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Protokoll 2003



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Mit dem 6. Schlangenbader Gespräch haben sich auf Seiten der Veranstalter einige Veränderungen ergeben, auf die hier einleitend noch einmal hingewiesen sei. Zum einen ist nach zehnjähriger Tätigkeit Peter W. Schulze als Leiter des Moskauer Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung ausgeschieden. Als Nachfolger und künftiger Ansprechpartner in Moskau wurde Matthes Buhbe bestellt. Allerdings wird Herr Schulze bis auf weiteres im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung die Schlangenbader Gespräche betreuen. Des Weiteren konnte ein neuer russischer Partner für die Ausrichtung der Gespräche gewonnen werden: das neu gegründete Institut für Angewandte Internationale Forschung in Moskau. Es war auf den diesjährigen Gesprächen durch seinen Direktor, Wadim Rasumowskij, seinen Stellvertretenden Direktor, Andrej Sagorskij, sowie das Mitglied seines Wissenschaftlichen Rates, Aleksandr Dynkin, vertreten.
  Erwartungsgemäß standen die Schlangenbader Gespräche 2003 ganz unter dem Eindruck des Irak-Krieges und der Auseinandersetzungen im Vorfeld des Krieges, die Berlin, Moskau und Paris erstmals in einer weltpolitisch bedeutsamen Frage zusammengeführt und zu deutlicher Kritik an der Politik der USA und Großbritanniens veranlasst haben. Die Herausbildung dieser „Koalition der Unwilligen“, ihre Motive, Bedeutung und Zukunft – auch für den Zusammenhalt des Westens – bildete gleichsam die „Achse“ des diesjährigen deutsch-russischen Gesprächskreises, zu dem sich über fünfzig Teilnehmer in Schlangenbad einfanden.
 
In seiner Einleitung zur Dinner Speech merkte Peter W. Schulze an, dass die Schlangenbader Gespräche sich als Spiegel der deutsch-russischen Beziehungen erwiesen hätten. Im Laufe der Jahre habe man sich von bilateralen Themen weg, hin zu ordnungspolitischen Themen bewegt. Standen die Gespräche 1999 ganz im Zeichen des Kosovo-Konflikts, bildeten in den Jahren 2000 und 2001 Multipolarisms und Unipolarisms die Themenschwerpunkte. 2002 wurde der zweite Versuch einer strategischen Partnerschaft zwischen Russland und dem Westen thematisiert, während die diesjährigen Gespräche aufgrund der aktuellen Ereignisse unter dem Leitthema „Politik der Hegemonie – Hegemonie der Politik? Die neue internationale Ordnung“ standen, was, so Hans-Joachim Spanger, nicht nur ein Wortspiel sei, sondern zwei verschiedene Ordnungsvorstellungen repräsentiere. Die erste beschreibe eine machtgestützte hegemoniale Ordnung, die zweite hingegen eine internationale Ordnung, die durch Recht und Multilateralismus gekennzeichnet sei. Nach dem 11. September 2001 habe die russische Politik die Chance genutzt und einen außenpolitischen Paradigmenwechsel herbeigeführt: Im Sinne der westlichen Wertegemeinschaft und im Kampf gegen den Terrorismus sei Russland zu einem berechenbaren und gestaltenden Partner im internationalen System sowie Teilhaber an der Lösung der europäischen Probleme geworden. Aktuell stelle sich die Frage, wie sich sowohl Europa als auch Russland gegenüber einer Situation verhalten, die durch die Hegemonie der einen „Hypermacht“ gekennzeichnet ist. Werden sie sich für eine multipolare Welt entscheiden oder für eine Juniorrolle in der Pax Americana?
 
Gernot Erler, Stellvertretender Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion, stellte seine Dinner Speech unter das Motto der Unordnung in der internationalen Politik. Nach dem 11. September habe es zunächst konsensuale Antworten gegeben: Die Anrufung der UN als multilaterale Reaktion, die Ausrufung des Bündnisfalls in der NATO, die Allianz gegen den Terrorismus, der 170 Staaten beitraten, sowie das Eingreifen in Afghanistan. Nach der State of the Union-Rede Präsident Bushs am 27. Januar 2002 endete diese Phase, und der Weg zur Unordnung begann. Die amerikanische Führung unternahm den Versuch, die eigenen Interessen zu einem Regelwerk in der Weltpolitik zu machen. Der Begriff „Achse des Bösen“ wurde geprägt. Jedoch sei es nicht die Rolle dieser Staaten im internationalen Terrorismus, die ihre Gemeinsamkeit ausmache, sondern vielmehr die aus amerikanischer Sicht gefährlichen Waffenprogramme sowie deren antiwestliche und antiamerikanische Politik. Bush schlug eine Brücke zwischen dem „Kampf gegen den Terrorismus“ und dem Anspruch auf Hegemonie. Zu der Positionsbestimmung gehörte auch, bisherige Prinzipien der Abrüstungspolitik auf den Kopf zu stellen. Konzeptionell schlugen sich die neuen Vorstellungen in der National Security Strategy vom 16. September 2002 und in der State of the Union-Rede Präsident Bushs vom 29. Januar 2003 nieder. Diese neue Doktrin teile die Welt in gute und schlechte Staaten ein. Während erstere gefährliche Waffen besitzen dürfen, sei dies letzteren verwehrt. Und sollten sie in den Besitz solcher Waffen gelangen, beanspruchten die Vereinigten Staaten das Recht auf Entwaffnung – auch mit militärischen Mitteln der Präemption. Die National Security Strategy sei jedoch ihrem Charakter nach nicht national sondern international. Und der Irak-Krieg drehte sich nicht vornehmlich um die Beseitigung eines Tyrannen, sondern war deren erste Anwendung.
 
Der Zustand der Unordnung sei vor allem im Völkerrecht feststellbar, wo er sich in drei Etappen einstellte. Die erste Etappe war der Kosovo-Krieg, der ohne ausdrückliche Legitimation der UN stattfand. Die Schlussfolgerung war, dass staatliche Souveränität und die Menschenrechte konkurrierende Rechtsgebote darstellten. Die zweite Etappe waren die Ereignisse des 11. September. Hier setzten die Vereinten Nationen den Angriff einer privaten und anonymen Gruppe von Terroristen mit Angriffen von Staaten gleich, worauf den USA das Recht auf Selbstverteidigung gewährt wurde. Beide Punkte wurden später nicht mehr problematisiert. Die dritte Phase stellt nun der Irak-Krieg dar. Zwar versuchten die USA, durch den UN-Sicherheitsrat Legitimation für ihr Handeln zu erreichen. Als dies jedoch nicht gelang, schoben sie die UN beiseite und behaupteten, im Sinne der UN zu handeln. Jedoch finde sich die Schadensspur des 11. September und des Irak-Krieges auch in der Kooperation internationaler Organisationen, und zwar sowohl in der UN und der NATO als auch in der EU und der GUS.
 
Welchen Ausweg gibt es aus dieser Unordnung? Nach Erler hängt die weitere Entwicklung direkt von den Ereignissen im Nachkriegs-Irak ab. Dabei hätten Deutschland und Russland ähnliche Interessen. Deutschland versuche, eine Normalisierung des Verhältnisses mit den USA zu erreichen. Russland möchte die strategische Partnerschaft mit den USA erhalten. Daraus ergebe sich eine paradoxe Situation. Beide seien an einer Stabilisierung und dem Wiederaufbau im Irak und im gesamten Nahen Osten interessiert. Aber gerade wenn dies Erfolg habe, würde es für die USA einen hohen Gewinn bei einem geringen Einsatz und ein erfolgreiches Pilotprojekt bei der Umsetzung der Nationalen Sicherheitsstrategie sowie die Bestätigung der amerikanischen Vorstellungen von einer neuen Weltordnung bedeuten. Zwischen Deutschland und Russland und anderen Beteiligten müsse daher ein Modell entwickelt werden, das sich vom amerikanischen Modell unterscheidet. Die Diskussionen der Schlangenbader Gespräche sollten zeigen, ob es genügend Gemeinsamkeiten gebe, solch ein Modell zu entwickeln.
 
In der folgenden Diskussion unterstrich Erler, dass die USA ein wichtiger und unverzichtbarer Partner seien. Trotz aller Bemühungen um europäische Handlungsfähigkeit werde das auch so bleiben, vor allem aufgrund wirtschaftlicher und sicherheitspolitischer Faktoren. Die europäische Einigung sei keinesfalls als ein Akt gegen Amerika zu verstehen. Vielmehr erfülle die EU damit die Forderung nach Übernahme von mehr Verantwortung.
 
