Reihe von Pseudo-Staaten entstand, die niemals vollwertige Staaten werden könnten und die durch Stagnation oder Zerfall gekennzeichnet seien. Da 50 bis 60 Prozent der UN-Mitgliedsstaaten selbst vom Staatszerfall geplagt seien, könne diese kein wirksames Werkzeug bei der Lösung des Problems sein. In den letzten 30 Jahren habe es vielfältige Rezepte für die Entwicklung solcher Staaten gegeben, von ökonomischer und humanitärer Hilfe bis zur Unterstützung für die Bildung. Die Wirkung war überwiegend gering auf Grund von Korruption und Verschwendung durch lokale Eliten, und es entstanden interne und externe Abhängigkeiten. Eine Erklärung dafür seien Kultur und Religion (aktuell insbesondere – anders als im Mittelalter – der Islam), die sich nicht mit einem modernen Staatsverständnis vertrügen. Das derzeitige Hauptproblem seien die Länder des weiteren Nahen Ostens, die sich bis auf wenige Ausnahmen – wie den Iran – alle als failed states fassen lassen. Der Iran habe dagegen eine jahrhundertealte Kultur und Staatlichkeit geerbt und sei kolonialen Einflüssen kaum unterworfen gewesen. Die Folgen des Staatszerfalls seien sehr ernst und im Falle Afrikas ein humanitäres und ökologisches Problem. Im Nahen Osten komme eine verstärkte Mobilisierung der Massen und die Radikalisierung des Islam hinzu, der sich in eine totalitäre Religion verwandele. In diesen Staaten sei das so genannte „Weimarer Syndrom“ zu beobachten, unter dem vor zehn Jahren auch Russland gelitten habe.
 
Die Situation im Nahen Osten verschlechtere sich zusehends. Es komme zu einer verstärkten Bedrohung durch Terrorismus, zu religiösen Kriegen und zur Weiterverbreitung von Nuklearwaffen. Für Russland ist dieses Problem besonders drängend, da Russland direkte Grenzen mit Transkaukasien und Mittelasien hat. Die Demokratisierung dieser Region beschleunige den Zerfall. So hatte Kirgistan zum Beispiel ein „weiches“ autoritäres Regime, doch seien in Folge einer kriminellen Revolution Drogenbarone an die Macht gekommen, und die Durchdringung der südlichen Territorien des Landes durch islamische Elemente habe zugenommen.
 
Welchen Ausweg zwischen der Hilfe und dem Aufzwingen einer Ordnung auf militärischem Weg gibt es? Letztere Methode habe kaum Aussicht auf Erfolg, wie die Länder des ehemaligen Jugoslawien, Afghanistan und der Irak zeigten. Die USA hätten einen schwerwiegenden Fehler begangen, als sie versuchten, Demokratie zu oktroyieren. Sobald die USA ihre Armee aus dem Irak zurückziehen, könne die Situation wegen der militant islamischen Kräfte eskalieren und das Land zerfallen. Demokratisierung auf militärischem Wege sei nicht realistisch; diese erfordere vielmehr sowohl ökonomische als auch politische und kulturelle Entwicklungsschritte.
 
Notwendig sei eine gemeinsame Strategie, die zurzeit nicht bestehe. Dabei sei zu berücksichtigen, dass Russland sich nicht für die Interessen anderer einspannen lassen wolle. Neben einem Dialog mit dem Islam sei es nötig, allen Ländern des Nahen Ostens eine von dritter Seite garantierte Sicherheit anzubieten. Zudem müsse man die Herausbildung der Eliten unterstützen und radikale Bewegungen eindämmen, notfalls auch mit militärischen Mitteln. Nur die Schaffung einer gemeinsamen Strategie könne den Staatszerfall aufhalten und dessen internationale Folgen verhindern.
 
Aleksandr S. Dsasochow vertiefte das Thema am Beispiel der aktuellen Konflikte im Kaukasus, die seit dem Zerfall der Sowjetunion die Region prägten. Der Kaukasus verdiene aufgrund der vielfältigen Konfliktsituationen und der Schärfe der sozialen Frage zweifelsohne die Aufmerksamkeit der internationalen Gemeinschaft. Zwar stützten sich die süd-kaukasischen Politiker auf die Hilfe des Westens; doch je weniger Einfluss Russland habe, desto größer seien die Möglichkeiten der Diskriminierung von Minderheiten. Russland zweifele daran, dass unter dem Deckmantel demokratischer Bewegungen und mit dem Eintritt dieser Länder in die NATO die gewünschten Erfolge erreicht werden.
 
Russland erwarte von Europa Verständnis für die russischen nationalen Interessen im Kaukasus und dafür, dass Russland sich nicht zurückziehen könne, da die ethnopolitische Lage im Nord- und Südkaukasus stark verflochten sei. Ein gemeinsames Vorgehen sei notwendig. Ein Ansatz dafür könnte ein Stabilitätspakt für den Kaukasus sein, wie er in der EU und in Deutschland diskutiert wurde. Die wesentlichen Positionen für ein gemeinsames Vorgehen hätten ihren Niederschlag in der Erklärung über den Kampf gegen den Terrorismus gefunden, die Bundeskanzler Schröder und Präsident Putin im September 2004 nach dem Massaker von Beslan abgegeben haben. Schließlich erwarte Russland die Aufgabe von Doppelstandards. Der Wiederaufbau Tschetscheniens diene der regionalen Stabilität. Doch genüge es nicht, sich auf das tschetschenische Territorium zu beschränken. Vielmehr müsse man auch auf den angrenzenden Gebieten arbeiten, auch wenn der Einsatz dort mit Risiken verbunden sei. Deutschland habe in Armenien und Aserbaidschan Projekterfahrung auf ökologischem Gebiet gesammelt. Russland könnte ein wichtiges Glied in der Verwirklichung solcher Projekte werden. Das setze allerdings voraus, Russland nicht umgehen zu wollen, wie dies zu Beginn der 1990er Jahre, als sich das Land in einem Zustand der Auflösung befand, mit Ölpipelines und Infrastrukturprojekten eingeleitet wurde. Dies sei weder für die Menschen im Südkaukasus noch für Europa sinnvoll.
 
Karsten D. Voigt betonte in der anschließenden Diskussion zum Demokratiepostulat, die USA glaubten, dass die Demokratie dem Menschen inhärent sei und deshalb gar nicht aufgezwungen werden könne. Dies entspreche jedoch nicht der deutschen und der russischen Erfahrung. Er plädierte für eine Diskussionsebene, bei der Demokratisierung mit den jeweils gegebenen Bedingungen verbunden werde. Dies sei vor allem bei den islamischen Staaten bislang nicht gegeben. Stattdessen habe man lediglich bekannte Muster übertragen und aneinander vorbei geredet. So sei bei der Religion das Verhältnis zwischen Recht, Staat und Religion einerseits sowie zwischen Religion und Individuum andererseits zu beachten. Ebenso sei das Verhältnis von Staat, Demokratie und internationaler Ordnung relevant. Nach dem Westfälischen Frieden wurde der Staat zum zentralen Ordnungsprinzip, jedoch sei die westfälische Ordnung in einer globalisierten Welt nicht länger aufrecht zu erhalten. Es stelle sich die Frage, ob man zum Beispiel in Afrika auf Basis des klassischen Staatsverständnisses Ordnung schaffen könne oder ob nicht andere Prinzipien angewandt werden müssten.
 
