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Protokoll 2004



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Erwartungsgemäß standen die diesjährigen Schlangenbader Gespräche im Zeichen der schwierigen Stabilisierungs- und Demokratisierungsbemühungen der USA im Irak sowie der weiteren Konsolidierung der Herrschaft Wladimir Putins nach den russischen Duma- und Präsidentschaftswahlen. Darüber hinaus befanden sich die EU-Osterweiterung und deren Auswirkungen auf die Beziehungen zwischen Russland und der EU im Blickpunkt des Interesses der nahezu sechzig Teilnehmer, die sich in Schlangenbad versammelten.
 
Für das 7. Schlangenbader Gespräch konnten mit der Vertretung der Konrad-Adenauer-Stiftung in der Russischen Föderation und mit der Stiftung Einheit für Russland zwei neue Mitveranstalter gefunden werden. Markus Ingenlath als Leiter der Konrad-Adenauer-Stiftung in Moskau wies auf die bereits 14 Jahre währende Arbeit der Stiftung in Moskau hin. Er ist der vierte Leiter der KAS in Moskau und betonte, dass die KAS vor allem auch um einen Dialog der Kulturen bemüht sei. Er erhoffe sich durch die Teilnahme einen höheren Grad an Kooperation zwischen Russland und Deutschland. Wjatscheslaw Nikonow als Präsident der „Stiftung Einheit für Russland“ hob die immer größer werdende Bedeutung der Schlangenbader Gespräche hervor. Er wies darauf hin, dass die „Stiftung Einheit für Russland“ Herausgeber der Zeitschrift „Strategie für Russland“ sei und die Fraktionsspitze der Partei „Jedinaja Rossija“ in der Duma berate. Matthes Buhbe vertrat die Friedrich Ebert Stiftung zum zweiten Mal als deren Vertreter in Moskau bei den Schlangenbader Gesprächen und stellte Pia Bungarten als neue Leiterin der Abteilung Internationaler Dialog der Friedrich-Ebert-Stiftung vor. Die schon traditionelle einleitende Dinner Speech hielt am Vorabend der offiziellen Eröffnung Karsten D. Voigt, Koordinator für deutsch-amerikanische Zusammenarbeit im Auswärtigen Amt. Sie ist hier vollständig wiedergegeben:
  
 
Vortrag anlässlich der 7. Schlangenbader Gespräche
 
Ziel: Sicherheitspartnerschaft und Demokratie
 
In der Fragestellung „Strategische Partnerschaft zwischen Sicherheit und Demokratie“ schwingt ja die Vorstellung mit, unsere strategische Partnerschaft mit Russland sei zwischen zwei Polen in einem Spannungsfeld zu definieren – mehr Sicherheit hier, mehr Demokratie dort. Ich glaube, dass diese Sicht bei vielen Politikern in Russland selber auf großes Verständnis stoßen würde. Nach der Jelzin-Ära empfinden viele Politiker und Bürger die Jahre der Präsidentschaft Putins als Phase der Konsolidierung. Dies gibt denen Rückhalt, die eine innere Stabilisierung auf Kosten der Demokratie als eine bedauerliche, aber unvermeidbare Voraussetzung für russische Stärke und Sicherheit halten. Mehr Demokratie, mehr Marktwirtschaft – dies ist für viele Russen – und ich halte diese Reaktion nach den Erfahrungen seit Gorbatschow und Jelzin für keineswegs überraschend - gleichbedeutend mit Chaos, schamloser Bereicherung einiger Weniger und außenpolitischem Prestigeverlust. Mehr Sicherheit im Inneren, hartes Vorgehen gegen die Oligarchen, Stabilisierung der wirtschaftlichen Lage und wachsenden Respekt im Ausland. Für diese Tendenzen steht Präsident Putin, und bei aller Kritik aus dem Westen an zunehmend autoritären Erscheinungen in Politik und Gesellschaft Russlands– genau auf diesen Elementen beruht seine große Popularität. Dies sage ich in voller Kenntnis der Lage der elektronischen Medien dort. Natürlich haben Andere es schwer, durchzudringen; dennoch – Putin ist beliebt, und das liegt zwar auch, aber keineswegs vorwiegend an der Kontrolle des Fernsehens durch die Regierung.
 
Für uns in der Europäischen Union und in der NATO stellt sich die Frage etwas anders: Wie weit kann Russland mit einer autoritären Stabilisierung gehen, wenn der angestrebten strategischen Partnerschaft nicht der Boden gemeinsamer demokratischer Werte entzogen werden soll? Bereits jetzt findet die innere Entwicklung Russlands eine zunehmend skeptische Beobachtung und Interpretation in den deutschen Medien. Kaum ein Land in der EU ist ja so interessiert an und fasziniert von Russland wie Deutschland, von seinen klugen Menschen, seiner Geschichte, seiner großartigen Kultur, seinen Potentialen und Chancen. Deutschland war bisher das einzige Land, wo man als Moskau-Korrespondent eines Fernsehsenders zu einem echten Star werden konnte. Kaum ein Abend vergeht, ohne dass dem deutschen Fernsehpublikum aus Russland ein Bericht, ein Feature oder eine Reisereportage angeboten wird. Die meisten Deutschen kennen Mitbürger, die seit den 80er Jahren aus den Mitgliedstaaten der GUS nach Deutschland eingewandert sind. Ihre Zahl ist inzwischen größer als die der Mitbürger türkischen Ursprungs. Diese Nähe – Russland im Wohnzimmer und als Nachbarn – führt aber auch zu einem genaueren Nachfragen an Bundestag und Bundesregierung, was wir politisch zu Russland zu sagen haben, wie wir mit den undemokratischen Aspekten der Stabilisierung umzugehen gedenken, wie wir die Lage der Menschenrechte in Russland insgesamt und in Tschetschenien insbesondere verbessern wollen. Und während die Bundesregierung entschlossen und unbeirrt an ihrer Politik einer strategischen Partnerschaft mit Russland festhält, werde ich auf öffentlichen Veranstaltungen und im persönlichen Gespräch durchaus mit der Grundsatzfrage konfrontiert: Können wir mit einem Russland, das in den letzten Jahren autoritärer geworden zu sein scheint, eine stabile und dauerhafte strategische Partnerschaft auf- und ausbauen?
  
Elemente unserer Partnerschaft
 
Lassen sie mich als Antwort auf diese kritischen Fragen zunächst die Elemente unserer Partnerschaft mit Russland skizzieren, so wie sie sich entwickelt haben und wie sie sich heute darstellen. Die wichtigsten Partner Russlands sind die EU, die USA und NATO. Diejenigen in Moskau, die globale militärische Macht für am wichtigsten halten, werden die USA für den wichtigsten Partner halten. Diejenigen, die wirtschaftliche und gesellschaftliche Modernisierung in den Vordergrund stellen, werden die Priorität eher auf die Partnerschaft mit der EU und ihren Mitgliedsstaaten legen. Für die Mitglieder  der EU gilt nach wie vor die strategische Grundüberzeugung, dass die zentralen außenpolitischen Fragen nicht ohne oder gegen Russland, sondern nur gemeinsam mit ihm gelöst werden können und auf keinen Fall besser. Dies gilt für die Terrorismusbekämpfung, aber auch für andere globale Aufgaben, wie die Fortsetzung von Abrüstung und Rüstungskontrolle, die Verhinderung der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen, die Eindämmung regionaler Konflikte im Umkreis Russlands und auf dem Balkan, die Bekämpfung der organisierten Kriminalität, den Klimaschutz, die Stärkung des multilateralen Instrumentariums zum Schutz von Frieden und Sicherheit, insbesondere in den Vereinten Nationen. Wenn wir in diesem Zusammenhang weniger über Russland hören, so bedeutet dies in vielen (wenn auch nicht allen) Fällen etwas Positives: Russland wird nicht mehr als Problem empfunden, sondern als selbstverständlicher Teil ihrer Lösung und als Partner, mit dem ein hohes Maß an Übereinstimmung besteht. Ich nenne nur die gemeinsamen Anstrengungen im Nahost-Quartett, in dem Russland konstruktiv mitarbeitet.
  
EU und Russland
 
Im Mittelpunkt der Beziehungen zwischen der EU und Russland stehen heute allerdings weniger die nach außen gerichtete politische Zusammenarbeit, sondern vielmehr die Fragen, die die wirtschaftlichen Interessen beider Seiten und das Schicksal der eigenen Bürger unmittelbar betreffen. Mit der Osterweiterung am 1.Mai entfallen mehr als 50% des russischen Außenhandels auf die EU. Deutschland und Russland haben ein Abkommen über Visaerleichterungen für bestimmte Personengruppen abgeschlossen, das Vorbildcharakter für die EU haben kann. Wir haben auf dem Gipfel in St. Petersburg beschlossen, vier große europäische Räume unter Einbeziehung Russlands und der EU zu schaffen: einen gemeinsamen Wirtschaftsraum, einen Raum der Freiheit und Sicherheit, einen Raum der äußeren Sicherheit und einen Raum der Kultur, Bildung und Forschung. Auf dem EU-Russland Gipfel im Mai sollen inhaltliche Konkretisierungen für diese vier Räume beschlossen werden, die maßgeblich von Frankreich und Deutschland erarbeitet wurden. Das Konzept für den Gemeinsamen Wirtschaftsraum liegt bereits vor, es wurde auf dem November-Gipfel in Rom beschlossen. Dieser Gipfel ist allerdings ansonsten insofern nicht befriedigend verlaufen, als Russland in den Vorbereitungen hierzu gegenüber der EU in teilweise alte Muster des Bilateralismus zurückfiel. Manche in der EU haben dies als eine Politik wahrgenommen nach altrömischen „teile-und-herrsche“-Verfahren vorzugehen, wenn man nur die italienische Präsidentschaft auf seine Seite zieht. Weder wurde der Wunsch der EU noch die Menschenrechtslage in Tschetschenien im Abschlussprotokoll erwähnt, auch nicht, dass Russland möglichst bald das Kyoto-Protokoll ratifizieren möge. Wenn dies jemand in Moskau als Sieg der russischen Diplomatie empfunden haben sollte, so sollte ihm geraten werden, selbstkritisch zu prüfen, ob dies nicht ein Pyrrhus-Sieg war: Die EU beschloss nach dem Rom-Gipfel eine grundsätzliche Überprüfung der Beziehungen zu Russland mit der Folge, dass der ohnehin schon stark ausgeprägte Wunsch, statt formeller Beschlüsse mehr auf konkrete Inhalte zu achten, noch stärker artikuliert wurde. Sie werden sich daran erinnern, dass in diesem Zusammenhang ein Bericht der EU-Kommission in Moskau veröffentlicht wurde, der dort für großes Erstaunen sorgte – manche sahen in Moskau in der Kommission vielleicht ein weitgehend machtloses Sekretariat einer internationalen Organisation. Falls dies die Einschätzung der EU gewesen sein sollte, so wird die Ernennung des EU-Botschafters Fradkow zum neuen Premierminister sicher dafür sorgen, dass die Rolle der EU-Kommission und der EU insgesamt sehr viel besser verstanden wird. Und dies wiederum könnte die Zusammenarbeit zwischen EU und Russland erheblich erleichtern.

Autoritäre Stabilisierung?
 
Was Russland selber angeht, so blickt Europa mit wenig Erstaunen auf die Machtkonzentration im Kreml – sie war und ist nicht überraschend. Sie ist übrigens auch im Vergleich mit anderen Präsidialdemokratien wie zum Beispiel den USA nicht so ungewöhnlich. Das zentrale Problem der politischen Entwicklung in Russland besteht darin, dass der Kreml seine Machtfülle ohne tatsächlich funktionierende demokratische und rechtsstaatliche checks and balances ausübt. Die wenigen oppositionellen Stimmen in der Duma sind entweder durch parlamentarische Verfahren wenig wirksam (als langjähriger Parlamentarier kenne ich diese Methoden nur zu gut) oder aber in die Partei, die an der Macht ist, kooptiert worden. Die Justiz ist nach wie vor nicht  wirklich völlig unabhängig. Die Jukos-Affäre wird von vielen in der EU und den USA als ein Beispiel für die selektive Anwendung des Rechts angesehen. Die vierte Gewalt ist geteilt: Der Freiheit der Printmedien steht die Kontrolle der für ein Land von Russlands Dimensionen ungleich wichtigeren elektronischen Medien durch den Kreml gegenüber. Das Parlament ist de facto eine Verlängerung des Regierungsapparats, sein Einfluss ist sehr beschränkt. Niemand in Russland darf deshalb erstaunt sein, wenn aus außenpolitischen Beschlüssen der Duma auch Rückschlüsse auf Hintergrunddenken in der Regierung selbst gezogen werden. Das Parlament ist de facto eine Verlängerung des Regierungsapparats, sein Einfluss ist sehr beschränkt. Viele in den USA und in der EU vermuten, dass, was russische Diplomaten in Erklärungen oder Verträgen nicht hineinverhandelt bekommen haben, anschließend in Form einer Duma-Resolution gekleidet wird. Das z.B. war der Fall im Zusammenhang mit der Ausweitung des Partnerschafts- und Kooperationsabkommens auf die neuen EU-Mitglieder.
  