Nach Auffassung von Dietrich Sperling breche US-Präsident Bush mit einer amerikanischen Tradition. Erstens wolle die Rüstungsindustrie in den USA sowohl produzieren als auch verbrauchen und sei an einer Modernisierung dieses Machtapparates interessiert. Zweitens wolle man die Verfügbarkeit von Öl sicherstellen. Drittens hätten die USA ein Interesse, den Dollar in seiner Rolle als Leitwährung zu belassen, weil sonst das Risiko einer wirtschaftlichen Schwächung entstehe. Jedoch sei Bush kein reiner Handlanger von Interessen. Vielmehr formten diese Interessen ein Klima, in dem bestimmte Politiken besser gedeihen könnten als andere.
 
Konstantin Eggert, BBC Moskau, fragte dagegen kritisch, ob Deutschland und Russland bereit seien, als Preis für die angestrebte Eindämmung des Hegemons etwa auch den Besitz von Atomwaffen seitens des Iran und Nordkoreas zu akzeptieren. Andrej Sagorskij warf im gleichen Sinne die Frage auf, welche Alternativen es zu der Handlungsweise der USA gebe. Die Waffeninspektionen im Irak seien lediglich ein Zeitgewinn gewesen. Mit einer solchen Strategie könne man auch in anderen Situationen keine Probleme lösen. General Klaus Wittmann verwies darauf, dass man das Wesen des 11. September verstehen müsse, um den Paradigmenwechsel in den USA nachvollziehen zu können, und fragte, ob man jemals den Versuch unternommen habe, mit den USA ernsthaft konzeptionell über die asymmetrische Bedrohung und deren Folgen zu diskutieren.
 
Wladimir Lukin stellte die Frage, ob die Diskussionen um die Erweiterung der NATO und der EU nicht viel zu verfrüht gewesen seien. Dagegen gebe es nun wieder Gespräche über „Kerne“, die gebildet werden sollen. Sergej Karaganow spitzte dies mit der Bemerkung zu, dass das Projekt Europa zerfalle, so dass auch eine Achse Paris-Berlin-Moskau sinnlos sei.
 
Durch den Irak-Krieg, so Ulrich Brandenburg, sei alles in Frage gestellt worden, was für Deutschland Glaubenssätze waren: die Geltung des Rechts in den internationalen Beziehungen sowie die Rolle internationaler Organisationen. Wichtig sei es nun, den Schaden in den Beziehungen zu reparieren. Gesetzt den Fall die USA blieben bei ihrer Linie und scherten sich nicht länger um den UN-Sicherheitsrat: Sollten wir dann unser eigenes Modell entwickeln, oder abwarten? Günther Joetze erklärte, dass in den USA inzwischen viel schärfer diskutiert werde, als wir denken. Generell müsse man in der Amerika-Politik einen langen Atem haben. Gleichzeitig verwies er auf das Paradox, einer Region schon etwas ganz Schlechtes wünschen zu müssen, nur um Recht zu behalten – das zeige, dass irgend etwas grundsätzlich falsch sei. Schließlich fragte er, ob die mit Notstand begründete Handlungsweise der USA Recht schaffen würde, dem wir uns zukünftig unterzuordnen hätten.
 
Gernot Erler machte in seiner Antwort deutlich, dass man nicht auf einen Misserfolg zu Lasten der Situation in der Region hoffen dürfe. Es sei gleichwohl wichtig, auf die Konsequenzen des Irak-Krieges für die internationale Politik hinzuweisen. Vergleiche man die Situation mit jener in Nordkorea, stelle man fest, dass doppelte Standards zur Anwendung kommen, die wiederum Wirkungen in der Militär- und Rüstungspolitik haben werden. Nordkorea verfüge bereits über einsatzfähige Massenvernichtungswaffen. Deshalb gebe es trotz Provokationen dort keine militärischen Sanktionen, sondern Verhandlungen. Im Irak habe man solche Waffen nur vermutet und deshalb eingegriffen. Dies führe dazu, dass Schurkenstaaten so schnell wie möglich den Zustand Nordkoreas erreichen müssen. Erler unterstrich, dass eine reale Möglichkeit bestanden habe, die Bedrohung durch den Irak ohne Krieg zu beseitigen. Es sei Vorsicht geboten, sich nicht bereits im Kopf auf die Bush-Doktrin einzulassen. Er veranschaulichte seine Aussage am Beispiel Syriens, dem vorgeworfen werde, C-Waffen zu besitzen. Dabei werde nicht mehr gefragt, ob sie das dürfen, woran völkerrechtlich kein Zweifel bestehe, auch wenn es politisch nicht wünschenswert ist. Es sei also wichtig, darauf hinzuweisen, was passieren würde, wenn die Bush-Doktrin zum Völkergewohnheitsrecht werde. Die Doktrin sei ein vielschichtiges Dokument, dem man aus europäischer Sicht in vielen Bereichen zustimmen könne. Aber bei der Eskalation sei nur der obige Punkt übriggeblieben.
 

Panel 1:
Weltmacht versus Weltordnung: Deutschland, Russland und die USA

 
Zur Eröffnung der Tagung stellte Hans-Joachim Spanger als Moderator der ersten Diskussionsrunde fest, Kennzeichen der von Gernot Erler benannten „Unordnung“ seien keine strategischen sondern nur mehr taktische Partnerschaften. Auch habe die Diskussion des Vorabends gezeigt, dass zwischen der russischen und der deutschen Seite die Positionen nicht mehr nach nationalen Kriterien unterscheidbar seien, was auch ein Licht auf die neue Situation werfe, in der sich beide Staaten befänden: Es stelle sich das Problem des Umgangs mit hegemonialer Macht, worauf viele Antworten gegeben werden könnten.
 
In der Vergangenheit hätten Deutschland oder auch Westeuropa insgesamt das Interesse Russlands, als Großmacht ernst genommen zu werden, zwar festgestellt, aber als antiquiertes Denken zurückgewiesen. Dem hielt der Westen entgegen, dass es gemeinsame Antworten auf die neuen Bedrohungen geben müsse, die am besten in den internationalen Organisationen des Westens aufgehoben seien. Jetzt aber befinde man sich auf einer gemeinsamen Ebene, was den Schluss nahe lege, dass entweder Russland in der Realität angekommen sei, oder aber Deutschland in jener, die Russland während der vergangenen 10 Jahre verkörpert habe. Auch seien keine systematischen Unterschiede festzustellen, wenn es um den Begriff des „europäischen Modells“ gehe – im Sinne von Recht, Prävention und friedlichen Konfliktlösungen. Jedoch stelle sich die Frage, zu welchem Zweck und im Unterschied wozu man dieses entwickeln wolle. Welches Europa sei gemeint? Handele es sich um das „Alte Europa“ mit neuen Antworten? Oder handele es sich um das „Neue Europa“, das mit alten Reflexen (zum Beispiel auf die „Achse“ Paris-Berlin-Moskau) reagiere? Welche Basis habe das europäische Modell? Seien es gemeinsame Werte oder Freihandel und funktionale Verflechtung?
 
In seinem Eröffnungsvortrag stellte Wladimir Lukin fest, dass die USA so stark seien wie vermutlich noch nie zuvor. Gegenwärtig rede die amerikanische Führung über aktuelle Probleme, begegne ihnen aber mit Mitteln des 18. Jahrhunderts. Die Ergebnisse seien nicht eindeutig, auch nicht in Afghanistan. Die amerikanische Führung denke erst dann über grundsätzliche Probleme nach, wenn sie bereits aufgetreten seien. Langfristig ließen sich sowohl neue als auch alte Handlungsmuster erkennen. Die amerikanische Haltung sei auch schon früher anti-europäisch gewesen, doch schenkten die USA heute anderen Staaten, wie zum Beispiel Brasilien oder China, größere Aufmerksamkeit.
 