Im Unterschied zu Voigt plädierte Ernst-Jörg von Studnitz dafür, die Bedeutung des Staates nicht zu unterschätzen. Ausschlaggebend sei ein einheitliches Gewaltmonopol auf dem Staatsterritorium als stabilisierender Faktor. Es sei entscheidend, Verantwortungsträger zu fördern, die staatliche Pflichten – Frieden nach innen und außen – erfüllen. Er stimmte zu, dass das Demokratiemodell diese Funktion nicht in der ganzen Welt erfüllen könne. Für den internationalen Frieden bzw. die internationale Ordnung sei es wichtiger, eine legitime Ordnung zu haben. In Zeiten der Globalisierung sei es nicht möglich, eine Art Limes zu ziehen, und die Probleme jenseits dieser Grenze zu ignorieren. Die internationale Gemeinschaft brauche eine Ordnung. Dies erfordere, das Prinzip der Nichteinmischung nicht länger als heilige Kuh zu betrachten, da dies von verschiedenen Regimen missbraucht werde. Vielmehr sei ein Interventionsrecht nötig.
 
Klaus Wittmann stimmte zu, dass sich das Völkerrecht entwickeln müsse. Jedoch seien die Ergebnisse der meisten Interventionen problematisch. Bei Staatsversagen spielten neben den von Spanger genannten strukturellen Faktoren auch AIDS und sozioökonomische Faktoren eine Rolle. Schließlich sei es wichtig, die Privatisierung der Gewalt zu beachten und die Rolle westlicher Unternehmen bei der Ausbeutung von Rohstoffen in den Blick zu nehmen.
 
Wolfram Schrettl stellte fest, dass es eine ganze Reihe von „failed therapies for failed states“ gegeben habe. Er sprach sich gegen das von Studnitz geforderte Interventionsrecht aus. Zudem sei Staatszerfall nicht in jedem Fall negativ, zumal dann, wenn auseinanderfalle, was nicht zusammengehöre. Wenn ein Staat als Kompromiss aller nicht gelinge, dann sei eine „ordentliche Scheidung“ vorzuziehen.
 
Michail Deljagin griff das kulturalistische Argument auf, dem er im Unterschied zu den politischen und wirtschaftlichen Faktoren wenig Erklärungskraft beimaß. Er vertrat die These, dass gerade die Expansion westlicher Länder, die die moderne Weltordnung hervorbrachte, neue und weniger entwickelte Staaten zerstörte und deren Entwicklung verhinderte. Die Ausdehnung des Weltmarktes führe zur Zerstörung schwacher Ökonomien. Demokratische Institutionen in wenig entwickelten Gesellschaften führten zur Katastrophe, d.h. zu Fundamentalismus und zu Diktaturen. Der Westen erkenne nur jene Formen und Normen an, die in den entwickelten Industrieländern existieren. Das betreffe auch Russland, das verpflichtet werden solle, den europäischen Standards zu folgen, ohne eine Mitgliedschaft in der EU in Aussicht zu stellen.
 
Gert Weisskirchen forderte dazu auf, selbstkritischer mit den eigenen Erwartungen umzugehen. Staatlichkeit sei ein Konstrukt zur Ordnung menschlichen Handelns. Aber selbst wenn es nur ein Hilfskonstrukt sei, so müsse man dies nutzen, wenn es keine bessere Lösung gebe. Wichtig seien regionale Ordnungen, die es den Menschen erlauben, sich und ihre eigenen Bedürfnisse zu verwirklichen und einen regionalen Ausgleich zu schaffen. Gerade in Bezug auf Tschetschenien sei dies relevant. Wenn ein Nationalstaat nicht ausreiche, um den Konflikt zu lösen, warum solle man es dann nicht mit einem regionalen Ansatz versuchen?
 
Pawel S. Solotarjow erläuterte, dass der Totalitarismus Russland bei der Vermeidung des Staatszerfalls geholfen habe. Der Übergang vom Totalitarismus zur Demokratie sei dagegen nicht gelungen. Die Kommunistische Partei habe zwar ihre Macht verloren, doch sei es der „Kampfabteilung“ des KGB gelungen, ihre Macht zu bewahren, finanziell wie durch ihre Kaderpolitik. Im Ergebnis gelangte Putin an die Macht. Der Autoritarismus, so Solotarjow, helfe zwar, Staatszerfall zu vermeiden, sei aber eine Sackgasse, denn ohne Demokratie sei die Entwicklung des Staates unmöglich. Selbstverständlich lasse sich Demokratie nicht importieren, aber die westlichen Länder könnten den Prozess unterstützen. Im Falle der ehemaligen Sowjetrepubliken müsse man die Einführung der Demokratie behutsamer angehen, manchmal zeige die vorübergehende Unterstützung autoritärer Regime positivere Ergebnisse.
 
Ewald Böhlke warf einen Blick auf den arabischen Raum, dessen Gesellschaften extrem heterogen seien. Auch hier seien viele Reformversuche auf den Weg gebracht worden. Wichtig sei es, innere Reformkräfte zur Kenntnis zu nehmen. Dietrich Sperling bemerkte, dass sich Religion dem bewussten Veränderungswillen von Reformern entziehe. Failed states seien – auch im Südkaukasus – das Ergebnis von Kolonisierungs- und Entkolonisierungsprozessen. In diesem Zusammenhang unterschied Dsasochow zwischen der Herausbildung des britischen und französischen Kolonialismus auf der einen Seite und des russischen Imperiums auf der anderen Seite. Vor allem die Industrialisierung in der Peripherie, die in der Sowjetunion vorangetrieben wurde, stelle einen wichtigen Unterschied dar.
 