USA und Russland
 
Ich beobachte in den USA zwar auch kritische, mehr aber noch positive Elemente im Blick auf Russland. Die Bush-Administration führte einerseits die strategische Linie ihrer Vorgänger-Regierung fort. Russland wird als strategischer, wenn auch häufig als nicht gleichrangiger strategischer Partner behandelt. Alleine im Jahr 2001 gab es vier Treffen der Präsidenten Bush und Putin. Andererseits wurde Bush wegen seines positiven Urteils und seiner guten Beziehung zum russischen Präsidenten deshalb in wichtigen Medien politische Unreife und persönliche Naivität vorgeworfen. Bush widmete das erste große Interview seiner Amtszeit (mit Peggy Noonan im Wall Street Journal) der Korrektur dieses Eindrucks.
 
Nach dem 11.9.2001 machte sich das amerikanische Vorgehen jedoch bezahlt, denn Moskau traf nach den Anschlägen eine wichtige strategische Entscheidung. Es hat sich entschieden für Solidarität im Kampf gegen die terroristische Bedrohung. Russland öffnete seinen Luftraum für Überflüge, stellte Informationen zur Verfügung und zeigte ein gewisses Verständnis für die Präsenz westlicher Truppen in Zentralasien. Die US-Operation gegen die Taliban lag auch im Sicherheitsinteresse Russlands.
 
Der Irak-Krieg brachte eine Abkühlung des Verhältnisses zwischen den USA und Russland. Allerdings wurde in Washington von Anfang an nicht erwartet, dass Russland sich an diesem Feldzug beteiligen würde. Überraschung und Unmut über die Ablehnung des Krieges durch Moskau hielten sich in Grenzen. Dennoch wurde Russlands Gegnerschaft zum Krieg von den publizistischen Unterstützern der Regierung zum Anlass genommen, Russland wieder stärker zu kritisieren. Entscheidender Katalysator der Kritik in den USA war die Verhaftung Michail Chodorkowskijs. Jetzt wuchs der Druck auf die Administration, „endlich“ ihre „naive“ Haltung aufzugeben und mehr Distanz zu zeigen. Vergleiche Russlands mit China machten die Runde, der Topos der „autoritären Modernisierung“ erschien. Diesem Druck gab die Administration teilweise nach und akzentuierte ihre Positionen leicht verändert, indem Außenminister Powell in der Iswestija einen Artikel veröffentlichte, in dem er das russische Demokratiedefizit klar beschrieb. Verstärkt wurde diese Kritik noch durch einen Artikel von US-Botschafter Vershbow nach den Präsidentschaftswahlen und weitere Äußerungen Powells im selben Zusammenhang.
 
Trotz dieser in ihrer Offenheit deutlichen Stellungnahmen der US-Regierung im Spannungsfeld zwischen Demokratie und Sicherheit hat sich die grundlegende amerikanische Position nicht geändert: Bei Russland wird noch immer das Potenzial gedeihlicher Zusammenarbeit in den Vordergrund gestellt. Russland und die USA haben auf dem letzten Gipfel von Präsident Bush und Putin ihre Zusammenarbeit neu beschrieben: Anstelle einer wolkigen Gipfelerklärung wurde nicht zuletzt auf amerikanisches Drängen hin eine ausführliche „Checkliste“ verabschiedet, mit konkreten Terminen, bis zu denen die in ihr aufgeführten Ziele zu erreichen sind und mit Personen, die auf beiden Seiten die Verantwortung dafür tragen.
 
NATO und Russland
 
Auch die Beziehungen zwischen der NATO und Russland haben sich entwickelt, und zwar zum Positiven. Als die Grundakte über die gegenseitigen Beziehungen, Zusammenarbeit und Sicherheit abgeschlossen wurde, war dies der erste große Anlauf zu einer Sicherheitspartnerschaft mit Russland – dieser erste Versuch wurde ein Opfer der Kosovo-Krise. Vielleicht waren aber auch beide Seiten noch nicht reif für eine wirklich vorurteilsfreie Zusammenarbeit. Auf NATO-Seite gab es immer wieder den Zwang, die Reihen auf der Basis des kleinsten gemeinsamen Nenners geschlossen zu halten. Die russischen Vertreter waren anfangs ihrerseits zu Kompromissen wenig bereit. Dies gilt insbesondere für die Militärs, die sich anfangs der praktischen Kooperation mit der NATO zu entziehen versuchten. Die gemeinsamen Einsätze in Bosnien und im Kosovo blieben leider Ausnahmen.
 
Der 2002 gegründete NATO-Russland-Rat war dagegen ein Sprung nach vorne, er hat eine echte Verbesserung der Zusammenarbeit gebracht. Hier sitzen sich nicht mehr ein Staat und eine Organisation gegenüber, sondern es beraten und entscheiden formal gleichberechtigte Partner unter Leitung des NATO-Generalsekretärs. Beide Seiten arbeiten ergebnisorientiert und nutzen ihre Spielräume konstruktiv. Die russischen Militärs haben ihr altes Feindbild zunehmend abgebaut. Auch längst überholte Vorurteile auf Seiten der NATO sind seltener geworden. Russland und die NATO-Staaten arbeiten gemeinsam an der Bewertung terroristischer Bedrohungen und Proliferationsrisiken. Sie führen gemeinsame militärische Übungen unter realistischen Szenarien durch, üben Lufttransport und U-Boot-Rettung und suchen nach Kooperationsmöglichkeiten im Bereich der nichtstrategischen Raketenabwehr. Mitverantwortung und Mitentscheidung bedingen einander. Das nötige Vertrauen hierfür wächst. Auf diesem Wege sind die NATO und Russland durch konkrete Projekte der Zusammenarbeit ein gutes Stück vorangekommen, was auch die erfreulich maßvolle Reaktion der russischen Seite auf die zweite Runde der NATO-Erweiterung belegt.

„Weiter so“ ist zu wenig
 
Die Frage „Weiter so?“ möchte ich mit der Feststellung beantworten: Weiter so ist mir zu wenig. Russland, die EU, die USA, die NATO, sollten in Zukunft die Beziehungen noch mehr als bisher daran messen, wie echte, substanzielle Fortschritte erreicht werden können –und zwar in einem Geiste der Partnerschaft beider Seiten. Bei der NATO funktioniert es schon, die USA arbeiten die Checkliste ab und in der EU hat man nach der ersten Sitzung des Ständigen Partnerschaftsrates am 27. April den Eindruck, dass auch Russland die Zusammenarbeit mit neuem Schwung sucht. Hier gibt es also neue Chancen.
 
Der Aufbau einer langfristig stabilen strategischen Partnerschaft zwischen Russland einerseits und der EU, den USA und der NATO andererseits bedarf allerdings nicht nur der Gemeinsamkeit von Interessen, sondern auch der Gemeinsamkeit grundlegender Werte: Hierzu gehören nicht nur das Bekenntnis zur, sondern auch die Realität einer pluralistischen Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit, der Medienfreiheit und natürlich des Respekts vor den Menschenrechten. Außenpolitisch sind hierüber hinaus für die EU – nicht unbedingt in gleicher Weise für die USA – Multilateralismus, zivile Konfliktbearbeitung und der Respekt vor dem Völkerrecht bedeutsam. Gleicht man diesen Kanon mit dem russischen ab, wird deutlich, dass bei einigen Werten nur eine teilweise und bei anderen eine weitreichende Deckungsgleichheit besteht.
 
Keine Deckungsgleichheit gibt es beim postnationalen Souveränitätsverständnis; hier ist Russland ähnlich wie die USA als kontinentale Macht noch immer einem für deutsches Empfinden veralteten Verständnis verhaftet. Teilweise Deckungsgleichheit gibt es bei den inneren Werten: Gerade gegenüber der Sowjetzeit, die erst vor 15 Jahren zu Ende ging, haben sich in Russland Freiheit und Rechtsstaat normativ und zum Teil auch in der Praxis Bahn gebrochen, das gleiche gilt für die Demokratie. Dass wir, aber auch Russland, Umsetzungsdefizite sehen, ist unstreitig. Leider gibt es aber in einzelnen Bereichen nicht nur Umsetzungsdefizite, sondern auch Rückschritte. Wir nehmen jedoch Präsident Putin beim Wort, der nach seiner Wiederwahl zugesagt hat, alles dafür zu tun, dass Russlands Demokratisierung weitergehen wird.
 
Eine scheinbar vollständige Übereinstimmung scheint es zu geben beim Streben nach Verrechtlichung der internationalen Beziehungen und dem Streben nach einer Stärkung des Multilateralismus. So sind jedenfalls Moskaus Äußerungen zur systembildenden Rolle der Vereinten Nationen, ihrer Organisationen und Regime zu verstehen. Es gibt allerdings innerhalb der EU und innerhalb der NATO unterschiedliche Auffassungen, inwieweit diese Übereinstimmung prinzipieller und langfristiger Natur oder inwieweit sie situationsabhängig ist.
 
Es gibt wichtige Stimmen in der EU und der NATO und in den Mitgliedsstaaten beider Organisationen, die unter Hinweis auf das russische Verhalten im GUS-Raum – die aktuellen Beispiele sind Georgien und Moldau -, dass dort, wo Russland die Macht hierzu hat, nicht das Prinzip des Multilateralismus und der Respekt vor internationalen Normen, Vereinbarungen und Institutionen die Hauptrolle spielt.
 
In Teilen der politischen Klasse Russlands, auch bei den Außenpolitikern, findet sich noch immer eine Vorstellung von der Diplomatie als Nullsummenspiel. Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Föderationsrat, Margelow, hat die Beziehung Russlands zum Westen mit einem Boxkampf verglichen, in dem Russland einen Sieg nach Punkten anstrebe, da der K.O. unerreichbar sei. In solchen Bildern kommt ein Denken zum Vorschein, das eine der Gründe für das Misstrauen bei Politikern insbesondere in Ostmitteleuropa und im Baltikum gegenüber Russland ist. Die meisten deutschen Politiker und die Bundesregierung versuchen, diesem Misstrauen entgegenzuwirken. Dabei muss uns Russland aber noch mehr als bisher durch Fakten helfen.
 
Strategische Partnerschaften lassen sich nicht auf der Grundlage antagonistischer Denkmuster errichten. Wir Deutsche wollen unsere gemeinsame Nachbarschaft mit Russland nicht im Sinne eines Boxkampfes, sondern im Sinne einer familiären Beziehung unter europäischen Nachbarn als „win-win“-Situation gestalten.
 
Dazu brauchen wir eine EU und eine NATO, die zur langfristigen strategischen Partnerschaft mit Russland bereit ist und ein Russland, das schrittweise, aber erkennbar mehr demokratischen Pluralismus, mehr Rechtsstaatlichkeit und mehr Respekt vor den Menschenrechten verwirklicht.
 
Ich hoffe und bin mir sicher, dass deutsche und russische Politik mit ihrer jeweiligen spezifischen Verantwortung zur Verwirklichung dieses optimistischen Szenarios beitragen werden.
 