Zur neuen „Achse“ merkte er an, dass Deutschland neuere Überzeugungen mit „altem“ Pazifismus verbinde. Frankreich dagegen habe eine anti-amerikanische Tradition und verbinde diese mit eigenen Großmacht-Phantasien. Russlands Außenpolitik, so Lukin, sei unbestritten westlich orientiert. Innenpolitisch sei die Lage jedoch schwieriger. Die Strategie könne in einer von zwei Herangehensweisen bestehen: Entweder zusammen mit Deutschland und Frankreich bzw. der EU ein Gegengewicht gegen die USA zu formieren oder aber ein „positives“ Manövrieren zwischen der EU und den USA. Dies bedeute nicht, einen Keil zwischen die USA und die EU zu treiben, sondern die Differenzen zwischen den beiden zu vermindern. Vieles der weiteren Entwicklung in Russland hänge jedoch von der Politik der EU ab, von der man in Russland in der Vergangenheit häufig enttäuscht gewesen sei.
 
Einleitend betonte Karsten Voigt, dass sich Deutschland in einer überaus positiven Lage befinde, da es nur von Freunden umgeben sei. Der Grund dafür sei in der Politik der Verrechtlichung der internationalen Politik, dem Grad der Institutionalisierung und dem Multilateralismus zu finden. Das transatlantische Verhältnis habe diese positive Situation bewirkt. Zwar verändere es sich aufgrund der allgemeinen Rahmenbedingungen und neuer Herausforderungen, bleibe jedoch wichtig. Auch wenn Deutschland als pazifistisch wahrgenommen werde, so leiste es doch zahlreiche militärische Einsätze. Heute müsse man jedoch nicht nur global denken, sondern in Einzelfällen auch global handeln. Das Handeln der USA sei nicht länger durch Außenfaktoren, wie früher durch den Kalten Krieg, bestimmt, sondern durch innere Faktoren. Zwar nähere sich Deutschland in seinen Denkstrukturen an die traditionellen Denkweisen Großbritanniens und Frankreichs an, jedoch gebe es zugleich eine Annäherung der britischen und französischen Position an die deutsche, d.h. die Idee, den EU-Faktor gegenüber den USA ins Spiel zu bringen. In ökonomischer Hinsicht seien die USA nicht die einzige Weltmacht. Die EU sei wirtschaftlich etwa gleich stark, was die heutige Situation von jener nach dem Zweiten Weltkrieg unterscheide.
 
Es sei im Interesse Deutschlands, dass die USA ihre militärische Vormachtstellung innerhalb der Grenzen des Völkerrechts und in internationalen Organisationen einnehme. Jedoch sei es eine illusorische Vorstellung, dass sich Amerika diesen Regeln vollständig unterwerfen werde, da eine solche Haltung seinem Selbstverständnis und seinen Handlungsmöglichkeiten widerspreche. Man müsse eine Balance finden zwischen Recht und Macht. Das Interesse Deutschlands sei es, die USA in Richtung Multilateralismus zu bewegen. Dies sei nur durch ein stärkeres Europa erreichbar, was jedoch nicht als Gegenpolbildung verstanden werden dürfe. Dies sei nicht im Interesse Deutschlands und Europas. Abschließend verwies Voigt auf die starken ökonomischen Verflechtungen mit den USA. Zwar vollzögen die USA eine Interessensverlagerung im militärischen Sinne, hin zu den Krisenherden, aber im wirtschaftlichen Bereich sei das Interesse an Europa unverändert groß.
 
Jeder der Staaten, die gegen die amerikanische Haltung Position bezögen, habe zugleich ein großes Interesse an Zusammenarbeit mit den USA. Nun gelte es, die Kooperation zu verstärkter Einflussnahme zu nutzen. Zur notwendigen Reform der transatlantischen Beziehungen zähle auch ein stärkeres Selbstbewusstsein der Europäer, denn die Partner Amerikas müssten sich sowohl politisch als auch ökonomisch als handlungsfähig erweisen.
 
Egon Bahr betonte, dass es an Idiotie grenze, einen Gegenpol gegen die USA bilden zu wollen. Sowohl Deutschland als auch Russland seien bemüht, die Differenzen in ihrer strategischen Partnerschaft mit den USA zu beherrschen. Dabei unterhalte Russland eine Art Sonderbeziehung zu den USA. Deutschland befinde sich dazwischen, quasi unter dem Atom-Schirm. Die europäische Machtentfaltung müsse unterhalb der atomaren Schwelle stattfinden, denn in militärischer Hinsicht seien die USA uneinholbar, sodass eine Konkurrenz sinnlos sei. Nach Bahrs Eindruck haben sich zwei „Westen“ herausgebildet, die ihre Unterschiedlichkeit auch in Zukunft bewahren werden. Er gehe nicht davon aus, dass die transatlantischen Beziehung sich wie zu Zeiten des Kalten Krieges restaurieren ließen. Damals habe aufgrund der Bedrohung durch die Sowjetunion die Notwendigkeit des Zusammenhalts bestanden. Heute sei eine transatlantische Beziehung im alten Sinne nicht nötig. Die USA hätten das bereits früh erkannt und dabei sogar festgestellt, dass im Kampf gegen den Terror der militärische Faktor Moskau wichtiger sei als der militärische Faktor NATO.
 
Nach Auffassung Bahrs hätten vor allem die USA die aktuelle Unordnung verursacht, seien jedoch nicht willig, zu „reparieren“, da dies ihren Interessen widerspreche. Für ihn gehörten die USA zu den Profiteuren des 11. September. So sei das neue Sicherheitskonzept bereits vorher entwickelt und lediglich nach den Terroranschlägen implementiert worden, und zwar beschleunigt und mit einer besseren Finanzierung. Die USA verfolgten ihre hegemoniale Rolle systematisch und betrieben eine kontinuierliche Machterweiterung. Somit lasse sich keine qualitative Veränderung in der Politik feststellen. Sodann stellte Bahr die Frage nach der Rolle Europas. Während des Kalten Krieges sei Deutschlands Sicherheit durch die USA garantiert worden. Als politisch handelnder Akteur habe Europa nicht entstehen können. Es erhalte jetzt erstmals die Chance, etwas Eigenes in Selbstbestimmung zu tun, was aber nicht mit einer Rivalität zu oder gar gegen die USA gleichzusetzen sei. Er stimme zu, dass die USA heute so stark seien, dass sie alles alleine bestimmen könnten. Die Stärke der Schwachen liege dagegen in der Verrechtlichung. Europa müsse jene Sektoren stärken, in denen es bereits stark sei, d.h. die ökonomische und politische Zusammenarbeit. Die USA dächten unipolar, daher müsse der Rest der Welt multipolar denken.
 
Die EU-Osterweiterung sei der Wunsch der Osteuropäer gewesen und durch Drängen der USA gefördert worden. Nach Bahrs Ansicht werde sie problematischer sein als der deutsch-deutsche Einigungsprozess, wobei die Sicherstellung der Handlungsfähigkeit ein zentraler Punkt sei. Gleiches gelte für die NATO. Ziel sei die Umformung zu einer Allianz für politische Stabilität, die unter amerikanischer Führung bis nach Asien ausgedehnt werde.
 
In der anschließenden Diskussion fragte Günter Joetze, ob nicht – unter der Prämisse, dass das amerikanische Vorgehen gegen das Völkerrecht verstoßen habe – diejenigen, die verhindern wollen, dass daraus Gewohnheitsrecht werde, gegen diesen Gesetzesbruch protestieren sollten? Frankreich habe das getan, Deutschland jedoch nicht, d.h. es habe vermieden, seinen erklärten Standpunkt auch zu vertreten. Sei das nicht bereits ein Kompromiss und ein Sich-Fügen? Ernst-Jörg von Studnitz betonte demgegenüber, dass das Völkerrecht nicht hinreichend sei für die neuen Probleme, eine Einschätzung, die auch Teilnehmer der russischen Seite wie Aleksandr Dynkin, Sergej Karaganow und Wjatscheslaw Nikonow teilten. Von Studnitz stellte fest, dass die USA in einer solchen Situation auf Machtpolitik zurückgriffen, während Europa eine petitive Politik mit unzureichenden Mitteln betreibe. Er fragte, wie man Macht so zusammenfügen könne, dass eine echte Weltinnenpolitik mit einem System von Checks and Balances entstehe. Petitum reiche dabei nicht aus. Europa verzettele sich und komme nicht zur Sache; auch werde das wirtschaftliche Gewicht nicht genutzt. In seiner Replik hob Wladimir Lukin hervor, dass für eine Weltinnenpolitik eine Weltregierung notwendig sei, denn jemand müsse in der Lage sein, Beschlüsse auch durchzusetzen.
 