Sergej Markow hob hervor, dass Demokratie nicht nur prozedurale Eigenschaften habe, sondern auch an ihren Ergebnissen gemessen werden müsse, d.h. hinsichtlich der Befriedigung von Bedürfnissen. Es sei möglich, failed states Hilfe zu leisten. Als Beispiel führte er Tadschikistan an, wo Russland militärische und politische Verantwortung übernommen habe. Als Ergebnis wurde die Staatlichkeit wiederhergestellt, obwohl Drogenbarone aus Afghanistan den Druck verstärkten. In Afghanistan und Tadschikistan sei – im Gegensatz zu Tschetschenien – eine internationale Kooperation nötig. Es gelte, die Grenzen zu sichern und dem Rauschgifthandel Einhalt zu gebieten. Auch in Kirgistan, wo es keine funktionierende Zentralregierung gebe, sei Russland nicht bereit, alleine vorzugehen. Eine Zusammenarbeit mit der EU könne in dieser Region positive Ergebnisse bringen. In diesem Zusammenhang fragte Thorsten Keller nach der aktuellen Situation in Tschetschenien und Dagestan, worauf Karaganow antwortete, dass das Problem Tschetscheniens entschieden sei. Es gebe keine separatistischen Bestrebungen mehr und die Frage über den Austritts Tschetscheniens aus der Russischen Föderation stelle sich nicht mehr.
 
Andrej Sagorskij unterstützte die Position von Markow. Die Entwicklung der Demokratie sei ohne Verantwortung der Verwaltung im Sinne des Konzepts von Good Governance nicht möglich. Es gebe aber auch positive Beispiele. Der demokratische Machtwechsel im Senegal bestätige, dass selbst in Afrika demokratische Umgestaltungen möglich sind. Der Fall Tadschikistan, so Sagorskij, sei nicht als Erfolg zu werten, das Potenzial Tadschikistans, ein failed state zu werden, sei nach wie vor sehr groß.
 
Wilhelm Hankel warb dafür, einen Blick auf die eigene deutsche Geschichte zu werfen. Sie lehre den Unterschied zwischen Rechtsstaat und Demokratie, wobei ersterer wichtiger sei. Zudem sei eine Säkularisierung notwendig. Schließlich zeige das Bild vom Limes, dass man jene Probleme nicht anpacken sollte, die man nicht lösen könne. Dem pflichtete Karaganow insofern bei, als die Vorstellung, Demokratie könne Korruption überwinden, nur anekdotischen Charakter habe. Vielmehr zeigten die Beispiele Singapur und Malaysia mit ihren diktatorischen Regierungssystemen einen sehr geringen Grad an Korruption.
 
Spanger merkte an, dass der Ursprung der Staaten der Krieg – im Zusammenhang mit der Auflösung der feudalen Ordnung – gewesen sei. Wenn diese Interpretation stimme, so seien failed states eine nachholende Entwicklung der Staatsbildung. Auf der anderen Seite finde heute aber keine Absorption schwacher Staaten durch starke Staaten statt, wie sie den europäischen Staatsbildungsprozess charakterisierte, da dies die internationale Ordnung nicht erlaube. Eine entwicklungspolitische Zusammenarbeit sei mit failed states kaum möglich. Zudem habe bei der Weltbank und anderen internationalen Organisationen ein Paradigmenwechsel stattgefunden hinsichtlich des Demokratiepostulats. Während Demokratie früher das Ziel der Zusammenarbeit gewesen sei, werde sie heute als Voraussetzung gesehen.
 
 
Panel 3:
Die Politik der europäischen Energie- und Kommunikationsnetze

 
Die Auseinandersetzungen um den Bau der Ostseepipeline sowie die russisch-ukrainische Gaskrise des letzten Winters unterstrichen die Aktualität des diesjährigen Wirtschaftsthemas, in das aus der Perspektive sowohl der Wissenschaft als auch der Unternehmen eingeführt wurde. Wladimir S. Milow benutzte die Diskussion um Bilateralismus und Multilateralismus als Folie und konstatierte, dass es ein großer Fehler sei, die Energiebeziehungen mit Deutschland ohne Berücksichtigung des europäischen Gesamtmarktes zu betrachten. Zudem sei es eine gefährliche Illusion zu glauben, alles sei gut und werde auch weiter so bleiben. Das System erleide Infarkte, wie die Krise mit der Ukraine und die russischen Versorgungsprobleme im Februar 2006 deutlich gezeigt hätten. Diese seien die Folge von Entscheidungen, die zu Beginn der 1990er Jahre getroffen wurden: der Gründung von Gasprom. Damals sei man der Auffassung gewesen, dass nur ein großes, staatliches Unternehmen die anstehenden Aufgaben erfüllen könne. In diesem Winter habe sich Russland einem fatalen Gasmangel genähert, als die Nachfrage am größten war. Dabei haben sowohl Russland als auch die EU und die Transitländer Ukraine und Weißrussland gelitten. Unter diesen Bedingungen sei es nicht angebracht, von erfolgreichen Beziehungen zu sprechen.
 
Zwischenzeitlich haben deutsche Unternehmen sich den Zugang zu Ressourcen in Russland gesichert – mit dem Ziel, ihre Position auf dem europäischen Markt zu bewahren – und besondere Absprachen mit Gasprom getroffen, die eher Probleme bringen und auch jederzeit geändert werden können. Aus Kostengründen wäre es besser, allgemeine Regeln für den Marktzugang zu schaffen.
 
Die Gas-Pipeline durch die Ostsee sei nicht nur ein deutsch-russisches Projekt, sondern stelle auch den besten Weg zum britischen Abnehmermarkt dar, der sehr attraktiv ist. Die kostengünstigere Alternative – die Jamal-Pipeline – sei unrealistisch, da Gasprom sich mit Polen nicht einigen könne. Die Unzufriedenheit anderer europäischer Länder werde für den Augenblick ignoriert, aber es sei fraglich, ob dies langfristig möglich ist. Zum Abschluss bekräftigte Milow noch einmal, dass es angesichts der äußerst ungleichen Verteilung der Energievorräte notwendig sei, auf diesem Gebiet internationale Rechtsverhältnisse zu schaffen.
 
Roland Götz betonte einleitend, dass die deutsch-russischen Beziehungen im Kontext der europäisch-russischen Beziehungen gesehen werden müssten. Europa sei nach den USA der größte Verbraucher von Energie. Wegen der sinkenden Eigenproduktion wachse der Importbedarf. Es stelle sich daher die Frage, welche Rohstoffe in welchem Umfang künftig gebraucht werden. Öl werde zunehmend durch Gas ersetzt, so dass der Ölbedarf nicht steigen werde. Zugleich finde bei Öl eine Produzentendiversifizierung statt, der Nahe Osten verliere an Bedeutung. Dies entschärfe das Abhängigkeitsproblem. Bei Gas sei die Situation anders. Es handele sich um ein regional gehandeltes Gut. Nur Flüssiggas, dessen Anteil vermutlich von 10 auf 30 Prozent steigen werde, werde weltweit gehandelt. Gesamteuropa decke seinen Importbedarf bei Gas zu zwei Dritteln aus Russland, das verbleibende Drittel komme aus Algerien.
 