 
 
In der anschließenden Diskussion merkte Ernst-Otto Czempiel zunächst an, dass er Russland als Land in einem frühen Entwicklungsstadium betrachte. Dazu passe kein System einer westlichen Demokratie. Wenn der Westen dies akzeptiere, habe man größere Chancen, Einfluss auf die Entwicklung in Russland zu nehmen. Die Gründe für die Rückwärtsentwicklung der Demokratisierung in Russland seien vielfältig, aber auch in äußeren Herausforderungen begründet: die Osterweiterung der NATO bzw. der EU, der Machtzuwachs der USA, der Irak-Krieg und Japans Aufrüstung würden in Russland als potentielle Bedrohung wahrgenommen. Außerdem bestünden in der russischen Generalität Vorbehalte im Hinblick auf den KSE-Vertrag. Russland verfüge über größere Sicherheit, wenn es den KSE-Vertrag nicht unterschreibe. Abschließend fragte Czempiel, ob man diese Entwicklung nicht hätte vorhersehen können.
 
Karsten D. Voigt widersprach der Argumentation Czempiels, die er schon sehr oft gehört habe. Er glaube nicht an die These, dass die außenpolitische Lage Putin bei der Demokratisierung behindert hätte. Sie könne eine Wirkung haben, aber nicht in dem Ausmaß, wie einige Experten zu glauben meinen. In Bezug auf die Problematik des KSE-Vertrages gab Voigt Czempiel recht, als russischer Militär würde auch er graue Haare bekommen.
 
Wjatscheslaw Nikonow, Präsident der Stiftungen „Politika“ und „Einheit für Russland“, verstand die Rede Voigts als eine Botschaft an Russland und stellte sich vor, sie mit den Ohren Putins gehört zu haben. Putin wäre mit der Rede Voigts nicht einverstanden. Auch seien alle Einwände Voigts schon lange bekannt. Nikonow hob hervor, dass Putin sein Land durchaus auf einen demokratischen Weg führe und dass es eine gute Zusammenarbeit mit dem Westen gebe. Sein Fazit lautete, dass Voigts Position, falls sie die Einstellung der Bundesregierung widerspiegele, die Beziehungen zwischen der EU, Russland und der NATO in eine Sackgasse führten.
 
Voigt hielt Nikonow entgegen, dass er Kritik nicht als Zeichen der Schwäche verstehe, sondern als Zeichen der Stärke. Russland sei potentiell ein Teil des Westens. Die „Message“ seiner Rede bestehe darin, dass strategische Partnerschaft mit dem Westen nur dann möglich sei, wenn gemeinsame Werte existierten, während gemeinsame Interessen allein nicht ausreichten.
 
Nach Auffassung von Andrej Sagorskij, Vertretung der Konrad-Adenauer-Stiftung in der Russischen Föderation, fehle in der Diskussion der Bezug auf traditionelle, innere russische Denkweisen. Unter Jelzin hätte der Westen mehr Verständnis für Russland gehabt. Putin werde sehr viel kritischer gesehen, aber kein westlicher Politiker übe im Gespräch Kritik an ihm. Nikonow hätte sich in die Rolle Putins versetzt, aber Putin bekomme solche Kritik wie die von Karsten D. Voigt nie zu hören.
Voigt betonte, dass er weder ein Verehrer Jelzins gewesen noch ein Kritiker Putins sei. Jelzin sei für ihn kein guter Politiker gewesen, weil er sich nicht habe beraten lassen. Putin sollte die Kritik, die an ihm geübt wird, positiv verarbeiten. Leider werde im Rahmen der deutsch-russischen Beziehungen Kritik auf höchster Ebene sofort als komplette Infragestellung der eigenen Position wahrgenommen.
 
Konstantin Eggert, Chefredakteur des Moskauers Büros des Russischen Dienstes der BBC Moskau, beobachtete einen wesentlichen Unterschied im Hinblick auf die russische Vorstellung von Werten und die Vorstellung von Werten innerhalb der EU. Heinz Timmermann, ehemals Forschungsgruppenleiter der Stiftung Wissenschaft und Politik Berlin, stellte fest, dass „Partnerschaft“ für Deutschland und Russland etwas Verschiedenes bedeute. Russland verknüpfe mit dem  Begriff „Partnerschaft“ in erster Linie die Modernisierung Russlands, für Europa impliziere der Begriff Wertepluralismus. Dazwischen liege in der Tat ein großer Unterschied. Er forderte, die Diskussion über Werte nicht in den Vordergrund zu stellen, sondern positive Themen – wie die praktische Zusammenarbeit im ökonomischen Bereich – zuerst zu besprechen.
 
Es sei natürlich richtig, die gemeinsamen Interessen in den Vordergrund zu stellen, so Karsten Voigt abschließend. Mit seiner Rede wollte er provokativ sein und eine kritische Diskussion anregen. Er habe Bedenken über die Methoden der Demokratisierung und Sorge wegen deren Konsequenzen.
 


Panel 1: 
Empire- oder Allianzbildung – Sicherheitspolitik im Schatten der USA
 
Zur Eröffnung der Tagung stellte Hans-Joachim Spanger, als Moderator der ersten Diskussionsrunde fest, dass die Schlangenbader Gespräche immer schon ein Spiegel der deutsch-russischen Beziehungen gewesen seien. So stand im letzten Jahr die scheinbare Auflösung des Westens im Mittelpunkt, was sich in der Bildung der „Anti-Kriegs-Achse“ zwischen Paris, Berlin und Moskau ebenso niederschlug wie in der Tatsache, dass zumindest in Schlangenbad die USA für ihr Vorgehen im Irak von deutschen Teilnehmern deutlicher kritisiert wurden als von russischen. Im abgelaufenen Jahr hingegen scheint sich so etwas wie eine Rekonstruktion des Westens vollzogen zu haben – und dies erneut in deutlicher Abgrenzung von Russland, wo vor allem demokratische Rückschritte kritisch registriert werden. So habe die EU eine Überprüfung ihrer Beziehungen zu Russland vorgenommen. Und auch in den USA gebe es eine sehr kritische Debatte, die sich u. a. in Colin Powells Artikel in der Iswestja im Januar niedergeschlagen habe. Das Verhältnis Putins zum Bundeskanzler wie auch zu den übrigen westlichen Regierungschefs sei mindestens so gut wie zu Jelzins Zeiten, so dass sich wie damals die Frage stelle, ob die Beziehungen auf die Freundschaft der Staatsmänner reduziert werden dürfe.
 
In seiner Überleitung zum 1. Panel warf Spanger zwei Fragen auf. An Russland gerichtet stelle sich die Frage, ob Partnerschaft gemeinsamer Werte und konkret übereinstimmender politischer Ordnungen bedarf. Und an den Westen gerichtet sei nach der Relevanz eines solchen Maßstabs zu fragen. Im Irak sei damit immerhin ein Krieg begründet worden, der zwar das alte Regime beseitigen, aber keineswegs den Regime Change oder gar das notwendige Nation Building vollenden konnte. Auch sei die Frage nach den sozio-ökonomischen und kulturellen Voraussetzungen demokratischer Ordnungen und deren Berücksichtigung in der westlichen Politik zu stellen.
 
In seinem Eröffnungsvortrag stellte Heinrich Vogel, Vorstand  Stiftung Wissenschaft und Politik Berlin, fest, dass der 11. September 2001 eine Zäsur im Hinblick auf das sicherheitspolitische Denken der USA darstellte. Die USA strebten Unverwundbarkeit an und hätten ihren rüstungstechnologischen Vorsprung im Verlauf der Feldzüge in Afghanistan oder im Irak ausgespielt. Nachdem sich herausgestellt hätte, dass die USA im Irak kein Nation Building im Alleingang betreiben könnten, reaktivierten sie wieder ihre Partner und die UNO. Dabei werden die Ereignisse des 11. September immer als Disziplinierungsmaßnahme gegenüber den Verbündeten eingesetzt. Trotz aller militärischer Überlegenheit blieben die USA im Rahmen von Konflikten mit globaler Bedeutung auf internationale Kooperation angewiesen. Laut Vogel seien in Zukunft wieder die Vereinten Nationen gefordert. Nur internationale Organisationen seien in der Lage, einen globalen Konflikt zu lösen. Dies impliziere aber einen Transfer staatlicher Souveränität an internationale Organisationen, wozu weder die USA noch Russland willens seien. In Zukunft habe die EU die Chance, ihr sicherheitspolitisches Profil zu stärken und ihren internationalen Einfluss zu vergrößern. Dabei komme ihr zu Gute, dass Macht im internationalen Umfeld immer mehr in Form von Einfluss ausgeübt werde. Die Bush-Administration projiziere ein Bild der permanenten Terrorgefahr, um ihre Macht zu erhalten und verstümmele dadurch die alte liberale Demokratie. Abschließend betonte Vogel im Hinblick auf die Demokratisierungsmethoden der USA im Nahen Osten, dass der Spruch „Polittechnokraten aller Welt, vereinigt euch“ nicht das Motto sein könne. Es sei aber ein globaler Trend.
 
Sergej Kortunow, Direktor „Komitee für außenpolitische Planung“ Moskau,  bezeichnete zum Auftakt seines Vortrages den Titel des Panels „Empire- oder Allianzbildung? – Sicherheitspolitik im Schatten der USA“ als dreieckiges Viereck. Kortunow verwies auf Karsten Voigt, der Russland in seiner Rede als Teil der europäischen Familie bezeichnet habe. Daher habe die EU zu Recht hohe Ansprüche an Russland und sei über seine innere Entwicklung sehr besorgt. Die EU brauche sich aber nicht allzu große Sorgen über Russland zu machen, weil Präsident Putin die nationale Modernisierung zur Hauptaufgabe seiner zweiten Amtszeit gemacht habe. Dies impliziere auch einen Ausbau der demokratischen Institutionen und eine Entwicklung hin zu einer post-industriellen Gesellschaft. Dies sei aber nur möglich, wenn Russland in seine Umgebung integriert sei. Kortunow verglich die heutige Lage Russlands mit dem Beginn der Integration der Bundesrepublik in die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft und dem damit verbundenen Wandel zur post-industriellen Gesellschaft. Putin könne diese Entwicklung einleiten, weil er zur Zeit der größte Demokrat in Russland sei und die Demokratie retten wolle.
 
Im Anschluss stellte Kortunow einige Thesen zur aktuellen Diskussion über das Empire Building vor. Erstens sei der Begriff des Imperiums keine absolute Kategorie. Zweitens komme die Zeit der Imperien wieder. Drittens seien die USA kein Imperium. Hierbei handele es sich um einen Mythos, auch wenn sich die USA für ein Imperium hielten. Laut Kortunow seien die Kriterien, die ein Imperium ausmachten, Wohlstand innerhalb des Imperiums, die Definition eines historischen Projekts, Toleranz gegenüber anderen Kulturen, Verantwortung für alle Bewohner des Imperiums und schließlich ein imperiales Ethos. Die USA entsprächen diesen Kriterien nicht, sondern seien lediglich eine Supermacht, die außenpolitisch eine freie Hand haben wollten. Die USA könnten deshalb keine Führung übernehmen. Dies impliziere, dass die EU und Russland in immer größerem Maße zu globaler Führung aufgefordert seien. Russland könne dies bereits, die EU müsse es lernen. Kortunow konstatierte eine globale Führungskrise und merkte an, dass kein Instrument der kollektiven Sicherheit funktioniere. Die Ursachen für die globale Führungskrise sah er in der Krise der NATO, die keinen politischen Willen habe, und in der Unfähigkeit der EU, Sicherheitspolitik zu machen. Kortunow resümierte im Lichte dessen, dass die USA, die EU und Russland drei gleichberechtigte Subjekte darstellten.
 
Egon Bahr, Bundesminister a.D., betonte zu Beginn seines Vortrags, dass die USA ihre Politik keineswegs nach den Grundsätzen der klassischen Imperialismustheorie entwickelten. Die USA seien die stärkste Macht, sie wollten es bleiben und gleichzeitig verhindern, dass eine stärkere Macht bzw. ein stärkeres Bündnis aus kleineren Mächten entstehen. Die USA strebten keine Weltherrschaft an, sondern nur Herrschaft in bestimmten Regionen. Sie wollten Herrschaft dort, wo es ihren Interessen entspräche. Bahr konstatierte, dass es zum ersten Mal in der Weltgeschichte eine globale Macht gebe, was spannend zu beobachten sei. Bisher hätte der Rest der Welt in Form des amerikanischen Irak-Feldzuges 2003 nur eine Erfahrung mit dieser neuen globalen Macht erlebt. Weil dies kein legaler Krieg gewesen sei, habe Deutschland sich nicht an ihm beteiligen dürfen. Er hob hervor, dass die deutsche Haltung gegenüber den USA völlig neu sei. Zum ersten Mal stehe die Bundesrepublik Deutschland in einem Konflikt nicht an der Seite der USA, sondern an der Seite Frankreichs. Nach Auffassung Bahrs stehe Bundeskanzler Gerhard Schröder mit dieser Entscheidung in einer Reihe mit den großen Kanzlern Adenauer, Brandt und Kohl.
 