Gunther Hellmann nahm den Aspekt der Verrechtlichung auf und bezeichnete den präsentierten Gegensatz zwischen der europäischen und der amerikanischen Position als nicht ganz zutreffend. So gebe es innerhalb Europas erhebliche Differenzen. Während Deutschland ein genuines Interesse an Verrechtlichung zu haben scheine, sah er in Russland ein instrumentelles Verständnis, das Recht lediglich als Zufluchtsort des Schwächeren sehe. Wenn Deutschland tatsächlich dieses genuine Interesse an Verrechtlichung habe, dann stehe es vor einer großen Herausforderung, auf die die außenpolitischen Eliten aber offenbar nicht gut vorbereitet seien. Wie also könne man in der deutschen Außenpolitik Akzente setzen? In ähnlicher Weise fragte Hannes Adomeit, wie der europäische Einfluss auf die USA gestärkt werden solle. Könne Deutschland in analytischer und konzeptioneller Hinsicht einen Beitrag leisten? Aus amerikanischer Sicht hätten wir bei den letzten Diskussionen (beispielsweise bei der Osterweiterung NATO) mit unserer Einschätzung völlig falsch gelegen. Auch werde die Bedrohungslage in den USA anders interpretiert, und wir hätten die Lage im Irak militärisch falsch eingeschätzt. Welche Möglichkeiten hätten wir also? Welche Rollen sollten GASP und ESVP spielen? Klaus Wittmann wies darauf hin, dass die Koalitionsfähigkeit Deutschlands wichtig sei als Voraussetzung für Mitsprachemöglichkeiten. Zwar gebe es einen amerikanischen Masterplan, jedoch bestünden auch Bedrohungen, die die USA nicht allein beträfen und so auch von allen gelöst werden müssten. Man müsse etwas einbringen können für die Mitsprache, eine Blockadehaltung und Überredungswille reichten nicht aus. Gefragt sei ein integrales Konzept ziviler und militärischer Konfliktlösung und -bewältigung. Karsten Voigt stimmte zu, dass die Diskussion mit den USA unzureichend sei. Wie könne das Völkerrecht angepasst werden, so dass es nicht einseitig gebrochen werde? In der Wissenschaft und Politik gebe es zu wenig Bereitschaft, sich mit den Problemen auseinander zu setzen und Position zu beziehen. Man müsse die Rechtsnormen in Einklang mit den Herausforderungen bringen und dabei die realen Machtverhältnisse berücksichtigen.
 
Dietrich Sperling hob erneut die Rolle des amerikanischen Dollars in den Welthandelsbeziehungen und auf den Finanzmärkten hervor. Internationale Finanzorganisationen könnten aufgrund der Dollar-Schwäche entscheiden, in Euro zu hedgen statt in Dollar. Das werde die Stellung des Dollars gefährden. Der Irak-Krieg, so Sperling, sei auch unter diesem Gesichtspunkt zu verstehen. Ziel sei es gewesen, dem Dollar eine festere Position zu geben. Dabei habe man jedoch unbeabsichtigt die Neigung verstärkt, aus dem Dollar auszusteigen.
 
Walerij Manilow merkte an, dass sich mit dem Irak-Krieg qualitativ neue Bedrohungen gezeigt hätten. Die Bedrohung durch das Diktat der USA sei offensichtlich. Die amerikanischen Interessen ließen sich unter anderem durch den hohen Energieverbrauch des Landes sowie die Entwicklung des militärisch industriellen Komplexes erklären. Manilow konstatiert eine Militarisierung der internationalen Beziehungen. Es gehe nun nicht darum, einen Gegenpol zu den USA zu bilden, gleichwohl müsse man die eigene Position und die eigenen Interessen verteidigen. Allgemeines Ziel sei es, ein unipolares System zu verhindern. Dazu seien Deutschland und Russland in der Lage.
 
Karsten Voigt plädierte für eine Stärkung der ESVP, ohne jedoch ein militärisches Gleichziehen mit den USA anzustreben. Der Kalte Krieg sei vorbei, aber es existierten neue Gefahren. Diese seien nur zum Teil militärischer Natur und müssten kooperativ gelöst werden, da auch die USA nicht alle Probleme im Alleingang lösen könnten. Bei allen Gegensätzen bestünden unverändert gemeinsame Interessen. Die alte NATO sei historisch erledigt, nicht aber die transatlantische Sicherheitsallianz, die es nun zu modernisieren gelte. Voigt widersprach der bei Manilow anklingenden Vorstellung, die USA strebten nach Weltherrschaft. Die USA vollzögen nicht nur einseitige Einmischungen, sondern auch einseitige Rückzüge. Er gehe davon aus, dass in den USA – unter anderem aus Kostenerwägungen – eine neue Diskussion darüber entstehen werde.
 
Egon Bahr unterstrich, dass es ein Gewohnheitsvölkerrecht nicht geben dürfe. Zudem sei es notwendig, den Begriff der Prävention zu klären. Bis zu einer Einigung müsse die UN-Charta gelten. Neben Machterwägungen habe die USA jedoch ein Sendungsbewusstsein. Beides zusammen führe zu dem, was wir momentan als Realität der US-Politik wahrnehmen. Die USA hätten die UN in ihrem taktischen Spiel benutzt. Der Beschluss zum Irak-Krieg habe bereits im Sommer 2002 vorgelegen. Die einzige Frage sei, ob die Welt (und insbesondere Europa, Russland, China und Indien) den Herrschaftsanspruch der USA anerkennen werde oder eigene Werte im Sinne der Selbstbestimmung zu behaupten versuche.
 
Gert Weisskirchen merkte dazu an, dass es nicht nur eigene Werte innerhalb Europas gebe, sondern auch verbindende Werte mit den USA. In diesem Sinne existierten keine zwei Westen, sondern viele. So könne man z.B. nur gemeinsam mit den USA das Problem des Niedergangs von Staatlichkeit in weiten Teilen der Welt lösen. Militärisch seien diese Probleme jedoch nicht lösbar. Die Stärke der Europäer – trotz ihrer politischen Zersplitterung – sei es, Staatlichkeit durch Prozesse der inneren Nations- und Gesellschaftsbildung voranzubringen. Diese Stärke könne zur Geltung kommen, wenn sie mit der militärischen Stärke der USA kombiniert werde.
 
 
Panel 2: 
Globalisierung redivivus: die Integration Russlands in die Weltwirtschaft

 
Aleksandr Dynkin skizzierte als Moderator dieses Panels einleitend die aktuelle wirtschaftliche Situation in Russland. Zwar sei das bereits seit fünf Jahren anhaltende Wirtschaftswachstum vor allem auf die hohen Ölpreise zurückzuführen, doch reagierten zahlreiche russische Firmen immer besser auch auf Nachfrageveränderungen im Binnenmarkt, so dass das Wachstum auch von dort zunehmend Impulse erhalte.
 
Vor diesem Hintergrund machte Wolfram Schrettl allerdings auf Risiken aufmerksam. So wies er darauf hin, dass ein Importboom stattfinde, der vorwiegend über die Erlöse aus den hohen Ölpreisen finanziert werde. Zudem seien reale Lohnsteigerungen von 20 bis 40 Prozent zu verzeichnen. In diesem Zusammenhang machte Schrettl auf die zentrale Rolle des Wechselkurses für die Aussichten der russischen Wirtschaft aufmerksam. So habe die langsam gleitende Anpassung des Rubel-Kurses in den 1990er Jahre zu einer signifikanten Überbewertung geführt, in deren Folge es ebenfalls zu einem Importboom und 1998 schließlich zum Zusammenbruch gekommen sei.
 
Die Integration Russlands in die Weltwirtschaft sei zwar im Gange, doch sei das Land noch auf der Suche nach seiner Rolle, wolle indes an allen Möglichkeiten des Welthandels teilhaben. Russlands Handelsbeziehungen zeichneten sich unverändert durch eine enorme Einseitigkeit aus, vor allem durch den Export von Rohstoffen. Außerdem fehlten russische Markenartikel auf dem Weltmarkt. Sein Gewicht im Welthandel sei mit weniger als zwei Prozent der Exporte und einem Prozent der Importe im Güterbereich gering. Kapitalbewegungen seien vor allem durch Kapitalflucht gekennzeichnet, die bis zu zehn Prozent des Bruttoinlandsprodukts betrage und keinen Rückgang verzeichne. Westliche Direktinvestitionen machten dagegen weniger als ein Prozent des russischen Bruttoinlandsprodukts aus. Im Sinne von Kapitalzufluss spielten sie keine Rolle, vielleicht aber beim Transfer von Know-how. Jedoch gebe es eine zunehmende Kreditvergabe der Banken an die russische Wirtschaft. Die Gründe für den geringen Umfang der Auslandsinvestitionen und die hohe Kapitalflucht sieht Schrettl vor allem im geringen Vertrauen der Wirtschaftssubjekte.
 