In Bezug auf die Energiesicherheit konnte Götz im Unterschied zu Milow mit Blick auf Russland keine nennenswerten Probleme erkennen: Die Pipelines seien aus geologischer Sicht und auch in Anbetracht von Terror-Gefahren sicher. Russland sei sich seiner Abhängigkeit von den Abnehmern sehr bewusst, auch weil Alternativen fehlten. Tatsächlich handele es sich um eine gegenseitige Abhängigkeit. Ein Erpressungspotenzial bestehe nur gegenüber kleinen Staaten, nicht gegenüber großen, auch nicht gegenüber der Ukraine, durch die immerhin 80 Prozent der Durchleitungen nach Westeuropa laufen. Eine Umorientierung auf den chinesischen Absatzmarkt sei auf Grund des hohen Investitionsbedarfs und der geringen Rentabilität auf absehbare Zeit nicht möglich. Außerdem würde so eine Abhängigkeit von China entstehen. Langfristig werde vielleicht ein Drittel des russischen Gases nach Osten und zwei Drittel nach Westen geliefert werden. China werde sein Gas vor allem aus Zentralasien importieren, Kasachstan und Aserbaidschan ihre Ölproduktion steigern, Turkmenistan und Kasachstan ihre Gasproduktion, aber das habe nur geringe Bedeutung für Europa.
 
Götz stimmte Milow zu, dass die Energiecharta keine Chance habe. Wenn Putin nicht ein Machtwort spreche, werde die Charta nicht ratifiziert. Europa müsse an einer Steigerung der Energieeffizienz interessiert sein, auch in Russland. Russland verbrauche zwei Drittel des geförderten Gases selbst, und wenn es dabei bleibt, müssten die Exportmöglichkeiten deutlich sinken.
 
Reiner Hartmann betonte, dass es im Gasgeschäft viel Unruhe gebe, obwohl es seit mehr als 33 Jahren sehr stabil sei. Die Diskussion sei durch Brüsseler Beschlüsse zum Teil hausgemacht. Aufgrund des Wettbewerbsrechts ist Gas frei handelbar. Gewiss sei die Liefersicherheit wichtig, aber auch die Produzenten bräuchten Sicherheit über die Abnahme.
 
Zum Gaskonflikt mit der Ukraine gab er zu bedenken, dass Gasprom über Monate mit der ukrainischen Regierung verhandelt habe. Die ukrainische Seite verzögerte die Verhandlungen und wollte jährliche Absprachen. Am 31. Dezember habe es keinen Vertrag gegeben, so dass jede Lieferung Schmuggel gewesen wäre. Die Ukraine pokerte hoch; es ging nicht nur um den Preis. Gasprom wiederum verhielt sich so ungeschickt, dass jetzt das Thema der Liefersicherheit im Westen wieder auf der Tagesordnung sei.
 
Künftig werde es zu Bereitstellungsproblemen kommen, denn der Bedarf im Inland werde in Russland unterschätzt, steige aber stark an. Wenn die EU betont, dass weitere Importe wegen der Notwendigkeit der Diversifizierung nicht nötig seien, dann sei es normal, dass Russland neue Absatzmärkte suche. Weder die EU noch Deutschland hätten eine kohärente Energiepolitik. Neue Modelle der Zusammenarbeit müssen gesucht werden. Gasprom dringe in EU-Märkte ein und nutze die Möglichkeiten, die die Liberalisierung biete. Dabei sei Gasprom am Tausch von assets interessiert, d.h. Beteiligungen für EU-Firmen an up-stream-Projekten in Russland im Tausch gegen eine Beteiligung von Gasprom am Verkauf von Gas an Endverbraucher, was am gewinnbringendsten sei.
 
In der nachfolgenden Diskussion betonte Jürgen Möpert, dass sich die Erfahrungen von Wintershall nicht mit den Problemen deckten, die Milow angesprochen hatte. Vielmehr verfolge man ein anderes Konzept der Kooperation, die im Markt beginne. Diese beinhalte eine gemeinsame Vermarktung in Deutschland zusammen mit Gasprom. Vor drei Jahren habe man das erste Joint Venture in der Produktion und Förderung geschlossen. Gasprom strebe jetzt eine Parität bei Wingas an (aktuell besitzt Gasprom 35 Prozent). Man habe sich daher auf die Gründung von Wingas Europa geeinigt mit paritätischer Beteiligung. Das ist keine bilaterale deutsch-russische Angelegenheit, sondern es gehe um den europäischen Markt. Der Vorteil: Wenn Gasprom mit im Boot sei, beteilige sich das Unternehmen auch am Risiko. Der Ursprung der Ostsee-Pipeline sei auf das Jahr 2000 zu datieren, als sich Putin und der Präsident der EU-Kommission, Romano Prodi, darauf verständigten, die Gaslieferungen nach Europa zu verdoppeln. In der Beurteilung der Krise in der Ukraine schloss er sich Hartmann an. Sie habe u.a. ins Bewusstsein gerufen, wie wichtig es sei, Gasspeicher in Großbritannien und in Österreich zu errichten, um bei zukünftigen Problemen Sicherheit zu bieten.

Hannes Adomeit zweifelte an, dass Gasprom sich wirklich so redlich um die Liefersicherheit bemühe. Ginge es nicht vielmehr um die Kontrolle und den Besitz des ukrainischen Transportnetzes, d.h. um Ukrtransneftegas? In Weißrussland wurde die Gaslieferung abgedreht und erst dann wieder angeschaltet, als die Kontrolle über Beltransgas in Aussicht gestellt wurde. Wolfram Schrettl stellte fest, dass es widersprüchliche Informationen gebe. Alle sagten, es handele sich nur um Aufgeregtheiten. Doch selbst wenn Gasprom ein sicherer Lieferant sei, verlange allein die Tatsache, dass zwei Drittel der Gasimporte aus Russland kommen und die Exporte aus Russland sinken werden, das Risiko zu diversifizieren. Also sei die Frage nicht, wie sicher Russland ist, sondern wo die Alternativen liegen. Da diese auch nicht attraktiv seien, müsse man möglichst viele suchen. Michail Deljagin verwies auf den starken Einfluss, den die Politik auf die Geschäftspolitik von Gasprom nehme. Gasprom sei ein großes, solides Unternehmen, das aber enorme Probleme habe, da es als staatliches Unternehmen politisch instrumentalisiert werde.

Im Mittelpunkt der Diskussion standen darüber hinaus die von Milow skizzierten Probleme des russischen Binnenmarktes sowie die Perspektiven der bi- oder multilateralen wechselseitigen Verflechtung. Manfred Sapper fragte, wie man die Energieeffizienz in Russland verbessern könne unter der Bedingung, dass die politische Elite von der Energieproduktion profitiert und im Selbstbild die Energieverschwendung angelegt ist? Auch Oliver Wieck beklagte, dass Energieeinsparungen in Russland nicht zu sehen seien. Die Preise sind immer noch sehr niedrig. Ergänzend fragte er Hartmann, ob E.ON und Ruhrgas bereit seien, Gasprom stärker in den Endverbrauchermarkt zu integrieren. Alexander Rahr wies darauf hin, dass Energie ein strategisches Gut sei. Er fragte, ob andere Firmen Wintershall folgen werden oder ob Deutschland hier ein Einzelfall bleibe. Axel Lebahn wollte von den deutschen Unternehmen wissen, ob die Kontinuität in den Lieferbeziehungen abnehme. Er wies darauf hin, dass sie zu sowjetischen Zeiten sicher waren. Russland jedoch habe bereits zweimal abgeschaltet.