Bahr verwies auf George Bush Senior, der nach dem Ende des Kalten Krieges zu der Ansicht gekommen war, dass allein die USA als primus inter pares eine neue Weltordnung schaffen könnten, sich dieser Ordnung aber auch selbst fügen müssten. Nach Bahrs Eindruck spreche das aktuelle Schweigen George Bush Seniors dafür, dass dieser die Politik seines Sohnes nicht befürworte. Bahr vertrat die Überzeugung, dass George Bush Junior den eingeschlagenen Weg ohne Rücksicht auf andere Staaten oder Institutionen fortsetzten werde. Die Nationale Sicherheitsdoktrin der USA vom September 2002 werde umgesetzt werden, zumal es keine Änderung der amerikanischen Interessen gebe. Nach Bahrs Ansicht werde es mit einem neuen Präsidenten eventuell eine neue Politik geben, aber an dem amerikanischen Interesse, global die mit Abstand stärkste Macht zu sein, werde sich nichts ändern. Darauf habe keine andere Macht Einfluss.
 
Bahr verwies in einer Replik auf Sergej Kortunow, der die Unfähigkeit der EU zu einer gemeinsamen Sicherheitspolitik kritisiert hatte, auf die militärische Schwäche der EU. Laut Bahr müsse eine EU-Armee aber nicht so stark sein wie die US-Armee. Die EU-Streitkräfte müssten lediglich einen Frieden in Nachkriegsregionen garantieren können. Bahr widersprach Kortunow auch bei seiner Bewertung der Politik Putins. Er halte Putin nicht für einen Demokraten. Die USA hätten Russland diese Demokratie „aufgeschwätzt“ und wollten solche Demokratien nun auch den Staaten des Nahen Ostens oktroyieren. 
 
Abschließend kam Bahr nochmals auf die EU zu sprechen. Seiner Meinung nach habe sich die EU zu schnell erweitert und zu langsam vertieft. Die EU brauche eine Zeit der Konsolidierung und der Anpassung der Institutionen an 25 Mitgliedsstaaten. Außerdem betonte Bahr die Notwendigkeit einer gemeinsamen Nahost-Politik der EU, die es so noch nie gegeben habe. Es dürfe auf absehbare Zeit nicht nochmals eine Erweiterung geben.
 
In der anschließenden Diskussion wies Günter Joetze, Botschafter a.D., darauf hin, dass nicht nur Frankreich und Deutschland die EU symbolisierten, sondern die Mehrzahl der EU-Staaten zu Beginn des Irak-Feldzuges an der Seite der USA standen. Ernst-Otto Czempiel stellte fest, dass durch den Irak-Krieg zum ersten Mal eine europäische Öffentlichkeit entstanden sei. Er unterstrich die Notwendigkeit, im Bereich der internationalen Beziehungen klar definierte Begriffe zu verwenden und den Begriff der „Partnerschaft“ zu überdenken, da er nicht aus der Politikwissenschaft stamme und ihm konkrete Inhalte fehlten. Stattdessen sei die Verwendung der Begriffe Integration, Assoziation, Allianz oder Freihandelszone aussagekräftiger. Bahr nahm Czempiels Anregung auf und definierte Partnerschaft als „Abstimmung der Interessen und Suche nach gemeinsamen Interessen“. Heinz Timmermann unterstrich, dass Partnerschaft im Verhältnis zwischen der EU und Russland mehr sei als Kooperation, aber weniger sei als eine Mitgliedschaft Russlands in der EU. Sergej Medwedjew, George C. Marshall Center, Garmisch-Partenkirchen, nahm Bezug auf Sergej Kortunow, als er anmerkte, dass ein Imperialismus ohne Imperien nicht möglich sei. Obwohl post-industrielle Gesellschaften zur Errichtung eines imperialistischen Systems nicht willens und nicht fähig seien, wollten die USA imperialistisch sein.
 
Klaus Wittmann, Brigadegeneral, Führungsakademie der Bundeswehr, Hamburg, wandte sich an Egon Bahr, der Gerhard Schröder als großen Kanzler bezeichnet hatte, weil er angesichts des Irak-Krieges 2003 im Verbund mit Frankreich versuchte, eine gemeinsame EU-Außenpolitik aufzubauen. Im Mai 2001 jedoch habe Schröder gesagt, die Bundesrepublik dürfe nie zwischen den USA und Frankreich als Partnern entscheiden müssen. Bahr erwiderte, dass Schröder keine anderen Wahl gehabt habe, als sich zwischen den USA und Frankreich zu entscheiden. In diesem Punkt sei Schröder klüger geworden. Ulrich Brandenburg, Stellvertretender Politischer Direktor, Auswärtiges Amt, wies in einer Replik auf Egon Bahr darauf hin, dass die EU keine 15 Jahre Zeit habe, um sich zu konsolidieren. Außerdem nehme die Bedeutung des Krisenmanagements der EU stetig zu. Die Aufgabe der EU bestehe nunmehr darin, ein politisch-militärisches Potential zu entwickeln. Auch entgegnete er Bahr, dass die EU durchaus eine gemeinsame Nahost-Politik habe. Egbert Jahn, Professor für Politikwissenschaft und Zeitgeschichte, Universität Mannheim, betonte, die zentrale Frage sei, welchen Einfluss Russland und die EU auf das Verhalten der USA im Irak hätten. Laut Ernst-Jörg von Studnitz, Botschafter a.D., Vorsitzender des Deutsch-Russischen Forums, Berlin, befinde sich die EU zwangsläufig im Schatten der USA. Von Studnitz geht – wie Egon Bahr – davon aus, dass niemand Einfluss auf die Entscheidungen der USA ausüben könne. Er glaube jedoch an die Existenz gemeinsamer Werte zwischen Deutschland und Russland und betonte, dass Werte und Interessen sich gegenseitig bedingten. Auch Andrej Sagorskij vertrat die Auffassung, dass sich Europa im Bereich der Sicherheitspolitik auch künftig im Schatten der USA befinden werde. Es gebe aber keine realen Lösungsvorschläge zur Überwindung dieses Zustands. In einer Replik auf Kortunow stellte er fest, dass Russland und die EU zu schwach seien, um mit den USA gleichberechtigt zu sein. Russland könne nur wählen, ob es Juniorpartner sein wolle oder nicht.
 
Alexander Rahr, Leiter der Körber-Arbeitsstelle Russland/GUS, Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik, erinnerte daran, dass Russland zu Beginn des Jahres 2001 zwischen den Positionen der USA und Frankreichs bzw. Deutschlands lavierte, um am Ende auf der richtigen Seite zu stehen. Sergej Kortunow merkte abschließend an, er wolle nicht von einem Lavieren Russlands in der internationalen Politik sprechen, sondern von pragmatischem Handeln. Seiner Meinung nach müsse das nationale Interesse Russlands darin bestehen, eine Kooperation mit den USA zu suchen, um Einfluss ausüben zu können. Russland sei keinesfalls an einem Scheitern der USA im Irak interessiert. Schließlich stellte Kortunow fest, dass trotz der Meinungsunterschiede zwischen Russland und den USA im Hinblick auf die russische Innenpolitik weiterhin ein guter Dialog zwischen beiden Staaten bestehe.
 
Nach Heinrich Vogels Auffassung bläst der Wind der Weltpolitik angesichts des politischen Kurswechsels in Spanien und Polen nicht in die Segel der USA. Seiner Einschätzung nach werde es aber selbst bei einem Regierungswechsel in den USA keinen Wandel zur Multilateralität geben. Das Gefühl der US-Vormachtstellung sei gesellschaftlich verankert und von außen nicht zu verändern. Vogel sieht Russland angesichts des derzeit hohen Ölpreises, der sehr eingeschränkten außenpolitischen Handlungsfähigkeit der EU und der großen Probleme der USA im Irak in einer komfortablen Position. Dies allein rechtfertige aber keine globale Führungsposition. Laut Vogel bestehe die Aufgabe der EU darin, sich die Grenzen der amerikanischen Übermacht bewusst zu machen und gleichzeitig Russland auf sein Lavieren hinzuweisen. Abschließend machte Egon Bahr nochmals auf die Gefahr einer zusätzlichen Erweiterung der EU aufmerksam. Schon jetzt herrsche innerhalb der EU ein gesteigerter Erwartungsdruck auf die reichen Mitgliedsstaaten. Laut Bahr sollte man nicht nur institutionell denken, sondern auch das Gewicht der Nationalstaaten beachten. Dies impliziere nicht, dass man automatisch wieder in die Kategorien der Nationalstaaten zurückfallen.
 


Panel 2:  
Wettlauf um China: Chancen und Risiken im Fernen Osten
 
Heike Holbig, Institut für Asienkunde Hamburg, startete ihren Vortrag mit einer Skizze der deutsch-chinesischen Beziehungen seit Anfang der 1990er Jahre. Dabei hob sie die Bedeutung Chinas als Wachstumsmarkt für Deutschland hervor: Das bilaterale Handelsvolumen betrage 50 Mrd. Dollar und solle bis 2010 auf 100 Mrd. Dollar steigen. In den letzten 25 Jahren sei die chinesische Wirtschaft um durchschnittlich 9 Prozent pro Jahr gewachsen. Das Ziel der KP-Führung sei es, das Land zu einem Global Player zu machen. Hier warf Holbig die Frage auf, wie berechtigt die Erwartungen an China und in China sind angesichts maroder Staatsunternehmen, steigenden Wettbewerbsdrucks durch den WTO-Beitritt, eines defekten Bankensystems und unzureichender sozialer Sicherung. Trotz dieser gewaltigen Herauforderungen vertrat Holbig die These einer hohen Steuerungsfähigkeit Chinas durch die KP. Im Unterschied dazu werde die Art und Weise der russischen Transformation in China sehr negativ wahrgenommen. Mit der russischen Transformation seien im Bewusstsein vieler Chinesen nur eine Demontage der bestehenden Strukturen, Anarchie und Korruption einher gegangen. Während aus chinesischer Sicht in Russland der Primat der Politik vorherrsche, dominiere in China der Faktor Wirtschaft über politische Themen. Eine Mehrheit der Chinesen wolle die Parteistrukturen beibehalten und die erwähnten wirtschaftlichen Probleme durch gesteigertes Wirtschaftswachstum lösen. Es sei jedoch möglich, dass die Dynamik des wirtschaftlichen Wandels eine Schwächung der KP nach sich ziehe, weil die soziale Basis der KP  zunehmend erodiere. Da der politische Reformdruck wachse, übe die Partei den Schulterschluss mit den Reformgewinnern. Holbig betonte, dass sie an keinen Zusammenbruch der politischen Ordnung in China glaube.
 
Wjatscheslaw Nikonow verwies zu Beginn seines Vortrags auf eine Prognose der Unternehmensberatung Goldman-Sachs, wonach China im Jahre 2050 noch vor den USA, Indien, Japan und Brasilien an der Spitze der wirtschaftlichen Entwicklung stehen werde. Nach Nikonows Auffassung mache man sich in China keine Gedanken um die eigene Transformation. Die chinesische Selbstwahrnehmung gehe davon aus, dass China eine höhere Kultur besitze als der Westen, dass es ein reiches Land und dass es durch eine Partei regierbar sei. Daher hielt Nikonow die Prognose von Goldman-Sachs für realistisch. Die größte Herausforderung im 21. Jahrhundert bestehe in der Integration Chinas in das internationale System, wobei China schon jetzt besser integriert sei als Russland. Nikonow stellte fest, dass Russland und China einige Gemeinsamkeiten verbänden. So strebten beide eine Lösung der Korea-Frage, eine Stärkung der Rolle der UNO, eine Verhinderung der Proliferation von Massenvernichtungswaffen und Multipolarität in den internationalen Beziehungen an. Allerdings habe das Primakow-Dreieck zwischen Russland, China und Indien ausgedient, weil es sich gegen die USA gerichtet habe. Nikonow unterstrich die Bedeutung Chinas für Russland als Handelspartner. China beziehe sehr viele Rüstungsgüter aus Russland und sichere somit das Überleben des russischen Militär-Industrie-Komplexes. Darüber hinaus könne Russland China auch mit Ressourcen versorgen. Schließlich warf Nikonow die – bisher zwischen beiden Staaten noch nicht thematisierte – Frage der chinesischen Immigration nach Russland auf. Die Immigration gut ausgebildeter Chinesen könne für Russland langfristig sehr wichtig werden, weil auf Grund der rückläufigen Bevölkerungsentwicklung Arbeitskräfte fehlten.
 