Die institutionelle Integration Russlands finde auf verschiedenen Ebenen statt, in der G8, im Pariser Club, bei der Annäherung an die EU sowie die WTO. Bei letzterer bestünden die Probleme vor allem im Banken-, Versicherungs- und Telekommunikationswesen, aber auch in der Automobilbranche. Schrettl warf die Frage auf, ob eine WTO-Mitgliedschaft Russlands überhaupt nötig sei oder ob es sich um eine Image-Frage handele. Innenpolitisch diene sie als Argument zur Durchsetzung von Reformen. Im Bereich der Gesetzgebung sei die Herstellung der Kompatibilität auf dem Weg, z.B. bei der Zollgesetzgebung. Befürchtungen wegen möglicher Nachteile seien unbegründet. Wechselkursänderungen hätten weitaus größere Auswirkungen als die Beseitigung oder Absenkung der Zölle. Die weitere Heranführung an die EU werde nicht zu einer Mitgliedschaft führen. Dies entspreche weder dem russischen Selbstverständnis (Aufgabe von Souveränität) noch erlaubten die finanziellen Möglichkeiten der EU dies. Perspektiven würden sich vor allem durch steigende Direktinvestitionen ergeben, die Integration des GUS-Raums, der zunehmenden Infrastrukturverbindungen zu Europa und der steigenden Mobilität von Personen. Dabei, so Schrettl, sei Integration selbst Wettbewerb.
 
Andrej Bugrow führte am Beispiel seines Unternehmens, der Interros Holding, konkrete Beispiele der Kooperation an. Im Unterschied zu Schrettl sah er einen zunehmenden Prozess „normaler“ Kapitalexporte, keine Flucht. So habe seine Firma beispielsweise Unternehmen in den USA übernommen. Wirtschaftlich sei Russland in vielen Bereichen bereits in das internationale System integriert, stärker als im politischen Bereich. Natürlich bestünden innere Probleme. Wichtig sei heute vor allem die Förderung kleiner und mittlerer Unternehmen, die Zerschlagung der Monopole sowie die Reform des Staatsapparates. Dazu bestehe das Problem der Armut und der Korruption. Bei der WTO stelle sich nach Bugrows Auffassung nicht die grundsätzliche Frage, ob man beitreten solle oder nicht. Vielmehr gehe es um die Bedingungen des Beitritts. Es gebe einige Bereiche, die weiterhin Schutz benötigen würden. Andererseits habe Russland die WTO-Bestimmungen zum Teil schon erreicht. Allerdings gab Aleksandr Dynkin zu bedenken, dass es in Russland Interessensgruppen gebe, die gegen einen Beitritt des Landes zur WTO seien. In diesem Zusammenhang stellte Matthes Buhbe die Frage nach den Verhandlungsprozessen zum WTO-Beitritt Russlands und den internen Gründen für die Verzögerung.
 
Mit Blick auf den Energiesektor verwies Elena Telegina auf die gegenseitige Abhängigkeit Europas und Russlands. In der Perspektive könne der Energiebedarf in der EU nicht gedeckt werden, so dass Produktionssteigerungen auch in Russland notwendig seien. In Russland bestehe allerdings ein hoher Bedarf an Investitionen sowie an Strukturreformen, vor allem bei den Rahmenbedingungen für Investitionen (Production Sharing Agreements, Lizenzen), dem Zugang zum Leitungssystem, dem Preissystem sowie der Stärkung der Föderalen Energie-Kommission. Der Anteil russischen und zentralasiatischen Gases an der europäischen Gasversorgung werde weiter steigen, und im europäischen Gasverteilungssystem sei Deutschland ein Schlüsselland, so Telegina.
 
Jürgen Möpert, Wintershall Moskau, betonte die positive Rolle der wirtschaftlichen Verflechtung, vor allem im Energiesektor, bei der das legitime Interesse aller Seiten berücksichtigt werden müsse. Zusammen mit Gasprom vermarkte Wintershall russisches Gas in Deutschland. Dies bedeute nicht nur zusätzliche Erträge für Gasprom, sondern auch die Entwicklung eines Gespürs für die Belastbarkeit der Preise im Endverbrauchermarkt. Daneben werde gemeinsam gefördert mit dem Ziel einer Minimierung der Förderkosten. Die Gaspreise in Russland seien im Steigen begriffen, so dass die Produktion auch für unabhängige Produzenten, deren Anteil noch gering sei, attraktiver werde.
 
Reiner Hartmann, Ruhrgas Moskau, stellte fest, dass Russland im Bereich der Energiewirtschaft klare Interessen verfolge. Inzwischen habe man kaspische Fördergebiete zurückerobert, z.B. in Turkmenistan. Ein geostrategisches Ziel in Europa sei die Sicherheit der Versorgung, bei der Russland eine zentrale Rolle spiele. Die Diversifizierung der Liefersysteme schreite voran. Das Konsortium zwischen Russland, der Ukraine und Europa (vor allem Deutschland) sichere die Transitwege. Nachdem im amerikanisch-russischen Energiedialog Ernüchterung eingekehrt sei, orientiere sich Russland nun wieder stärker auf seine traditionellen Partner in Europa.
 
Klaus-Dieter Bergner konstatierte, dass Russland für die USA in Sicherheits- und Energiefragen ein akzeptabler Partner sei. Aktuell bestehe zwischen Europa und den USA kein „Gap of Technology“, sondern ein „Gap of Market“. Bei zivilen Produkten sei Europa fähig, Produkte zu liefern, denn der Markt ist offen. Dies zeige sich in der zivilen Luftfahrt. Bei militärischen Gütern sei der Markt geschlossen. Russland habe in verschiedenen Bereichen Potenziale. Es sei offen, wie diese zukünftig eingesetzt würden, ob mit, neben oder gegen Europa.
 
Ottokar Hahn fragte, was an die Stelle des auslaufenden Partnerschafts- und Kooperationsabkommens zwischen Russland und der EU treten solle. Das endogene Potenzial Russlands sieht er in der Entwicklung ziviler Produkte. Ein Industriesektor, in dem Zusammenarbeit stattfinden könnte, wäre der Automobilbau, in dem Deutschland und Russland auch gemeinsam Drittmärkte erschließen könnten.
 
Andrej Bugrow wies in einer Replik auf Wolfram Schrettl darauf hin, dass russische Produkte auch im Westen immer präsent seien, da die Rohstoffe – zum Beispiel im Automobilbau – aus Russland stammten. Hinsichtlich der Entwicklung des Rechtsstaates in Russland sieht er Verbesserungen. Zudem habe der Privatsektor einen höheren Reifegrad erreicht. Dem pflichtete Peter W. Schulze bei und verwies darauf, dass sich russische Kapital-Holdings im Prozess der Transnationalisierung befänden und Weltmarktsegmente durchdringen würden. Es komme zu Fusionen oder gar zum Aufkauf westlicher Firmen durch russische. In diesem Sinne sei die russische Wirtschaft in der Realität angekommen. Im Gegensatz dazu sieht Schulze die außenpolitischen Experten noch in alten Rollen verhaftet. Aleksandr Dynkin bemerkte dazu, dass in Mitteleuropa eine Transformation nach westlichem Muster stattfinde, während sich in Russland eine Reihe aggressiver Korporationen herausgebildet habe, die inzwischen unter Wettbewerbsbedingungen funktionierten.
 
Wilhelm Hankel betonte, dass die Globalisierung nicht zu einem Weltstaat führe, ebenso wenig wie die europäische Integration – als politische Zuspitzung der Globalisierung – einen europäischen Staat schaffe. Es entstünden durch die Globalisierung Probleme für die Nationalstaaten, vor allem im Sozialbereich, wobei ihnen zugleich die Handlungsmöglichkeiten genommen würden. Er prognostizierte eine Revitalisierung der Staatsaufgaben. In diesem Zusammenhang bekräftigte Dietrich Sperling, dass Marktwirtschaft immer als staatliche Veranstaltung zu sehen sei, denn der Staat müsse die Rahmenbedingungen für ein gutes Funktionieren der Wirtschaftstätigkeit sicherstellen. Er fragte, ob dies denn in Russland der Fall sei, und welche Fortschritte zum Rechtsstaat mit Relevanz für die Wirtschaft zu verzeichnen seien. Wolfram Schrettl betonte, dass der Staat relevant sei als Garant der Spielregeln für die Marktwirtschaft. Jedoch gebe es einen Wettbewerb zwischen verschiedenen Modellen, wobei das europäische Modell dem neoliberalen amerikanischen gegenüberstehe.
 