Hartmann betonte, dass die Pipelines in der Ukraine bei den Verhandlungen über die Ostseepipeline keine Rolle gespielt hätten. Vielmehr wurde das bilateral mit Russland geregelt, nachdem zuvor das Konsortium zwischen Deutschland, Russland und der Ukraine gescheitert war. Ruhrgas verfolge ein anderes Modell als Wintershall. Man beteilige sich direkt an Gasprom (bislang 6 Prozent Kapitalbeteiligung), nicht aber umgekehrt, und auch die Verhandlungen zur angebotenen Beteiligung am Versorgungsnetz in Ungarn im Austausch für die Beteiligung von E.ON am Gasfeld Juschnoje Russkoje seien noch nicht abgeschlossen. Energieeffizienz habe einen hohen Stellenwert. Das Energiesparpotenzial sei in Russland sehr hoch, was am ehesten über eine Rückführung der Subventionen bei den inländischen Gaspreisen mobilisiert werden könne. Zur Diskussion über die Diversifizierung der Transitwege gibt er zu bedenken, dass die Krise mit der Ukraine der erste Fall gewesen sei, dass ein Transitland Probleme bereitet habe.
 
Götz wies darauf hin, dass auch Afrika als Exporteur für Öl und Gas wichtiger werde. Die Preise werden einerseits zur Einsparung führen, aber auch Atomkraft und Kohle wieder attraktiv machen. Hier seien politische Entscheidungen nötig. Milow bekräftigte abschließend, dass sich im nächsten Winter die Probleme des Vorjahres wiederholen werden. Sie hätten systemischen Charakter. In den nächsten 15 Jahren werde es Gasmangel geben. Die Probleme in Russland seien ernster, als es auf den ersten Blick erscheine. Aus rein ökonomischer Sicht sei eine Diversifizierung der Energiebezüge für Westeuropa nicht sinnvoll. Doch müsse Russland verlässlicher werden, wenn es seine Stellung verteidigen wolle.
 
 
Panel 4:
Achse versus Weimarer Dreieck:
Polen in den deutsch-russischen Beziehungen

 
Bei den Schlangenbader Gesprächen der vergangenen Jahre wurde von russischer Seite immer wieder die Befürchtung gehegt, die Erweiterung der EU, vor allem um Polen, werde die Außenpolitik der EU gegenüber Russland negativ beeinflussen. Tatsächlich gibt es aus russischer Sicht dafür eine ganze Reihe von Indizien, so etwa die Vermittlungsaktivitäten des polnischen Präsidenten während der Orangen Revolution in der Ukraine, was in Moskau erhebliches Unbehagen weckte. Ähnliches gilt für den Widerstand gegen die Ostseepipeline. Zugespitzt wurde diese Wahrnehmung durch die Ergebnisse der Parlaments- und Präsidentschaftswahlen in Polen, die eine Regierung und einen Präsidenten an die Macht brachten, die ihre außenpolitische Identität vor allem aus der Abgrenzung von Russland und Deutschland beziehen. So führten denn auch die ersten Auslandsreisen nach Amtsantritt von Präsident Kaczynski nach Rom und Washington und nicht – wie sonst üblich und in Berlin praktiziert – in die Nachbarländer. Da es wichtig ist, nicht immer nur übereinander sondern auch miteinander zu reden, wurde das Panel von einem polnischen Vertreter – Andrzej Sakson, Direktor des West-Instituts in Posen – und von einem deutschen Polen-Experten – Dieter Bingen, Direktor des Deutschen Polen-Instituts in Darmstadt – eröffnet.
 
Nach Darstellung von Sakson habe Polen im Mai 2004 sein wichtigstes Ziel erreicht: die Mitgliedschaft in der Europäischen Union und in der NATO. Damit sei die politische Lage für Polen besser denn je in den vergangenen 200 Jahren. Wohl habe es in der polnischen Öffentlichkeit skeptische Reaktionen auf die „Sonderbeziehungen“ zwischen Deutschland und Russland gegeben, da aus historischen Gründen Ressentiments und eine Angst vor deutschem und russischem Expansionismus bestehen. Jedoch gebe es keine namhafte Persönlichkeit in Polen, die die Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Russland dämonisiere. Allerdings bekleide Deutschland in der polnischen Außenpolitik eine andere Rolle als Russland. Deutschland gelte als Verbündeter Polens, und zudem gebe es keinen polnischen Analytiker, der in Deutschland eine Änderung in der Grundorientierung deutscher Außenpolitik erwarte. Die Stellung Russlands in der polnischen Außenpolitik basiere nicht auf denselben politischen und völkerrechtlichen Bedingungen. Zudem gebe es Befürchtungen und Misstrauen, die zum Teil aus der Vergangenheit rühren, aber auch aus der aktuellen russischen Politik. So sei es kennzeichnend, dass bei den Feierlichkeiten zum 60. Jahrestag des Kriegsendes am 9. Mai 2005 in Moskau Putin mit keinem Wort die polnischen Soldaten des Zweiten Weltkriegs erwähnt habe. Das war nach seinem Eindruck kein Zufall, sondern hatte symbolische Bedeutung. Auch in der Frage des Massakers von Katyn zeige sich die russische Seite alles andere als kooperativ.
 
Polen habe natürlich Verständnis für die Interessen Deutschlands hinsichtlich der Energiesicherheit, erwarte andererseits aber auch Solidarität. Schließlich sei Polen nicht der EU beigetreten, damit deren Mitglieder die russische Isolationspolitik gegenüber Warschau unterstützen. Bei der Ostsee-Pipeline sei jedenfalls die polnische Sichtweise nicht berücksichtigt worden. Und es sei befremdlich, welche Haltung Gerhard Schröder gegenüber Wladimir Putin zur russischen Politik in Tschetschenien und zur Demontage des Parlamentarismus in Russland eingenommen habe.
 