Zu Beginn der Diskussion relativierte Roland Götz, Leiter der Forschungsgruppe „Russische Föderation“, Stiftung Wissenschaft und Politik, Berlin, die Prognosen, indem er auf die enorme Export-Abhängigkeit Chinas im Bereich der Fertigwaren und seine starke Abhängigkeit von Energie-Importen verwies. Karl Grobe-Hagel, Frankfurter Rundschau, warf die Frage auf, ob das Wirtschaftswachstum die Parteiherrschaft langfristig zerstöre. Zudem wies er auf die Gefahr steigender Arbeitslosigkeit in den Ballungsräumen hin. Ewald Böhlke, Research and Technology, Daimler-Chrysler, Berlin, konstatierte, dass aus deutscher Sicht in China immer in erster Linie der Staat als entscheidender Akteur wahrgenommen werde. Er fragte, wer die eigentlichen Antriebskräfte des Wandlungsprozesses in China seien. Konstantin Eggert fragte, ob China bereit sei, eine Demokratie aufzubauen und welche Politik es in Zukunft verfolgen werde.
 
Heike Holbig identifizierte lokale Netzwerke und die Eliten der Partei- und Staatshierarchie als Treiber des Wandlungsprozesses in China. Zudem spielten die Auslandschinesen seit 25 Jahren eine sehr bedeutende Rolle. Die ältere Generation von Auslandschinesen aus dem asiatischen Raum sei schon lange aktiv, während die neue Generation vor allem aus Studenten bestehe. Jetzt gebe es eine Welle von Rückkehrern, die im Westen eine gute Ausbildung erhalten hätten. Die KP sei außerdem bemüht, das Image der Klassenpartei abzustreifen und sich zu einer modernen Volkspartei zu wandeln. In Bezug auf Karl Grobe-Hagel betonte Holbig, nur die KP könne ein weiter anhaltendes Wirtschaftswachstum garantieren. Die KP lasse in ihrem Bemühen um Volksnähe einen gewissen Populismus erkennen. So habe die Parteispitze ihr Verhältnis zur ländlichen Bevölkerung neu konzipiert, weil die ländliche Bevölkerung nicht mehr ausgegrenzt werde, sondern eine gesteuerte Migration mit dem Ziel einer verbesserten Humankapitalbildung stattfinde. Dadurch sollte soziale Mobilität nach oben ermöglicht werden.
 
In Bezug auf die Frage Konstantin Eggerts nach der Form der zukünftigen chinesischen Politik antwortete Wjatscheslaw Nikonow, dass man alles Mögliche als Demokratisierung betrachten könne. Es könne eine gewisse Demokratisierung geben, wenn sie den Interessen der politischen Führung entspreche. Eine Entwicklung im Sinne von Glasnost und Perestrojka schloss Nikonow in China aus. Ebenso schloss er einen wirtschaftlichen Kollaps Chinas aus. Er kenne kein Land, das mit zehn Prozent Wirtschaftswachstum eine Krise bekomme.
 
Ernst-Otto Czempiel sprach die Frage der chinesischen Rüstung an und vertrat die These, dass sich die US-Rüstung vor allem gegen die kommende Herausforderung Chinas richte. Damit werde ein Vorschieben des sicherheitspolitischen Glacis in Richtung des Fernen Ostens bewirkt. Außerdem nehme China die zunehmende Aufrüstung Japans, Südkoreas und Australiens – vor allem im Bereich der Raketenabwehr – als Drohkulisse der USA wahr. Peter W. Schulze fragte nach der Zusammensetzung der lokalen Netzwerke, die den Kurs der Transformation bestimmten. Zweitens warf er die Frage auf, ob es überhaupt eine Industrie- oder Technologiepolitik gebe und wer sie bestimme. Für Holbig spielten in den 1970er Jahren die Bauern die entscheidende Rolle, während in den 1980er Jahren die Kleinhändler die Agenden bestimmt hätten. In den 1990er Jahren seien klientelistische Netzwerke auf lokaler Ebene die bestimmende Gruppe gewesen. Jetzt seien die Agenden zunehmend durch den Staat bzw. die sehr straffe Parteiorganisation kontrolliert.
 
Wjatscheslaw Nikonow sprach die von Czempiel konstatierte kommende Rivalität zwischen China und den USA an. Es sei von großer Bedeutung, dass sowohl China als auch die USA von der Überlegenheit der eigenen Kultur ausgingen. Ferner betonte Nikonow, dass China im Vergleich zu Russland doppelt so viel für seine Rüstung ausgebe, und es verfüge über die zweitgrößte Armee der Welt, die zudem aus den Nachwuchs-Eliten der Gesellschaft rekrutieren könne. Auf Grund des Taiwan-Problems betreibe China eine starke Seerüstung und ein Weltraumprogramm. Auch habe China Interesse an der Entwicklung einer rüstungspolitischen Zusammenarbeit mit der EU bekundet.
 


Panel 3: 
Nach den russischen Wahlen: Was (ver) trägt die deutsch-russische
Partnerschaft?

 
Zu Beginn hielt Gert Weisskirchen, Außenpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, den Teilnehmer noch einmal das Ergebnis der Duma-Wahlen im Dezember 2003 vor Augen. Im Vorfeld der Wahlen hätte er ein Bündnis zwischen den Parteien Grigorij Jawlinskijs und Boris Nemzows für besser gehalten, da beide so ihre Chancen erhöht hätten. Trotz des enttäuschenden Ergebnisses der liberalen Parteien müsse insgesamt festgehalten werden, dass die Entwicklung Russlands vom Zusammenbruch der Sowjetunion bis heute einigermaßen positiv verlaufen sei. Der Westen habe die Hoffnung und die Erwartung, dass die Zeit der wirklichen Demokratisierung und der europäischen Entwicklung in Russland kommen werde. Laut Weisskirchen stelle sich jetzt die Frage, wie sich der Westen angesichts des derzeitigen Demokratiedefizits in Russland verhalten solle. Seiner Meinung nach bestehe eine Notwendigkeit zur Einmischung in die Modernisierung Russlands. Der Westen müsse dabei aber die eingesetzten Instrumente einer Prüfung unterziehen. So sei etwa der Petersburger Dialog viel zu stark bürokratisiert. Weisskirchen äußerte die Hoffnung, dass die Demokratie vor allem auch in den russischen Regionen Fuß fassen könne. Er erwarte zudem, dass die positive ökonomische Entwicklung Russlands auch seine Demokratisierung befördern werde. Gleichzeitig müsse man jedoch von offizieller Seite akzeptieren, dass sich die Zivilgesellschaft grundsätzlich auch in einem Widerspruch zur Macht befinden könne. In Russland müsse man gesellschaftliche Kontroversen zulassen und solche Widersprüche aushalten.
 
Erich G. Fritz, CDU, Vorsitzender des Unterausschusses Globalisierung, Deutscher Bundestag, betonte einleitend, dass es zwischen Deutschland und Russland ein Grundvertrauen und eine Grundsympathie gebe und verglich das deutsch-russische mit dem deutsch-französischen Verhältnis. Dies seien beste Voraussetzungen für konstruktive Beziehungen, doch wies er darauf hin, dass es auf Dauer keine exklusiven deutsch-russischen Beziehungen geben könne. Stattdessen müssten die Beziehungen zwischen Russland und der EU verstärkt werden. Die zentrale Frage bestehe laut Fritz darin, ob sich innerhalb oder außerhalb der Duma eine Vielfalt von Interessen und politische Partizipation entwickeln könne. Die schnelle Differenzierung der russischen Gesellschaft in den Städten äußere sich nicht in den Wahlergebnissen. Der Fall Chodorkowskij habe gezeigt, dass es in Russland im Moment keine Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz gebe. Dies rufe Unsicherheit hervor. Trotz allem überwiege in Deutschland ein positives Russland-Bild. Fritz hielt Weisskirchens Forderung nach einer Intensivierung der Kontakte bei gleichzeitiger Diskussion kritischer Punkte für richtig.
 
Dmitrij Ljubinskij, Stv. Direktor, 4. Europäische Abteilung des Außenministeriums der Russischen Föderation, stellte fest, dass die deutsch-russischen Beziehungen immer das Klima auf dem europäischen Kontinent bestimmt hätten. Er sah den Grund für die aktuell guten Beziehungen in der politischen Stabilität Europas nach dem Ende des Kalten Krieges. Obwohl die Zusammenarbeit Moskaus mit Brüssel nicht zu unterschätzen sei, komme bilateralen Gesprächen mit Berlin und Paris größere Bedeutung zu. Ljubinskij ist aber nicht davon überzeugt, dass die EU-Osterweiterung bessere Beziehungen zwischen Moskau und Brüssel impliziere. Obwohl er nicht im einzelnen auf die Duma-Wahlen eingehen mochte, müsse er doch die Behauptung Weisskirchens von der Beamtenmentalität russischer Duma-Abgeordneter zurückweisen.
 
Im Zentrum der Ausführungen Ljubinskijs stand die Ausgestaltung der deutsch-russischen Partnerschaft. Es sei notwendig, eine gegenseitige bewusste Abhängigkeit herzustellen und sich in der Bewertung zukünftiger Herausforderungen einig zu werden. Auch bedürfe es der Fähigkeit der Staatsmänner zu strategischem Denken. Darüber hinaus müssten die deutsch-russischen Beziehungen in einen europäischen bzw. internationalen Rahmen eingebettet sein, um Gedanken an einen Vergleich zu Rapallo überhaupt nicht aufkommen zu lassen. Laut Ljubinskij seien die Nutzung des russischen Luftraums für den deutschen Nachschub in Afghanistan und die russische Bereitschaft, der Bundeswehr Antonow-Transportflugzeuge und Land- bzw. Schienenwege zur Verfügung zu stellen, Indikatoren für die guten Beziehungen beider Länder. An dieser Stelle wies Ljubinskij auch darauf hin, dass Russland im Falle einer Erweiterung des UN-Sicherheitsrates einen ständigen Sitz Deutschlands befürworte. Abschließend bemängelte er die sehr geringe Investitionsbereitschaft deutscher Unternehmen in Russland und forderte mehr Austauschprogramme für Jugendliche, um deren Sprachqualifikation und den gesellschaftlichen Dialog zu verbessern. 
 