 
Panel 3:
Sicherheit mit oder ohne Demokratie? Innenpolitische Ambivalenzen der Terrorismus-Bekämpfung

 
Wolfgang Eichwede unterschied in seiner Einführung in die Thematik zwei Sicherheitsebenen: den historischen Umbruch der Transformation mit der Folge eines Jahrzehnts der Instabilität und den Terrorismus. Grundsätzlich sei zwar Sicherheit ohne Demokratie denkbar, jedoch Demokratie nicht ohne Sicherheit. Damit Demokratie auf Akzeptanz stoße, müsse sie Sicherheit vermitteln. Angesichts der hohen Belastungen der Transformation bewertete Eichwede die Stabilität in der russischen Gesellschaft als erstaunlich hoch. Umfragen belegten einen ausgeprägten Wunsch der Menschen nach Ordnung und Stabilität, und auch in außenpolitischen Fragen finde man keine Radikalität. So sei zwar das Bombardement Serbiens durch die NATO in Russland einhellig abgelehnt worden, doch sei dies nicht in eine prinzipielle Abgrenzung gegenüber dem Westen gemündet; vielmehr sei eine vorsichtige Haltung eingenommen worden. Ähnliches habe sich nach dem 11. September und während des Irak-Krieges beobachten lassen.
 
Im Hinblick auf Tschetschenien verwies Eichwede darauf, dass nicht nur die darin symbolisierte Haltung gegenüber kleinen Völkern, sondern auch der Einsatz der politischen und militärischen Instrumente auf Dysfunktionen der russischen Staatlichkeit hinweisen. Die eingesetzten Instrumente machten einen Ausgleich nahezu unmöglich, und im Kriegsgebiet selbst entstehe so ein rechtsfreier Raum.
 
Wladimir Ryschkow erinnerte in seinen Anmerkungen daran, dass es die Anschläge des Jahres 1999 in Moskau gewesen seien, die Putin veranlasst hätten, erneut Truppen nach Tschetschenien zu entsenden. Die Losung habe damals gelautet: „Sicherheit über alles“. In vergleichbarer Form habe im Westen nach dem 11. September eine Diskussion über die Einschränkung der Bürgerrechte und der zivilen Kontrolle über das Militär und die Sicherheitsdienste begonnen. In Russland existiere eine solche Kontrolle ohnehin nicht, so dass das Land zugleich von einem Demokratie- und Sicherheitsdefizit gekennzeichnet sei. Die Befürchtung, dass der russische Kampf gegen den Terrorismus die Demokratie bedrohe, sei so nicht haltbar, was die Situation aber nicht weniger problematisch mache. Die russische Gesellschaft sei passiv und apathisch. Zwar bestehe eine „Meinungsdemokratie“, nicht aber eine „Beteiligungsdemokratie“. Die russische Bevölkerung habe folgende Idealvorstellung: Außenpolitisch solle Russland ein Imperium sein, innenpolitisch wolle man eine personifizierte Macht und in der Wirtschaft eine dirigistische und paternalistische Rolle des Staates.
 
Das Verfassungsdesign und das politische System Russlands bezeichnete Ryschkow als problematisch. Der Präsident nehme die zentrale Rolle ein, die Regierung sei von ihm abhängig, Parlament und Parteien seien schwach, ebenso die kommunale Selbstverwaltung. Politiker seien meist gleichzeitig Beamte oder Führer finanzindustrieller Gruppen – ein deutlicher Hinweis darauf, dass die Bürokratie und wirtschaftliche Gruppen die Hauptakteure des politischen Prozesses seien, und Schatteninstitutionen in der Politik dominierten. Die Wahlen von Parlament und Präsident hätten dagegen so gut wie keinen Einfluss auf die reale Situation in der Gesellschaft. Die politische Klasse sei von der Bevölkerung entfremdet. Ryschkow sieht eine ambivalente Situation: Einerseits bestünden sowjetische Ideen fort, andererseits gebe es eine „Infiltration“ durch westliche Ideen.
 
In Bezug auf Tschetschenien erklärte Ryschkow, Putin habe mit dem Referendum einen richtigen Versuch unternommen. Der Konflikt habe das Leben von 4.000 russischen Soldaten gefordert, die Zahl der Opfer unter der Zivilbevölkerung sei nicht bekannt. Es sei aber eine offene Frage, welche Rolle jene Million Menschen, die im Tschetschenien-Krieg Dienst geleistet und vermutlich alles andere als rechtsstaatliche und liberale Werte internalisiert hätten, künftig spielen würden.
 
Andrej Rjabow widmete seinen Vortrag der Verbindung von Demokratie und Sicherheit in Russland, dessen Situation sich grundlegend von der westlichen unterscheide. Historisch – bereits ab dem 14. Jahrhundert – sei Sicherheit als Instrument der autoritären und despotischen Macht eingesetzt worden. Wenn Präsident Putin sage, Russland müsse entweder eine Großmacht sein oder könne gar nicht existieren, so stütze er sich auf genau dieses Muster. Gerade in Phasen des Übergangs zu einem neuen politischen System könne „Sicherheit an sich“ keinerlei Probleme lösen. Das gelte auch in Russland, wo zudem mit Tendenzen zu einer Individualisierung eine soziale Demobilisierung statt finde. Der internationale Terrorismus beeinflusse den Zustand der Demokratie in Russland nicht. Vielmehr kämen die Probleme für die Demokratie aus dem Land selbst. Hier verwies Rjabow vor allem auf die Begrenzung der Konkurrenz in der Politik, der Ökonomie und auf dem Markt der Ideen. Die so genannte Elite wolle den Status quo erhalten und empfinde Konkurrenz als Risiko. Dabei könne sie auf einige Zustimmung in der Bevölkerung setzen, die durch die Probleme des Übergangs psychologisch ermüdet sei und stabile Verhältnisse wünsche. Putin habe es geschafft, diese beiden Elemente zusammenzuführen, und durch seine persönliche Popularität legitimiere er die neue – wenngleich schon vor seinem Amtsantritt bestehende – Ordnung.
 
Wladimir Lukin stimmte der Situationsbeschreibung in den drei Vorträgen zu, verwies aber auf das neu auftauchende Problem des Terrorismus und fragte nach den Kriterien für die Bestimmung von „Demokratie im 21. Jahrhundert“. Auch Walerij Manilow bezog sich auf die Sicherheit im 21. Jahrhundert und ihr Verhältnis zur Demokratie. Dabei stellte er die soziale Sicherheit ins Zentrum seiner Überlegungen. In diesem Sinne sei Tschetschenien nicht als ein Problem kleiner Völker zu verstehen. Vielmehr äußere sich hier auch ein soziales Problem. Die prekäre soziale Lage habe das Banditentum gefördert und die Sicherheit bedroht. Eine funktionierende Autorität gebe es in Tschetschenien nicht; daher müsse eine neue etabliert werden. So lange fungiere Tschetschenien als Aufmarschgebiet des internationalen Terrorismus. Die Schwäche des Staates in Russland erlaube es nicht, dieser Entwicklung etwas entgegenzusetzen. Das kürzlich durchgeführte Referendum beurteilte Manilow positiv, denn der Wiederaufbau staatlicher Institutionen sei die entscheidende Bedingung für erhöhte Sicherheit.
 
Egon Bahr betonte, dass der Westen vor allem an Stabilität in Russland interessiert sei. Dabei sei die Entwicklung des Rechtsstaates in Russland von besonderer Bedeutung. Solange Putin regiere, werde es in Russland Demokratie im westlichen Sinne nicht geben. Wichtig sei, dass Russland auf dem Weg zur Demokratie sei. In diesem Zusammenhang warf Ernst-Jörg von Studnitz die Frage auf, welche inhärenten Veränderungsmechanismen das russische präsidentiell-bürokratische System habe, um mehr Mitbestimmung zu erreichen.
 