Besonders unruhig werde Polen, wenn es zu Friktionen in den transatlantischen Beziehungen komme, wie zum Beispiel beim Irak-Krieg. Damals habe sich eine Konfrontation zwischen Frankreich, Deutschland und Russland auf der einen und den USA und Polen auf der anderen Seite ergeben, die von erheblichen Missverständnissen geprägt gewesen sei. Daher reagiere Polen positiv auf die Politik von Bundeskanzlerin Angela Merkel, die auf eine Verbesserung der Beziehungen zu den USA und auf eine Schwächung der Achse Frankreich-Deutschland-Russland ziele. Dies sei im polnischen Interesse. Sicherlich werden gute Beziehungen zwischen Deutschland und Russland bestehen bleiben. Und auch Polen selbst habe ein Interesse an guten Beziehungen sowohl mit Deutschland als auch mit Russland. Die Turbulenzen auf der Linie Warschau-Moskau seien vor allem auf die Politik Polens gegenüber Belarus und der Ukraine zurückzuführen. Hier gebe es Unterschiede zu anderen wichtigen EU-Mitgliedern, die mit Beunruhigung auf die Orange Revolution in der Ukraine reagiert hätten, da sie die GUS als russisches Glacis anerkennen. Doch sei die polnische Politik nicht anti-russisch, sondern pro-belarussisch, pro-ukrainisch und pro-demokratisch.
 
Dieter Bingen richtete sein Augenmerk auf die Rolle Russlands in den deutsch-polnischen Beziehungen. Zwar seien diese Beziehungen ohne einen Blick auf die historischen Erfahrungen und Wahrnehmungen nicht zu verstehen, doch dürfe man sich nicht zum Sklaven historischer Erfahrungen machen. Deutschland habe nach dem 2. Weltkrieg im Sinne seiner neuen Staatsräson eine umfassende Integrationspolitik in Europa verfolgt. Nach 1989 gab es eine Vervollständigung der Integration. So wurde es möglich, ein neues Kapitel in den Beziehungen zu Polen aufzuschlagen und das Land als strategischen Partner zu betrachten. Aus diesem Grund entstand das „Weimarer Dreieck“, mit dem das deutsch-französische Tandem um Polen ergänzt wurde und das die konstitutive Bedeutung Polens für die deutsche Europapolitik unterstreicht. Die strategische Partnerschaft Deutschlands mit Russland unterscheide sich von jener mit Polen: Im deutsch-russischen Verhältnis gehe es nicht um Integration, woran Russland als Großmacht kein Interesse habe. Gleichwohl gebe es das vitale gemeinsame Interesse Deutschlands und Polens, keine neuen Spaltungen in Europa entstehen zu lassen, vor allem hinsichtlich der Ukraine und Belarus.
 
Prinzipiell müsse es ein deutsches und polnisches Interesse an einer EU-Osteuropapolitik geben, die differenziert vorgeht und Angebote macht. Dazu komme ein gemeinsames Interesse an Demokratieförderung namentlich in der Ukraine und Belarus, aber auch in Russland selbst. Das Problem bestehe darin, dass heute in Russland unter Demokratieförderung die Infragestellung von Einflusszonen verstanden werde, weil sie mit dem Ziel einer Integration und Annäherung an die EU gleichgesetzt werde. In der russischen Wahrnehmung sei dies ein Nullsummenspiel, wobei ihm Polen – stärker als Deutschland – als Störenfried erscheine. Tatsächlich gebe es in diesen Fragen auch Differenzen zwischen Polen und Deutschland. Polen argumentiere – vor allem im Hinblick auf Osteuropa – stärker geostrategisch als Deutschland. Andererseits seien die deutsche und die polnische Position gegenüber der Ukraine und Belarus insoweit nahe beieinander, als sich beide der Freiheitsentwicklung verpflichtet fühlten.
 
Schlechte deutsch-russische Beziehungen seine nicht minder schlecht für Polen. Daher gebe es auch kein automatisches Misstrauen gegen eine strategische Partnerschaft zwischen Deutschland und Russland. Allerdings müsse auch die polnische Politik berechenbar sein, worüber es in den letzten Monaten Anlass zu Zweifeln gab. Hier seien mit dem Besuch von Präsident Kaczynski in Berlin Fortschritte zu verzeichnen. Man könne davon ausgehen, dass sich der polnische Kurs konsolidieren werde und dass der innenpolitische Konfrontationskurs sich nicht in der Außenpolitik widerspiegele. Abschließend plädierte Bingen für die Schaffung eines Gesprächskreises zwischen Deutschland, Polen und Russland, um Missverständnisse zu klären und eine Diskussion um die Verbesserung der Beziehungen ungeachtet der Interessendivergenzen herbeizuführen.
 
Sergej Markow stellte fest, dass emotionale Faktoren, die sich aus der Geschichte speisten, die Diskussion über das Verhältnis zwischen Russland und Polen ungebührlich prägten und eine rationale Analyse sowie die Zusammenarbeit erschwerten. Es handele sich um einen psychologischen Komplex, denn Interessengegensätze gebe es zwischen Russland und Polen nicht. Da es keine direkten Konflikte zwischen beiden Ländern gebe, suche man diese in der Vergangenheit. Solange beide Seiten nicht gelassen und ohne Emotionen mit der Geschichte umgehen können, sei es daher in einem konstruktiven Sinne ratsam, die Geschichte zu „suspendieren“. In diesem Zusammenhang nannte er eine Reihe von Mythen, die auf beiden Seiten unverändert fortbestünden. In Russland seien dies:
·      Polen sei zwar ein unabhängiger Staat, betreibe aber keine unabhängige Außenpolitik. Dies korrespondierte damit, dass zu Beginn der 1990er Jahre Russland die Existenz Polens vollständig ausblendete und keine eigene Polen-Politik entwickelte.
·      Polen sei aus historisch-genetischen Gründen ein anti-russisches Land. In Bestätigung dieses Mythos begehe man in Russland seit 2005 nicht länger den 7. November, sondern den 4. November, den Tag der Vertreibung der polnischen Militärgarnison aus dem Kreml im Jahre 1612, als Nationalfeiertag.
·      Jeder polnische Politiker sei genuin anti-russisch.
·      Polen wolle einen anti-russischen cordon sanitaire schaffen.
Dem entsprechen polnische Mythen:
·      Russland sei ein historisch-genetischer Feind Polens.
·      Russland wolle Revanche für die polnische Befreiung.
·      Die Russen seien Barbaren und Polen das Bollwerk Europas; die Grenzen Europas verliefen an der polnischen Ostgrenze.
·      Der Mythos von Großpolen: Polen sei ohne die Ukraine nur eine Katze, mit ihr aber ein Tiger.
 
Um dem zu begegnen, sei ein Dialog zwischen Polen und Russland nötig. Man solle sich dabei am Beispiel und an den guten Erfahrungen im deutsch-französischen und deutsch-polnischen Verhältnis orientieren. In wirtschaftlicher Hinsicht gebe es keine Widersprüche zwischen Polen und Russland; vielmehr hinke die Politik hinter den wirtschaftlichen Beziehungen her. Problematischer sei es da schon, dass Polen innerhalb der EU US-Interessen vertrete, um damit seinen Status zu erhöhen. Auch habe Polen Angst, dass die EU ihre Beziehungen zu Russland ohne Berücksichtigung Polens entwickele.
 