Zu Beginn der Panel-Diskussion vertrat Wjatscheslaw Nikonow die Ansicht, dass die Kritik aus Deutschland an Russland überzogen sei, weil Russland als ein Staat in der Transformation ein „ganz langweiliges, normales Land darstellt“. Auch wenn eine ideale Demokratie in Russland nicht zu finden sei, habe das Land im Vergleich mit der Türkei oder mit lateinamerikanischen Staaten ein geradezu vorbildliches politisches System. In einer Replik auf Erich G. Fritz merkte Nikonow an, dass 70 Prozent der russischen Bevölkerung die Verhaftung Chodorkowskijs unterstützt hätten. Ernst Jörg von Studnitz äußerte Verständnis für die russische Entwicklung unter Putin. Russland könne nicht schon jetzt eine ideale Demokratie errichten. Die deutsche Politik müsse daher endlich „in der Realität ankommen“. In diesem Punkt widersprach Erich G. Fritz von Studnitz. Kritik an Russland müsse erlaubt sein, da andernfalls eine weitere Autokratisierung der Politik erfolgen könne. Gleichzeitig dürfe aber trotz dieser Werte-Kritik die Chance für eine wirkliche Kooperation nicht vertan werden. In Bezug auf Gert Weisskirchen merkte Andrej Sagorskij an, dass man den Versuch einstellen sollte, zu messen, ob das System Putin oder das System Jelzin das bessere sei. Von Bedeutung sei vielmehr die Frage, ob es eine autoritäre Modernisierung geben könne. Er charakterisierte das politische System Russlands als „Sowjetunion mit Markwirtschaft“. Für Deutschland sei die innere Entwicklung Russlands natürlich sehr interessant zu beobachten. Dennoch dürfe die genaue Analyse und Kritik von Seiten Deutschlands kein Hindernis für die Zusammenarbeit darstellen. Heinz Timmermann hielt Sagorskij entgegen, dass das Ergebnis der Duma-Wahlen vom Dezember 2003 für Deutschland von großer Bedeutung sei. Schließlich existiere durch OSZE und Europarat zwischen beiden Staaten ein gemeinsames Wertesystem. Laut Sergej Medwedjew könne man sehr wohl Russland kritisieren. Er machte im Hinblick auf den Charakter der Beziehungen zwischen Staaten und Institutionen eine Unterscheidung zwischen drei verschiedenen Formen: „Zusammenarbeit“, wie beispielsweise zwischen der Sowjetunion und der EU beinhalte keine Verpflichtungen. Eine „Partnerschaft“ wie diejenige zwischen Russland und der EU enthalte politische Verpflichtungen, während eine „Mitgliedschaft“ strukturelle Verpflichtungen mit sich bringe. Da zwischen Russland und der EU eine Partnerschaft bestehe, sei Kritik von Seiten der EU an Russland berechtigt.
 
Peter W. Schulze wies auf die Zäsur der Jahres 1999/2000 hin, die zum ersten Mal wieder einen entwickelten und gestaltenden Staat mit sich brachte. Seitdem habe das einsetzende Wirtschaftswachstum zur Entwicklung gesellschaftlicher Gruppen und Parteien und zur Herausbildung und Pluralisierung von Interessen geführt. Alexander Rahr hielt die deutsch-russischen Beziehungen für sehr erprobt. Deutschland stelle für Russland den Schlüssel zum Westen dar und könne im Sinne Russlands großen Einfluss auf die mittel- und osteuropäischen Staaten ausüben. Nach Heinrich Vogels Einschätzung hätten sich die deutsch-russischen Beziehungen im Rahmen der strategischen Partnerschaft ganz gut gehalten. Doch dies seien laut Vogel Potemkinsche Fassaden, da in Russland tatsächlich eine semi-dynastische Struktur existiere. Vogel verwies dabei auf die Äußerungen Putins im Hinblick auf die nächste Wahl des russischen Präsidenten im Jahre 2008. Putin beabsichtige zwar nicht mehr zu kandidieren, wolle aber seinen Nachfolger im Präsidentenamt selbst bestimmen. Margareta Mommsen, Professor em. für Zeitgeschichte, Ludwig-Maximilians-Universität, München, machte in einer Replik auf Gert Weisskirchen geltend, dass die russische Duma sehr wohl ein funktionierendendes Parlament und darüber hinaus ein fleißiger Gesetzgeber sei. Sie wies darauf hin, dass auch im Westen viele Gesetze auf Vorlagen der jeweiligen Regierungen zurückgingen. Besonders während der Amtszeit Jewgenij Primakows 1998/1999 habe in Russland eine positive Entwicklung des Verfassungssystems – auch auf Grund der damaligen Schwäche Jelzins – stattgefunden. Fjodor Lukjanow Chefredakteur der Zeitschrift „Russia in Global Affairs“, betonte, dass das Potential einer Zivilgesellschaft durchaus vorhanden sei. Wenn die russische Bevölkerung mit konkreten Problemen konfrontiert sei, sei sie zum Handeln fähig. Dagegen könne man sie nicht für abstrakte Ziele gewinnen. Georgij Gerodes, Generalkonsul, Russische Föderation, Bonn, monierte im Zusammenhang mit den Duma-Wahlen die doppelten Standards des Westens. Das schlechte Abschneiden der westorientierten Parteien bei den Duma-Wahlen müsse als Tatsache akzeptiert werden. Laut Gerodes müsse man berücksichtigen, dass auch in seinem konsularischen Bezirk 73 Prozent der Wähler für Putin gestimmt hätten. Schließlich griff Dmitrij Ljubinsikij auf Sergej Medwedjews Aussage über die Ausgestaltung der Beziehungen zwischen Staaten bzw. Regimen zurück und unterstrich die Bedeutung der international viel beachteten Strukturen der Zusammenarbeit zwischen Russland und Deutschland. Außerdem sei die Stelle des Koordinators der deutsch-russischen zivilgesellschaftlichen Beziehungen in der Person von Gernot Erler hervorragend besetzt. Zuletzt konstatierte Ljubinskij, dass es einer stärkeren inter-parlamentarischen Kooperation zwischen Duma und Bundestag bedürfe.
 
Zum Abschluss des ersten Tages fand erstmals eine weitere Dinner Speech statt, zu der mit Walter Kolbow, Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesministerium der Verteidigung, ein langjähriger wohlwollender und engagierter Begleiter der Schlangenbader Gespräche begrüßt werden konnte. Er ging einleitend auf die sicherheitspolitischen Imperative der deutschen Außenpolitik ein, die von einem umfassenden Sicherheitsbegriff ausgehe. Dies impliziere, dass beispielsweise Failed States, organisierte Kriminalität und die Proliferation von Massenvernichtungswaffen alle Staaten beschäftigen müssten. Als weitere Faktoren des Sicherheitsbegriffs spielten politische, gesellschaftliche, ökonomische und ökologische Entwicklungen eine Rolle. Zweitens könne Sicherheit nicht im Alleingang erreicht werden. Die Bundesrepublik übe eine Kultur der Zurückhaltung aus, wobei Gewalt nur als Ultima Ratio in Frage komme. Drittens sei die deutsche Sicherheitspolitik multilateral eingebettet. Da die Bundesrepublik sowohl UNO, OSZE und NATO verpflichtet sei, gebe es mit der Bundesregierung keine „Coalitions of the Willing“. Kolbow stellte in diesem Zusammenhang fest, dass sich der Charakter der Bundeswehr durch diverse Auslandseinsätze von einer Verteidigungsarmee hin zu einer Armee im Einsatz verändert habe, weshalb die Bundeswehr zur außenpolitischen Handlungsfähigkeit Deutschlands beitrage. Viertens hielt Kolbow fest, dass die transatlantische Partnerschaft weiterhin die Grundlage für Deutschlands Sicherheit bilde. Die ESVP konkurriere nicht mit der NATO, sondern ergänze sie. Die EU habe durch die Polizei-Mission in Bosnien-Herzegowina und die Missionen in Mazedonien bzw. im Kongo aber an Handlungsfähigkeit gewonnen.
 
Abschließend unterstrich Kolbow den vorbildlichen Charakter der deutsch-russischen Zusammenarbeit in militär- und sicherheitspolitischen Fragen, so die Gewährung von Überflugrechten für deutsche Transportmaschinen auf dem Weg nach Afghanistan. Der NATO-Russland-Rat habe seit 2002 durch eine erweiterte und intensivierte Kooperation vor allem im Militärbereich eine neue Dimension bekommen und stelle ein zentrales Instrument der Kommunikation dar. Die Kooperationsfelder zwischen Russland und der EU sieht Kolbow vor allem in den Bereichen Zivilverteidigung, Transport, Katastrophenhilfe und der Verhinderung von Proliferation.
 
In der folgenden Gesprächsrunde machte Alexander Rahr darauf aufmerksam, dass der NATO-Russland-Rat um Georgien erweitert werden könne bzw. NATO oder EU und Russland gemeinsame Friedensbemühungen in Adscharien und Moldova übernehmen könnten. Peter W. Schulze sprach ebenfalls die Entwicklung des NATO-Russland-Rates an und fragte kritisch, ob es tatsächlich eine von beiden Seiten akzeptierte Offenheit und Gleichberechtigung bei der Kooperation im Rüstungsbereich gebe. Walter Kolbow sprach hierauf die sehr gute politische Kooperation zwischen NATO und Russland im Kosovo an. Allerdings sei eine Angleichung der Kommando-Strukturen wichtig. Innerhalb des NATO-Russland-Rats existiere eine vertrauensvolle Kooperation und eine positive Entwicklung in den Bereichen Politik und Militär. Auf Schulzes Frage antwortete Kolbow, zwischen Deutschland und Russland bestehe lediglich im Bereich der Raumfahrt die Möglichkeit zur Kooperation. Ewald Böhlke wies auf bereits gemeinsam stattfindende Übungen zwischen NATO-Streitkräften und der russischen Armee hin und fragte nach Möglichkeiten der gemeinsamen Prävention von Konflikten im „Nahen Ausland“.
 
Nach Ansicht Pawel Solotarjows , Generalmajor a.D., Stv. Direktor des USA- und Kanada-Instituts der Russischen Akademie der Wissenschaften, Moskau, unterschieden sich die sicherheitspolitischen Aufgaben der EU nicht von jenen Russlands. Es ergebe sich daher die Frage, wo es Schnittmengen gebe. Seinem Eindruck nach stehe die Diskussion über diese Frage erst am Anfang. Die Strukturen für die Bewältigung gemeinsamer sicherheitspolitischer Aufgaben sollten in absehbarer Zukunft geschaffen werden. Solotarjow eröffnete außerdem die Perspektive für eine gemeinsame Gründung von Rüstungsunternehmen bzw. für die gemeinsame Entwicklung und Nutzung verschiedener Waffensysteme, um so auf beiden Seiten Kosten zu sparen. Schließlich wandte er sich an Walter Kolbow, der in seiner Rede deutlich gemacht habe, dass er kaum Chancen für eine deutsch-russische rüstungstechnologische Zusammenarbeit sehe. Solotarjow fragte Kolbow, woran das liege.
 
Bezüglich der Rüstungskooperation blickte Kolbow auf das Scheitern des Projektes „Antonow 70“ und die nachfolgende Stagnation zurück. Er ging jedoch davon aus, dass die Europäische Rüstungsagentur in diesem Zusammenhang in Zukunft eine positive Rolle spielen könne. Klaus Wittmann fügte den Bemerkungen Solotarjows hinzu, dass es in der Praxis im Vergleich zu den Vorstellungen russischer Militärs einen besseren Umgang mit Russland gebe. Aber sämtliche Generäle und Obersten, die im NATO-Russland-Rat gearbeitet hätten, seien nach ihrer Rückkehr nach Russland versetzt oder pensioniert oder auf andere Art und Weise abgewertet worden. Wittmann forderte auf russischer Seite einen Abbau von Klischees und Hemmnissen im Hinblick auf die NATO. Abschließend warf Andrej Sagorskij die Frage nach der Bereitschaft der Bundesregierung an einer Friedensoperation im Irak mit UN-Mandat auf. Kolbow erteilte der Entsendung deutscher Soldaten eine Absage, betonte aber, dass man sich an der Ausbildung von Sicherheitskräften beteiligen könne.
 

Panel 4:
Strategische, taktische oder keine Partnerschaft – Das schwierige
Verhältnis zwischen Russland und der EU

 
In seinem Einführungsvortag ging Wladimir Ryschkow, Mitglied der Staatsduma, Moskau, zuerst auf die Bemerkung Gert Weisskirchens vom Vortag ein. Er widersprach entschieden der These von der Bedeutungslosigkeit des russischen Parlaments. Laut Ryschkow beweise die harte parlamentarische Diskussion um die Ratifizierung der Grenze zur Ukraine die Existenz eines Meinungspluralismus, auch wenn das Parlament nach Ryschkow Einschätzung heute geschwächt sei. Nach seinem Eindruck werde die EU im Hinblick auf die Kooperationsmöglichkeiten mit Russland von Euroskeptikern beherrscht, die über die Eurooptimisten dominierten. Ryschkow hält sich selbst für einen russischen Eurooptimisten, zumal die jetzige Erweiterung die Abhängigkeit zwischen Russland und der EU verstärke. Daher gewänne Russland für die EU an Bedeutung. Umgekehrt spiele die EU schon länger eine herausragende Rolle für Russland, denn die Handelsbeziehungen zwischen der EU und Russland machten 55 Prozent des russischen Außenhandels aus, während auf den Handel mit den USA nur sechs Prozent bzw. auf den Handel mit China nur fünf Prozent entfielen. Nach Ryschkows Ansicht sei die Strategie der Zusammenarbeit zwischen Russland und der EU von 1999 veraltet. Jetzt müsse es in Brüssel eine neue Strategie für Russland geben. In allen Punkten sei die EU Russland in den jüngsten Verhandlungen entgegen gekommen. So sei bei der Frage des Umgangs mit der russischen Minderheit in Lettland ein guter Kompromiss gefunden worden. Auch der Transitverkehr zwischen Russland und Kaliningrad werde geregelt.
 