Egbert Jahn forderte eine Klärung des Begriffs „Terrorismus“. Bislang herrsche ein leichtfertiger Sprachgebrauch vor, in dem alles unter diesen Begriff subsumiert werde, und deshalb seien die Augen vor den eigentlichen Problemen verschlossen. Auch Uta Zapf äußerte ihr Unbehagen über die ganze Diskussion. Es stelle sich doch die Frage, wie man in einer Demokratie mit Problemen des Terrors umgehe, ohne die Bürgerrechte zu verletzen. Es gebe verschiedene Konzeptionen von „Terrorismus“. Auf UN-Ebene bestünden 12 Konventionen, doch könne die nächste nicht verabschiedet werden, weil die Staaten sich nicht auf einen konsensualen Terrorismus-Begriff einigen könnten. Zugleich werde dieser politisch instrumentalisiert.
 
Ulrich Brandenburg fragte, welche Auswirkungen die verschiedenen Klagen, die vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte im Hinblick auf Tschetschenien zugelassen worden seien, auf die Entwicklung des Rechtsstaates in Russland hätten. Und Hannes Adomeit begehrte zu erfahren, welche Auswirkungen die Kriegsführung in Tschetschenien auf die Kooperation mit dem Westen habe. Ohne eine Reform der Streitkräfte und der betroffenen Ministerien könne es keine Demokratie geben. Und ohne die Beendigung des Tschetschenien-Krieges kämen die Reformen nicht voran. So lange aber sei keine vertrauensvolle Zusammenarbeit mit dem Westen möglich.
 
Wjatscheslaw Nikonow betonte, dass es alle Charakterisitika – Anarchie, Demokratie, Autoritarismus, Oligarchie, östliche Despotie –, mit denen das politische System in Russland belegt werde, auch unter Präsident Jelzin gegeben habe. Unter Putin hätten sie eine weniger schwere Form angenommen, und die Anarchie sei zurückgegangen. Nikonow geht davon aus, dass es vor allem aufgrund der zaristischen Traditionen nicht leicht sein werde, dem russischen Volk Entscheidungsmöglichkeiten zu geben.
 
Wladimir Ryschkow machte geltend, dass es relativ einfach sei, die Außenpolitik eines Landes zu verändern, ökonomische Reformen seien schon schwieriger zu bewerkstelligen, und am schwierigsten sei es, die Menschen und die Gesellschaft zu verändern. Man dürfe nicht Stabilität um jeden Preis anstreben, dazu sei die Demokratie ein zu wichtiges Gut. Aufgrund der katastrophalen sozialen Lage in Russland werde die aktuelle Stabilität nicht lange andauern. Putin sei zwar populär, aber mit einzelnen Elementen seiner Politik sei die Bevölkerung überhaupt nicht einverstanden. Ryschkow stimmte der Aussage Wadim Rasumowskijs zu, dass die Großunternehmen zwar progressiver seien als die Bürokratie und auch die russischen Probleme verstünden. Trotzdem sei eine fragwürdige Monopolisierung der Wirtschaft feststellbar, für die Ryschkow zwei Lösungen sieht. Die eine sei eine Zerschlagung dieser Monopole durch eine geeignete Gesetzgebung, wobei unklar sei, wer diese durchsetzen solle. Die zweite bestehe in der weiteren Öffnung der russischen Wirtschaft, die verstärkte Konkurrenz von außen ermögliche. Ergänzend betonte Andrej Rjabow erneut die Notwendigkeit der Einführung von Konkurrenz in der Politik, möglicherweise durch mehrere miteinander konkurrierende Machtzentren. Wolfgang Eichwede äußerte sich optimistisch zur langfristigen Entwicklung von Demokratie und Rechtsstaat in Russland. Selbst der Status quo werde funktionierende Rechtssysteme brauchen, vor allem zur Sicherung des bisher akkumulierten Eigentums.
 
 

Panel 4:
Die doppelte Erweiterung: die NATO, die EU und die russischen Interessen

 
Einleitend nahm Andrej Sagorskij als Moderator der letzten Diskussionsrunde Bezug auf frühere Schlangenbader Diskussionen und erinnerte an Fragen wie: Wozu brauchen wir noch die NATO? Welchen Einfluss hat die Tatsache, dass die USA nicht von den nationalen Entscheidungen anderer Staaten abhängig sein will, auf das Verhältnis zwischen Russland und der NATO?
 
Uta Zapf verdeutlichte in ihrem Beitrag, dass Europa und Russland eine auf internationale Regeln gestützte Ordnung vertreten. Jedoch stelle sich sehr grundsätzlich die Frage nach den Handlungsmöglichkeiten, wenn der stärkste Partner diese Ordnung nicht mehr akzeptiere. Welche Funktion würde danach die NATO haben? Wie würde das „zweite Leben“ der NATO aussehen? Was würde darüber hinaus Europa gemeinsam mit Russland gestalten können? Wie würde das viel zitierte „europäische Modell“ aussehen? Beim so genannten „Pralinen-Gipfel“ Ende April 2003 in Brüssel hätte ein Anstoß gegeben werden sollen für eine gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik innerhalb der Europäischen Union. Trotzdem seien die transatlantischen Bindungen bestehen geblieben. Man müsse sich damit abfinden, dass es einen Hegemon gebe, dürfe jedoch nicht versuchen, ein konfrontatives Gegengewicht aufzubauen. Vielmehr müsse die Politik ausbalanciert sein und Spannungen vermieden werden.
 
Seit 1997 sei das Partnerschafts- und Kooperationsabkommen zwischen der EU und Russland in Kraft, seit 1999 gebe es eine EU-Strategie für Russland zum Ausbau der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Ziel sei die Integration in den europäischen Wirtschafts- und Sozialraum. Gemeinsam müssten Kriminalität, Migration und Umweltschäden eingedämmt werden. Dabei gehe es auch um die Bewahrung von Stabilität. Beide Seiten hätten – nicht nur aus wirtschaftlichen Gründen – ein Interesse an Integration. Das gelte bei Russland auch für die ESVP, mit der die sicherheitspolitische Dimension in der EU-Partnerschaft deutlicher erkennbar werde.
 
Als mögliche Themenfelder für die Zusammenarbeit und die Entwicklung gemeinsamer Vorhaben nannte Zapf unter anderem: eine konsensuale Bedrohungsanalyse (bisher gebe es nur eine amerikanische, die aber zu weit gehe); Terrorbekämpfung; Umgang mit den verbliebenen Instabilitäten. Die EU verfolge dabei das Ziel, in der Konfliktprävention primär zivile Mittel einzusetzen und militärische Mittel nur als Ausnahme. Ein weiterer Bereich sei die Verhinderung der Proliferation von Massenvernichtungsmitteln. Auch gebe es Klärungsbedarf für den Umgang mit Ländern wie dem Iran, wo es ausgeprägte ökonomische Interessen gebe.
 
Walerij Manilow erklärte, in Russland lasse sich auch heute noch eine nachhaltige „Allergie“ gegenüber der NATO feststellen, und zwei Drittel der Bevölkerung lehnten die Erweiterung der NATO ab. Die NATO sei ein Element des Kalten Krieges, ein Rudiment alter Politik und Ideologien. Sie schaffe neue Trennlinien in Europa. Allerdings gebe es keine direkte Kriegsbedrohung für Russland. Ohne Veränderungen im Wesen der Allianz werde jedoch der Prozess ihrer Erweiterung als Bedrohung wahrgenommen. Russland sei an einer Minimierung der negativen Folgen einer solchen Erweiterung interessiert, aber nicht durch Deklarationen, sondern durch Taten und die Lösung aktueller Probleme. Jedoch entspreche die NATO nicht den Erfordernissen der Lösung solcher neuer Bedrohungen und könne nur durch kardinale Veränderungen ein wichtiges Element der europäischen Sicherheit werden.
 
Zum NATO-Russland-Rat machte Manilow geltend, dass ohne Gleichberechtigung keine Partnerschaft möglich sei. Notwendig sei auch, bei der Beurteilung von Sicherheitsbedrohungen (nicht nur im Sinne von Terrorismus) die russische Bewertung anzuerkennen und in die europäische und transatlantische Einschätzung zu integrieren. Tatsächlich gebe es innerhalb des NATO-Russland-Rates mehr als zehn funktionierende Arbeitsgruppen zu Themen wie atomare Sicherheit, Luftverkehr, Militärreformen, friedensschaffende Maßnahmen, die wichtig seien und ausgebaut werden müssten.
 