Markow geht nicht davon aus, dass Russland über ein stabiles demokratisches System verfüge, so dass konstruktive Kritik durchaus willkommen sei. Zwar orientiere sich das russische Demokratieverständnis an europäischen Standards und Modellen, verfolge aber einen eigenen Weg. Die Vorstellung, unter Boris Jelzin sei Russland eine Demokratie gewesen, während das Land heute den demokratischen Weg verlassen habe, sei falsch. In den 1990er Jahren herrschte in Russland keine Demokratie, sondern Chaos und Unordnung. Es sei also nicht so, dass unter Putin alles schlechter geworden sei.
 
Auch Ulrich Brandenburg verwies eingangs auf die spezielle Bedeutung, die Emotionen und Befindlichkeiten im deutsch-polnisch-russischen Dreieck zukämen. Deutschland habe nach 1945 seine Souveränität in Etappen wiederhergestellt, immer in einer engen multilateralen Einbindung, die Teil der Staatsräson wurde. Daher auch die Ablehnung eines deutschen Sonderweges, was zum Teil die Form einer rituellen Beschwörung annahm. Deutschland neige dazu, die historische Erfahrung sehr hoch zu schätzen und schenke daher bilateralen Beziehungen zum Teil zu wenig Aufmerksamkeit. Russland sei immer noch traumatisiert durch den Zerfall des Imperiums und die „Niederlage“ im Kalten Krieg, die natürlich nicht als Befreiung empfunden wurde. Es seien immer noch Phantomschmerzen vorhanden. Zugleich gebe es in Russland ein großes politisches Selbstbewusstsein, das sich nicht zuletzt aus den aktuell hohen Preisen für Öl und Gas speise. Lange Zeit habe es in Russland keine Polenpolitik gegeben, wie auch gegenüber anderen ehemaligen „Vasallen“. Russland sei zu groß, um in multilaterale Strukturen eingebunden zu werden, doch fehle es umgekehrt auch an einem Integrationsmechanismus seitens der EU.
 
Polen habe mit beiden großen Nachbarn schlechte Erfahrungen gemacht und die Jahre 1989-1991 als Befreiung erlebt. Die Integration in die westlichen multilateralen Strukturen wie Europarat, EU und NATO habe Polen nicht zuletzt mit dem Ziel betrieben, sich von Russland zu entfernen. Jetzt müsse das Land lernen, die neue Souveränität innerhalb der EU partiell wieder aufzugeben. Auch wenn in Polen die Geschichte am lebendigsten geblieben sei und es immer noch anti-deutsche und anti-russische Reflexe gebe, so sei es doch im polnischen Interesse, wenn sich Deutschland und Russland gut verstehen. In diesem Zusammenhang warf Brandenburg die Frage auf, ob es ein deutsch-polnisch-russisches „Warschauer Dreieck“ geben könne. Er sei optimistisch, wenn sich genügend Substanz finde.

Das „Weimarer Dreieck“, das zu Beginn der 1990er Jahre als eine Art Outreach-Idee Frankreichs und Deutschlands nach Polen gedacht war, sei in dieser Form überholt. Aber es eigne sich immer noch als Form der Kompromisssuche, die dann in der EU der 25 gemeinsam vertreten werden, zum Beispiel im Verhältnis zur Ukraine. Das Dreieck diene so als Brücke zwischen dem „alten“ und dem „neuen“ Europa und sei sicherlich auch übertragbar auf Russland. Die „Achse“ jedoch sei entstanden, als das multilaterale System in der Irak-Krise versagte.
 
In der Diskussion beklagte Klaus-Dieter Bergner, dass im Bereich der Luft- und Raumfahrt Polen an keiner europäischen Kooperation mitwirke. Buchstäblich alle Beschaffungsbeschlüsse seien gegen europäische Konsortien gefallen. Dagegen habe man sich konsequent für US-Produkte entschieden. Die Zusammenarbeit mit Russland verlaufe hier sehr viel besser, so dass vor allem wirtschaftliche und weniger emotionale Gründe eine Rolle spielten, wenn die Beziehungen zu Russland gepflegt werden.
 
Sergej Karaganow ging auf die Ukraine und ihre Transportnetze nach Westeuropa ein. Der so genannte Gaskrieg habe vor allen Dingen gezeigt, dass die Ukraine wegen der mangelnden Handlungsfähigkeit ihrer Führung Verträge nicht einhalte. In der Ukraine entwickele sich die Demokratie, aber auf einem niedrigen Niveau. Präsident Juschtschenko könne sich nicht mit den oligarchischen Gruppen arrangieren, so dass die Sicherheit und die Zuverlässigkeit des Transits durch die Ukraine nicht gewährleistet sei. Vor allem darauf richte sich die russische Kritik an ihm. Belarus unter Präsident Lukaschenko sei auch kein verlässlicher Transportweg nach Westen. Daher sei die Entscheidung zum Bau der Pipeline durch die Ostsee kein anti-polnischer Schritt sondern ein rationaler gewesen – anders als auf polnischer Seite. Zur Haltung Russlands gegenüber Polen merkte er an, dass eine russische Annäherung von polnischer Seite nicht gewollt werde, was sich mit psychologischen Problemen der Polen erklären lasse, die sich immer noch von der Geschichte und nicht von den aktuellen Möglichkeiten leiten lassen. Polen spiele eine negative Rolle in den Beziehungen zwischen Russland und der EU und dürfe deswegen nicht gekränkt sein, wenn Russland entsprechende Reaktionen zeige. Das Streben Polens, eine führende Rolle in der gesamteuropäischen Außenpolitik zu spielen, sei ein Luftschloss und gehe paradoxerweise mit einer Renationalisierung einher – wie generell eine Rückzugstendenz der großen europäischen Staaten von der gemeinsamen Außenpolitik zu beobachten sei.
 
Ewald Böhlke verwies auf die Beobachtung, dass die politische Klasse in Polen längst nicht so weit sei wie die polnische Gesellschaft: Diese nehme in den Beziehungen mit Russland vor allem die ökonomischen Vorteile wahr. Dies gelte, so Jürgen Möpert, auch für die Energiepolitik. Die Ostseepipeline vervollständige die Transportdiversifizierung und bei Yamal-Pipeline seien die polnischen Interessen in vollem Umfang berücksichtigt worden. Ähnlich argumentierte auch Frank Schauff. Er stellte eine Diskrepanz fest zwischen der polnischen Sicht auf Deutschland und der deutschen Sicht auf Polen. In Deutschland gebe es auf offizieller Ebene keinerlei anti-polnische Äußerungen. In Polen sei dagegen die Rhetorik eine andere. Ressentiments würden mobilisiert, wobei aber eine Diskrepanz zu dem bestehe, was der Großteil der Bevölkerung denke. Hier sei das Verhältnis zu Deutschland viel entspannter.
Michail Deljagin schloss sich den Äußerungen von Markow an, dass die Probleme zwischen Russland und Polen konstruiert seien. Die polnische Seite nehme jede internationale Aktivität Russlands als anti-polnisch wahr. Eine solche Wahrnehmung habe psychologische Gründe, aber keine ökonomischen. Auf der politischen Ebene könne Polen die Beziehungen zwischen Russland und der EU negativ beeinflussen, jedoch sei das ein Problem, das die EU lösen müsse. Russland habe die Möglichkeit, sich kooperativere Partner zu suchen, zum Beispiel China. Letztlich sei Polen nicht nur unzuverlässig, sondern auch unwichtig.