Ryschkow verglich Russland in den Beziehungen mit der EU als Lokomotive und als im Hinblick auf die Integration offensiv, während er die EU als Bremserin und in Fragen der Integration als defensiv betrachtete. Als Beispiel führte er die Initiativen Putins zur Regelung des Transitverkehrs zwischen Russland und der Exklave Kaliningrad sowie generell zum Visaregime an. Die EU müsse die Problematik zuerst untersuchen, dann besprechen, finde aber keine Lösung. Russland nehme Anregungen schneller auf und prüfe sofort die Möglichkeiten nach deren Umsetzung. So habe Wladimir Putin – nachdem Romano Prodi die Möglichkeiten eines gemeinsamen Wirtschaftsraumes und eines möglichen russischen WTO-Beitritts angesprochen hätte – sofort eine hochrangige Kommission eingerichtet. Was die zukünftige Ausgestaltung der Beziehungen betrifft, werde in großen Teilen der russischen Bevölkerung befürchtet, dass die neuen EU-Staaten eine anti-russische Position einnehmen könnten. Eine gegen Russland gerichtete Politik werde vor allem von Warschau, Prag, Tallin und Riga erwartet. Nach Ryschkows Ansicht nähmen die mittel- und osteuropäischen Staaten künftig aber eine positive Einstellung gegenüber Russland ein. Er erwarte nach der Osterweiterung daher eine neue EU-Ostpolitik. Es sei jedoch problematisch, dass niemand sagen könne, was das Ziel der EU-Integration sei. Romano Prodi hätte in diesem Zusammenhang vor kurzem betont, dass weder die Ukraine noch Moldawien Mitglied der EU werden könnten. Demgegenüber habe Russland immer eine konsequente Position vertreten und bekundet, dass es nicht Mitglied der EU werden wolle. Nichtsdestoweniger gebe es im Rahmen des Konzepts der gemeinsamen Räume, des Energiedialogs und eines möglichen WTO-Beitritts ein größeres Potential der Annäherung.
 
Rudolf Scharping  MdB, Bundesminister a.D., unterstrich zu Beginn seines Vortrags, dass eine Zusammenarbeit zwischen der EU und Russland in globalen Fragen unbedingt notwendig sei. Sowohl Russland als auch Deutschland hätten ein starkes Interesse an einer Kooperation im Bereich der Energieversorgung. Auch schlug Scharping vor, eine gemeinsame Entwicklungsbank zur Förderung der Infrastruktur und zur Unterstützung mittelständischer Betriebe zu gründen. Scharping widersprach Ryschkow in Bezug auf dessen Ansicht über die Einstellung der mittel- und osteuropäischen Staaten gegenüber Russland. Laut Scharping gebe es doch eine beträchtliches Maß an anti-russischen Einstellungen. Das Ziel der EU bestehe darin, anti-russische Gefühle zu verringern. Nach Scharpings Eindruck seien die deutsch-russischen Beziehungen in einem ungewöhnlich guten Zustand. Aber auf Grund der Sozialisation der Politiker im Ost-West-Konflikt existierten noch immer Restbestände des Blockdenkens. Weil sich die zukünftigen Konflikte jedoch laut Scharping auf der Nord-Süd-Achse abspielten, sei eine Kooperation in der nördlichen Hemisphäre unbedingt erforderlich.
 
In der folgenden Diskussion hielt Wjatscheslaw Nikonow Scharpings Vorschlag zur Errichtung einer deutsch-russischen Entwicklungsbank für sehr positiv. Wolfram Schrettl, Professor für Volkswirtschaftslehre, Freie Universität, Berlin, widersprach Ryschkows Einschätzung, dass Russland der aktivere Partner in der Beziehung mit der EU sei: „Russland sei der Bewerber und Brüssel sei die Braut“, so Schrettl. Egbert Jahn konnte sich eine Relativierung sowohl der Position Scharpings als auch der Auffassung Ryschkows in Bezug auf die Einstellung der Gesellschaften in der mittel- und osteuropäischen Staaten gegenüber Russland vorstellen. Er plädierte für einen bewussten Verzicht auf Äußerungen über einen möglichen Beitritt von Moldawien und der Ukraine, weil die Integrationsfähigkeit der EU zu stark strapaziert sei. Nach Günter Joetzes Auffassung gebe es in den deutsch-russischen Beziehungen eine Tendenz zur Distanzierung. Dies sei nicht wünschenswert, denn „wenn die Beziehungen gut sind, findet man immer wieder neue Probleme“. Er konstatierte, dass das größte Problem für die gemeinsame EU-Außenpolitik in der Kluft zwischen den Mitgliedsstaaten hinsichtlich der Ausgestaltung der Beziehungen zu den USA bestehe. Wenn die neuen EU-Mitglieder sich darüber bewusst geworden seien, dass ihre Bedenken gegenüber Russland nicht berechtigt seien, ginge auch die bisher starke Anlehnung an die USA zurück. Andrej Sagorskij forderte eine Klärung des Begriffes des „gemeinsamen Wirtschaftsraums“. Laut Sagorskij müsse in einem gemeinsamen Wirtschaftsraum nach der Anpassung der nationalen Gesetzgebung eine gemeinsame Rechtsgrundlage bestehen.
 
Margareta Mommsen wies darauf hin, dass Jelzin im Rahmen des russisch-amerikanischen Gipfels 1997 sehr wohl von der Möglichkeit eines russischen EU-Beitritts gesprochen hatte. Dies müsse allerdings vor dem Hintergrund der damals bevorstehenden NATO-Osterweiterung gesehen werden. Fjodor Lukjanow merkte an, dass beide Seiten vor technischen und inhaltlichen Problemen stünden, weil die EU-Bürokratie im Vergleich zur russischen Bürokratie viel effizienter sei. Auch verstehe die russische Bürokratie die Funktionsweise ihres Pendants in der EU nicht. Laut Lukjanow sei es wichtig, nicht „Großes“ zu planen, sondern die alltägliche Zusammenarbeit zu verbessern. Alexander Rahr betonte, dass Russland eher eine Zusammenarbeit mit den Staaten des Kaukasus und der GUS anstrebe. Allerdings stelle Kaliningrad einen Präzedenzfall für die Kooperation zwischen Russland und der EU dar. Schließlich verwies Rahr auf die erheblichen Schwierigkeiten einer Demokratisierung in Belarus. Auch Heinz Timmermann sah in der Lösung des Transitproblems Kaliningrads eine wesentliche Voraussetzung für die zukünftige Entwicklung der Beziehungen zwischen Russland und der EU generell und zwischen den baltischen Staaten und Russland im Besonderen. Timmermann merkte an, dass die EU Belarus nicht aufsaugen wolle. Vielmehr bestehe von Seiten der EU ein Interesse an der Demokratisierung in Belarus. Helmut Domke, Referatsleiter GUS, Mittel- und Osteuropa, Ministerium der Justiz und für Europaangelegenheiten Brandenburg, wies darauf hin, dass die EU am Beispiel Kaliningrads ihre neue Nachbarschaftspolitik gegenüber Russland testen könne. Nach seinem Eindruck habe Russland bei der Lösung der Kaliningrad-Problematik kurzfristig einen politischen Willen, der aber langfristig fehle. Zudem habe Kaliningrad keine Lobby in Moskau. Jewgenij Gawrilenkow, Chefökonom und Managing Director, Trojka Dialog, Moskau, forderte Anregungen für einen verstärkten Diskurs. Nach seinem Dafürhalten fördere ökonomische Zusammenarbeit die politischen Beziehungen. Bei einem visafreien Verkehr befürchte er allerdings, dass viele Russen in die EU drängten. Georgij Gerodes wies auf die drei Millionen in Deutschland lebenden Übersiedler hin. Damit befinde sich Russland doch quasi schon in der EU. Laut Wilhelm Hankel, Professor für Volkswirtschaftslehre, Universität Frankfurt, bestehe Bedarf an einer verstärkten Währungskooperation zwischen Russland und der EU. Solch eine Kooperation sei auch für eine zunehmende Fakturierung des Handels in Euro nützlich. Schließlich sollten Russland und die EU durch die Schaffung eines monetären Komitees zwischen den Zentralbanken eine gemeinsame Politik gegenüber dem Dollar betreiben.
 
Rudolf Scharping hielt fest, dass die Kooperation zwischen der NATO und Russland besser funktioniere als zwischen der EU und Russland. Dies liege an der klaren Struktur, der klaren Führung und den klaren Zielen der NATO. Dies alles fehle der EU, weshalb es vonnöten sei, dass sie klare Interessen, Prioritäten und Ziele festlege. Auf Grund der vielfachen internen Probleme der EU und ihrer mangelnden Konsolidierung müsse klar sein, dass die EU auf lange Zeit nicht erweiterungsfähig sei. Wladimir Ryschkow kam abschließend auf die Beziehungen zwischen Russland und seinen Nachbarstaaten zu sprechen, wobei er ein großes Annäherungspotential durch wirtschaftliche Zusammenarbeit sah. Zwischen Russland und den baltischen Staaten solle in Zukunft nach dem Vorbild der EU das Konzept der vier Freiheiten von Kapital, Dienstleistungen, Waren und Personen umgesetzt werden. Auch die Ukraine sei für Russland angesichts ukrainischer Stahllieferungen und des Öltransports sehr wichtig, wobei eine EU-Perspektive seiner Einschätzung nach auf lange Sicht nicht gegeben sein werde. Anhand des Beispiels des letztjährigen Gasskandals verdeutlichte Ryschkow abschließend das problematische Verhältnis zu Belarus als Handelspartner.


Fortsetzung des Panels mit dem Schwerpunkt Sicherheit und Militär
 
Zu Beginn seiner Ausführungen ging Ulrich Brandenburg auf das im Verlauf des letzten deutsch-russischen Gipfels im Jahre 2003 vereinbarte Konzept der vier gemeinsamen Räume der äußeren bzw. inneren Sicherheit und der kulturellen bzw. wirtschaftlichen Zusammenarbeit ein. Er werde sich im Folgenden ausschließlich mit dem Bereich der äußeren Sicherheit beschäftigen. Vorab merkte Brandenburg an, dass die ESVP seiner Meinung nach nur aus der Not geboren sei: Der Kosovo-Konflikt habe das Fehlen einer europäischen Sicherheitspolitik gezeigt und sei daher ein entscheidender Impuls für deren Entwicklung gewesen. Schließlich habe das Auseinanderbrechen der EU angesichts des Irak-Konflikts ihre außenpolitische Schwäche demonstriert. Brandenburg schloss daraus, dass man der ESVP einen strategischen Rahmen geben müsse. Er stellte die Frage, ob die EU institutionell auf eine Zusammenarbeit mit Russland in den Bereichen Sicherheit und Außenpolitik vorbereitet sei. Die EU sei kein Zweckbündnis, sondern ein Gebilde sui generis. Die supranationale Organisation und die Übertragung von Sicherheit auf gemeinsame Institutionen erfordere ein hohes Maß an Formalisierung, was sich jedoch im Verbund mit dem Ad-hoc Charakter der halbjährlichen Präsidentschaften als schwierige Kombination erweise. Dies bringe einen künstlichen Zeitdruck, der erst abnehmen werde, wenn die Einführung des Amtes eines gemeinsamen EU-Außenministers gelingen werde. Russland nehme die EU-Außenpolitik nicht ernst, obwohl die EU mit Russland ein enges Netzwerk der Beziehungen habe wie mit kaum einem anderen Staat. Hier stelle sich die Frage nach der Grundlage der beiderseitigen Partnerschaft. Brandenburg sieht sowohl die Existenz gemeinsamer Werte als Fundament der Partnerschaft als auch verschiedene Traditionen. Die EU stehe für Multilateralismus, die Herrschaft des Rechts und für Kompromisssuche. Hingegen werde Russland mit anderen Kategorien in Verbindung gebracht: tausendjährige Tradition, frühere Supermacht, lange autoritäre Tradition, autoritäre Tendenzen an den Rändern der GUS, UNO-Veto, Nullsummenspiel. Doch entgegen der alten Logik des Nullsummenspiels trat Putin nach dem 11. September sofort der Koalition gegen den Terror bei, aus gemeinsamem Interesse. Brandenburg konstatierte ferner gemeinsame Interessen bei der Verhinderung der Proliferation von Massenvernichtungswaffen, bei der Drogenbekämpfung und bei der Schaffung politischer Stabilität. Schließlich verbänden gemeinsame Interessen an Demokratie und Stabilität im Nahen Osten.
 