Ernst-Jörg von Studnitz merkte dazu an, dass solche wie auch die Äußerungen von Markow und Karaganow Anlass zur Beunruhigung geben. Sie ließen sich dahingehend zuspitzen, dass Polen im Grunde egal sei. Das sei beunruhigend für Europa. Umgekehrt vermittele Polen den Eindruck, dass es Europa nicht brauche, da es ja die USA als Partner habe. Damit vergebe es aber viele Möglichkeiten, in Mitteleuropa eine Rolle zu spielen. Das spiegele sich wiederum in der Haltung Russlands. Die raison d’être deutscher Nachkriegspolitik war es, ein notwendiger Partner in Europa zu werden. Polen sollte sich darauf besinnen, welche Rolle es in Europa spielen könnte und sich nicht den Erwartungen seiner wichtigsten europäischen Nachbarn entziehen. Wenn in der Konsequenz dessen Entscheidungen ohne Polen getroffen werden, komme es zu einem Aufschrei. Daher sei ein Dialog notwendig, der auch der russischen Seite die Rolle und Relevanz Polens vermitteln könne.
Zu der Debatte über die nicht vergehende Geschichte merkte Günter Joetze an, dass durchaus auch geplant und gesteuert werde, was erinnert und was vergessen wird. Auch warf er die Frage auf, wie realistisch die geostrategischen Vorstellungen Polens seien? Wie stelle man sich etwa die Aufnahme der Ukraine in die NATO und die Integration in die EU vor? Matthes Buhbe betonte in diesem Zusammenhang, dass ein „Moratorium über die Geschichte“ nur Wunschdenken sein könne. Eine Geschichtsblockade verhindere vertrauensvolle Beziehungen. Andererseits sei es problematisch, wie in Polen und den Baltischen Staaten die Geschichte zur einzigen Diskussionsgrundlage gemacht werde. Für Manfred Sapper wiederum ist entscheidend, wer dazu auffordert, bei der Vergangenheit einen Schlussstrich zu ziehen. Sind dies die Opfer oder die Täter? Darauf erwiderte Markow, dass das faschistische Deutschland und die Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg – auch in Bezug auf Polen – sehr unterschiedliche Rollen gespielt hätten.
 
Auch Bingen verwies auf die Gefahr, dass man zu Geiseln der Geschichte werden könne. Andererseits sei es Voraussetzung für den Erfolg des deutsch-polnischen Historiker-Dialogs gewesen, dass in beiden Staaten eine offene Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte stattfand. Dabei seien der Respekt und die Anerkennung des Gesprächspartners wichtig. Darauf machte auch Rudolf Adam mit Verweis auf die gemeinsame Schulbuch-Kommission der 1970er Jahre aufmerksam, in der Annäherungen über die Geschichte gefunden wurden. Es sei um gemeinsame Interpretationen gegangen und nicht um Geschütze, die gegeneinander in Stellung gebracht wurden. Die Frage nach der aktuellen Situation in Polen beantwortete auch Bingen mit Verweis auf die polnische Bevölkerung, die ein entspanntes Verhältnis zu allen Nachbarn wünsche. Teile der politischen Klasse und der Medien hätten dagegen ein paranoides Verhältnis gegenüber Deutschland.
 
Heinz Timmermann registrierte dagegen zunehmende Gemeinsamkeiten von deutschen und polnischen Initiativen in Bezug auf ein auch für die deutsch-russischen Beziehungen so sensibles Thema wie Belarus. Deutschland veranstalte das Minsk-Forum mit Oppositionellen und einigen Regierungsvertretern, und seit letztem Jahr sei auch Polen daran beteiligt. Ziel sei, einen Aktionsplan für den demokratischen Wandel in Belarus zu entwickeln. Dies führte ihn zu der Frage, wie man Belarus in die Neue Nachbarschaftspolitik der EU einbinden könne, ohne in Gegensatz zu Russland zu geraten? Eine ähnliche Frage warf Gunter Hellmann auf. Er verwies auf den Umstand, dass Russland seine Beziehungen in Europa gerne bilateralisieren möchte, während Polen diese multilateralisieren wolle, zum Beispiel über die NATO. Er knüpfte daran die Frage, ob Deutschland Interesse an einer Trilateralisierung habe und welche Anreize es für Polen und Russland schaffen könne.
 
Pawel Solotarjow merkte dazu an, dass man eine Parallele zwischen Moskau und dem Westen ziehen könne – die Bildung der Demokratie von oben: Russland tue das im eigenen Land, der Westen in Georgien und der Ukraine, worauf man auch sehr stolz sei. Aber im Grunde bleibe dort die Demokratie auf Rhetorik beschränkt. In der Frage der Beziehungen zu Polen bestehen nach seiner Meinung Probleme, die ihre Wurzeln durchaus in Interessengegensätzen hätten und nicht allein aus der Geschichte resultieren. So bot der polnische Präsident den USA an, auf polnischem Territorium Waffen und Radaranlagen zu installieren, und dadurch die Osterweiterung der NATO zu beschleunigen. Die Hauptbefürchtung Russlands sei eine Marktverdrängung bei moderner Ausrüstung und Polen sei in diesem Konflikt der Motor.
 
Sakson äußerte zum Abschluss seine Überzeugung, dass Deutschland, Polen und Russland jeweils eigene politische Interessen vertreten. Für Polen sei das noch immer eine neue Situation, da das Land bis 1989 ein Vasall der Sowjetunion war. Dabei sei für Polen klar, dass das Land für sein Engagement in Belarus und der Ukraine von Russland bestraft worden sei, das eigene Interessen in den beiden Ländern verfolge. Auf der anderen Seite gebe es eine Analogie zu den deutsch-polnischen Beziehungen: Nach der Wiedervereinigung habe Deutschland sichere Grenzen um sich erlangt. Für Polen sei die Situation heute anders, vor allem im Osten. Daher strebe man danach, dass auch die östlichen Nachbarn freundschaftlich, demokratisch und marktwirtschaftlich seien. Was die deutsch-polnischen Beziehungen betreffe, habe die Geschichte der beiderseitigen Beziehungen in den Gesellschaften ein „Kapital“ geschaffen, das es erlaube, die aktuelle Krise zu überwinden.

 

Protokoll:        Kerstin Zimmer
                         Wiktoria Borisowa