Pawel Solotarjow sah in Bezug auf die EU und Russland sowohl Grund zum Optimismus als auch negative Faktoren. Auf Grund der Globalisierung der Bedrohungsfaktoren existierten gemeinsame Bedrohungen, die Alleingänge ausschlössen. Vor diesem Hintergrund plädierte Solotarjow für eine verstärkte Kooperation im Bereich neuer Waffen- und Rüstungstechniken. Angesichts der Gefahr der Proliferation von Massenvernichtungswaffen werde oft vergessen, dass konventionelle Waffen ungehindert in Krisengebiete gelangten. Laut Solotarjow sei die NATO im Gegensatz zur EU für diesen Zweck nicht geeignet. Im Hinblick auf sicherheitspolitische Themen sei die NATO auf Grund des Einstimmigkeitsprinzips handlungsunfähig. Diese sicherheitspolitische Nische könne aber auch nicht durch die ESVP besetzt werden. Schließlich nahm Solotarjow Bezug auf Klaus Wittmanns Aussage vom Vortag, dessen Feststellung von der Degradierung, Versetzung oder Pensionierung ehemals in Brüssel stationierter hoher russischer Militärs er bekräftigte. Laut Solotarjow zeige dies, dass an der Spitze des russischen Verteidigungsministeriums noch immer „Kalte Krieger“ stünden.
 
In der anschließenden Diskussion nahm Sergej Medwedjew zuerst Bezug auf Ulrich Brandenburgs Frage nach der „Herkunft Europas und Russlands“. Dabei verwies er auf Robert Kagan, der den Unterschied zwischen den USA und Europa darin sieht, dass Europa von der Venus komme, während die USA vom Mars seien. Russland komme – um bei diesem Bild zu bleiben – ebenfalls vom Mars. Hans W. Odenthal , Oberst, i.G., Studienleiter, Bundesakademie für Sicherheitspolitik, Bonn, beklagte die fehlende Beteiligung russischer Militärs an NATO-Fortbildungen und den daraus resultierenden Mangel an Kenntnissen über NATO-Mechanismen. Ernst Jörg von Studnitz fragte kritisch nach den Möglichkeiten einer russischen Militärreform und merkte an, dass solch ein Reformvorhaben nur dann verwirklicht werden könne, wenn das russische Verteidigungsministerium die Reform selbst in die Hand nehme. Heinz Timmermann warf in diesem Zusammenhang die Frage auf, warum sich die USA bei der Militärreform einer Kooperation mit Russland verweigerten.
 
Solotarjow gab in seiner Antwort zu bedenken, dass das Vorhaben der Militärreform in keinem einzigen Dokument festgehalten sei. Er machte ein Potential der Veränderung aus, wobei die Struktur der russischen Armee seiner Meinung nach nicht schnell verändert werden könne. In einer Replik auf Ernst Jörg von Studnitz wies er darauf hin, dass die Initiative zur Verwirklichung der Militärreform von außen kommen müsse, da viele Aufgaben der Armeereform zum Beispiel in der Präsidialadministration oder im Finanzministerium entschieden würden und demokratische Einstellungen innerhalb der russischen Armee kaum vorhanden seien. Ulrich Brandenburg gab Hans W. Odenthal recht, dass die Zusammenarbeit zwischen NATO und Russland nicht mehr in dem Maß funktioniere, wie dies beim Engagement Russlands in Bosnien-Herzegowina in den Jahren 1999/2000 der Fall war. Nach seiner Auffassung müsse die Entwicklung der militärischen Zusammenarbeit innerhalb der EU dahin gehen, dass eine EU-Rüstungsindustrie geschaffen werde, die im Vergleich zur NATO eine höhere Integration enthalte. Von der Planung über die Ausführung bis zur Beschaffung müsse alles unter einem Dach abgewickelt werden. Abschließend kritisierte Brandenburg das zu große Maß an Grundsatzdiskussionen in Bezug auf GASP und ESVP und nannte als Beispiel die „Gespensterdebatte“ um einen möglichen ESVP-Einsatz in Moldawien.
 


Panel 5:
Von der „gelenkten Demokratie“ zur „gelenkten Wirtschaft“ ?
Imperative der ökonomischen Modernisierung

 
Jewgenij Gawrilenkow betonte zu Beginn seines Referats, dass er nicht auf die Jukos-Affäre eingehen wolle, sondern im folgenden Abstraktes besprechen und in längeren Zeiträumen denken werde. Zum Auftakt konstatierte er den Willen des russischen Staates zu einer liberalen Wirtschaftspolitik, aber auch die großen Schwierigkeiten bei deren Umsetzung. Eine autoritäre Modernisierung nach dem Vorbild Koreas oder Taiwans sei in Russland nicht möglich, da in Russland der Prozess der Urbanisierung längst abgeschlossen sei und kein Bevölkerungswachstum stattfinde. Zudem bestehe von Seiten der Regierung auf Grund der hohen Deviseneinnahmen aus der Erdölförderung ein überhöhtes Interesse am Energiesektor, den Gawrilenkow als Katalysator des russischen Wirtschaftswachstums bezeichnete. Jedoch verringere der hohe Ölpreis erstens den Investitionsdruck innerhalb der russischen Wirtschaft und führe zu einer großen Abhängigkeit vom Ölexport. So bleibe die dringend benötigte Diversifizierung aus. Darüber hinaus sei bei einer Konzentration auf den Energiesektor die Arbeitskraft der russischen Bevölkerung nicht ausgelastet. So sei letztes Jahr die Beschäftigung trotz eines siebenprozentigen Wachstums um sechs Prozent zurückgegangen. Laut Gawrilenkow seien die mikroökonomischen Bedingungen für die Unternehmen gut. Ein großes Problem stelle weiterhin die Unterentwicklung des Banksektors dar. So hätten die russischen Banken eine zu geringe Kompetenz im Hinblick auf die Vergabe großer Kredite, weshalb immer noch eine Finanzierung über internationale Banken notwendig sei. Gawrilenkow beendete seinen Vortrag mit der Einschätzung, dass die ein höheres Volkseinkommen auch die Nachfrage nach Demokratie erhöhe.
 
Klaus-Dieter Bergner, Senior Vice President, Central & Eastern Europe, European Aeronautic Defense and Space Company (EADS), Paris, unterstrich zum Auftakt seines Beitrags, dass die staatliche Kontrolle bestimmter Industriezweige weltweit verbreitet und daher nicht unüblich sei. Auch in den USA, wo die Rüstungsbetriebe unter privatwirtschaftlicher Kontrolle seien, fänden Beschaffungspolitik, Forschung und Entwicklung unter der Aufsicht des Staates statt. Laut Bergner finde im Falle von Rüstungsunternehmen immer zuerst eine nationale Konsolidierung statt, damit sich die Unternehmen die nötige Stärke zulegen könnten, um auf dem internationalen Markt zu bestehen. Hier stelle Russland keine Ausnahme dar. Bergner betonte, dass internationale Kooperation im Rüstungsbereich erst erlernt werden müsse, damit sie aus der Perspektive des Nationalstaates gelassener ertragen werden könne. Im Rüstungsbereich bestehe tendenziell ein geringes Interesse an Kooperation, weil jeder Staat in erster Linie seine Fähigkeiten sichern möchte. Daher sei eine deutsch-russische Kooperation im Rüstungsbereich noch nicht möglich. So bereite im Falle des gemeinsamen  Baus des Transportflugzeugs Antonow A 400 M schon die Lieferung des Fahrwerks durch einen russischen Zulieferer Probleme, weil dies eine Weitergabe rüstungstechnischen Know-Hows bedeute.
 
Zu Beginn der anschließenden Gesprächsrunde verglich Peter W. Schulze die Struktur der russischen Wirtschaft mit der eines „Sandwich“. Die dünne obere Schicht bestehe aus kapitalintensiven international operierenden Konzernen, die dicke, mittlere Schicht aus riesigen ehemaligen Sowjetbetrieben, die keine Investitionen erfahren hätten. Die dünne untere Schicht sei aus kleinen, neu gegründeten Unternehmen zusammengesetzt. Laut Oliver Wieck, Geschäftsführer, Ostausschuss der Deutschen Wirtschaft, Berlin, sei die Frage der Finanzierung des russischen Mittelstandes völlig offen. Zudem müsse man die vertikale Integration der natürlichen Monopole auflösen. Nach Wilhelm Hankels Einschätzung existiert eine große Differenz zwischen dem Energiesektor, dem viele Investitionen zugeflossen seien, und dem stark vernachlässigten Rest der Wirtschaft. Hankel verglich die Lage der russischen Wirtschaft mit der Situation in der Bundesrepublik Anfang der 1950er Jahre. Erst als die Banken hierzulande eine gewissen Stärke erreicht hätten, wäre ihre Umverteilungsfunktion wirksam geworden. Dies stehe in Russland noch aus.
 
Im Hinblick auf die Aussagen Schulzes und Hankels stellte auch Gawrilenkow einen Mangel an Kapital auf dem russischen Markt fest. Da sich auf Grund der geringen Kapitalisierung des russischen Marktes das Kapital schnell vermehren müsse, gebe es keine langfristigen Investitionen und nur einen langsamen Prozess der Kapitalakkumulation. Wolfram Schrettl entgegnete Gawrilenkow, dass es auf dem russischen Kapitalmarkt keinen Geldmangel gebe. Es gebe – im Gegenteil – Überschussreserven. Die Banken hätten auf Grund der unsicheren politischen und ökonomischen Lage Angst, Geld zu investieren. Heinrich Vogel widersprach Gawrilenkows Aussage vom Zusammenhang von Wirtschaftswachstum und Demokratisierung und nannte exemplarisch das Beispiel Saudi-Arabiens. Nach Vogels Auffassung hat sich die Struktur des Sozialprodukts in Russland seit den Zeiten der Sowjetunion nicht entscheidend verändert. Russland sei weiterhin abhängig von Weltmarktpreisen. Er unterstrich des weiteren die Bedeutung des demographischen Faktors und warf die Frage auf, aus welchen Mitteln die Sozialleistungen für die kranke und überalterte russische Gesellschaft kommen sollten. Roland Götz verwies auf die administrative Festsetzung der russischen Energiepreise, weshalb die Binnenpreise viel niedriger seien als jene, die dem Ausland abverlangt würden. Die Regierung begründe dies sozialpolitisch, bediene aber tatsächlich nur sektorale Wirtschaftsinteressen. Auf Grund der fehlenden Anreize zur Einsparung sei der Energieverbrauch extrem hoch. Dadurch werde auch der dringend benötigte Strukturwandel der russischen Wirtschaft behindert. Götz vertrat abschließend die These, dass Gasprom niedrige Energiepreise im Inland trotz der daraus resultierenden Verluste akzeptiere, aber im Gegenzug vom russischen Staat nicht zur Restrukturierung gezwungen werde. Jürgen Möpert, Leiter der Vertretung Wintershall AG in der Russischen Föderation, sprach den Gashandel zwischen Russland und Deutschland an. Der letztjährige „Gaskrieg“ sei laut Möpert nur möglich gewesen, weil wichtige Eigentumsfragen und Fragen des Preises nicht rechtzeitig abgeklärt worden seien. Während die technologische Verständigung zwar funktioniert habe, machte er im Bereich der politischen Kommunikation einige Defizite aus. Schließlich merkte Möpert an, dass die russische Wirtschaft schon in der EU angekommen sei, wenn man bedenke, dass Gasprom bereits eine Milliarde US-Dollar in Deutschland investiert habe. 

 

Protokoll:
Kerstin Zimmer
Stephan Kieninger