Nach Eindruck von Wjatscheslaw Nikonow sei Russland aus lange gehegten Illusionen erwacht. Seine unzureichende Einbeziehung in das europäische System habe dazu geführt, dass sich das Land marginalisiert fühle. Mit Blick auf die EU sieht Nikonow vier verschiedene Europas: jenes der Clubmitglieder, jenes der Beitrittskandidaten, jenes der potenziellen Mitglieder und schließlich jenes der Länder, die nicht Mitglied der EU werden können. Dabei stehe fest, dass Russland in absehbarer Zukunft weder in der EU noch in der NATO Mitglied werden könne. Früher habe man die Frage nach dem Wunsch einer möglichen Mitgliedschaft in Russland eher mit „ja“ als mit „nein“ beantwortet, während heute die Antwort eher „nein“ als „ja“ laute. Jedoch sei Russland hinsichtlich der Frage der EU-Erweiterung recht gelassen, da diese den Club schwächen werde. Allerdings bewertete er die Erweiterung der EU negativer als die der NATO. Das Schengen-Regime werde ausgeweitet und damit der Transit durch Mittelosteuropa für Russland erschwert, Anti-Dumping Maßnahmen gegen Russland seitens der EU würden nun auch von mittelosteuropäischen Staaten ausgehen. Zugleich werde Russlands WTO-Beitritt durch die EU erschwert. Im Verhältnis zur EU stelle ferner Tschetschenien ein Problem dar, nicht jedoch im Verhältnis zu den USA. Und bezüglich des Zugangs nach Kaliningrad sei die schlechtest mögliche Lösung gefunden worden, da die Staatsangehörigen Russlands künftig ein Transitvisum für Litauen benötigen würden.
 
In der anschließenden Diskussion betonte Wladimir Lukin, die NATO stelle eigentlich einen jener Fälle dar, bei dem eine Organisation ohne Zweck zum Sterben verurteilt sei. Um dies zu verhindern, mache man nun das Mittel zum Zweck: die Erweiterung der Allianz. Die NATO sei eigentlich eine Einrichtung der Abstimmung grundlegender sicherheitspolitischer und militärischer Fragen zwischen den USA und Europa. Jedoch entschied die USA, dass eine solche Abstimmung nicht länger notwendig sei. Die neue Organisation werde somit künftig kaum mehr als ein Beratungsorgan sein. Bezüglich der EU warf Lukin die Frage auf, ob man in Brüssel Russland als einen Außenfaktor oder einen Innenfaktor betrachte.
 
Günter Joetze bezog sich auf die am selben Tag angekündigte Entscheidung der USA, im Irak eine polnische Besatzungszone einrichten zu wollen und die damit verbundene Erregung, die sich auch im Schlangenbader Gespräch zeigte. Er stellte fest, dass es offenbar historisch geprägte Hierarchievorstellungen gebe. US-Verteidigungsminister Rumsfeld habe damit den Beweis für die Aufwertung des „Neuen Europa“ geliefert. Darüber hinaus beklagte er, dass die russische Seite keine Antwort darauf gebe, wie die Unordnung wieder geordnet werden solle. Eventuell denke die russische Seite, dass sie so wichtig sei, dass die USA sie zwangsläufig in jede Neuordnung einbeziehen werden. Deutschland vertrete eine andere Position. Man suche nach einem Maximum an Kooperation in einem verrechtlichten System.
 
Egon Bahr reagierte auf die Ausführungen Wladimir Lukins und betonte, dass die Übergangszeiten von Großbritannien, Spanien, Portugal und Griechenland bei ihrem Beitritt zur EU zeigten, welche enormen Anpassungsprozesse stattfinden mussten. Man müsse offen sagen, dass eine Mitgliedschaft Russlands in den nächsten 15-20 Jahren nicht möglich sei. Eine Zugehörigkeit sei jedoch ohne Mitgliedschaft möglich, durch Vernetzung, die in strategischer, politischer und wirtschaftlicher Hinsicht interessant sei. Bedingung sei, dass es keine Diskriminierung geben dürfe.
 
Aktuell sei jedoch die Erweiterung der NATO wichtiger, da sie neue Grenzen schaffe, mit denen Gefahren verbunden seien. Die NATO sei die einzige Grundlage für die Anwesenheit der USA in Europa gewesen und habe als Instrument für die Kontrolle Europas gedient. Das habe einen multilateralen Anstrich, sei aber unilateral bestimmt. Die NATO habe ihren alten Charakter (Abwehr der Sowjetunion) verloren, aber einen anderen, nicht-militärischen Sinn erhalten. Sie diene als politisches Führungsinstrument für neue Mitglieder und fördere die Stabilität in Regionen, in denen die Ausweitung stattfinde. Die USA hätten ein fortgesetztes Interesse an der NATO wegen der möglichen Beteiligung an einer Befriedung des Irak und Afghanistans. Dabei würden sie die NATO als ein politisches Instrument betrachten, militärisch sei sie uninteressant. Die Erweiterung der NATO bedeute zugleich eine Ausweitung der amerikanischen Kontrollmöglichkeiten in der Region. Problematischer sei es, dass im Bereich der Mittelstreckenwaffen und der Raketenabwehr eine doppelte Spaltung Europas stattfinde, und zwar zwischen Ost und West und innerhalb des Westens. Die amerikanische Militärtechnologie sei nicht verkäuflich, so dass politisch entschieden werde, wer unterhalb der Sicherheitsglocke sei und wer nicht.
 
Auch Wladimir Ryschkow bekräftigte, dass in Russland eine negative Haltung gegenüber der Erweiterung der NATO und der EU dominiere. Bisher habe niemand abgeschätzt, welche positiven Effekte davon zu erwarten seien. Er selbst erwarte von der EU-Erweiterung positive Effekte für die russische Wirtschaft. Die Bedeutung der EU sei für Russland sehr groß, vor allem im Handel, aber auch bei den Investitionen und den Auslandsreisen der Russen. Dmitrij Ljubinski verwies dagegen darauf, dass die Kooperation zwischen Russland und der EU der russischen Bevölkerung kaum Veränderungen gebracht habe. Zwar würden schöne Ziele formuliert, jedoch fehle es an Strategien zu deren Erreichung. Andrej Bugrow wiederum machte darauf aufmerksam, wie wichtig für Russland die Harmonisierung der Gesetzgebung mit der EU sei, vor allem im Bereich des Handels. Leider werde dies in Russland nicht systematisch verfolgt. Als negativ bewerte auch er die Haltung der EU zum WTO-Beitritt Russlands. Wladimir Danilow gab zu bedenken, dass es durchaus eine Notwendigkeit für die NATO gebe. Es finde ja nicht nur Beratung statt, sondern es würden praktische Maßnahmen ergriffen, wie zum Beispiel die Schaffung politischer Grundlagen für friedensschaffende Maßnahmen.
 
Wilhelm Hankel beklagte, dass bislang nur politisch korrekte Meinungen zu den Erweiterungen geäußert wurden. Trotz ihrer negativen Folgen werde die Erweiterung der EU nicht in Frage gestellt. Gleiches gelte für die NATO. Hankel sieht eine Alternative in der internationalen Verrechtlichung und der Rückkehr zum alten Völkerrecht, d.h. zu den – zumal demokratisch legitimierten – Nationalstaaten als Akteuren im internationalen System und nicht zu den funktions- und inhaltslosen Organisationen. Außerdem solle man die Zusammenarbeit in der G7 und G8 stärken und bilaterale Kontakte ausbauen.
 
Dietrich Sperling verwies darauf, dass sowohl Deutschland als auch Russland ihren einstigen Hegemonialstatus verloren hätten. Dies sei im deutschen Fall 1945 geschehen, und es seien danach die Vorteile in Gestalt er Europäisierung und der Verrechtlichung der internationalen Beziehungen spürbar geworden. Russland habe im Unterschied dazu weiterhin ein Problem, den Statusverlust zu verarbeiten. Zu den Ausführungen Wilhem Hankels mahnte er, die Realität anzuerkennen, vor allem im wirtschaftlichen Bereich, der von Transnationalität gekennzeichnet sei, und in dem es inzwischen unmöglich sei, national zu handeln. Die Nationalstaaten hätten für transnationale Unternehmen jegliche Bedeutung verloren. Deshalb sollte auch ein national verfasstes Russland nicht mit den europäischen Nationalstaaten verhandeln, sondern mit der EU.
 
Klaus Wittmann bezog sich auf die Ausführungen Walerij Manilows und betonte, dass die NATO bereits seit 1991 eine „Strategie ohne Gegner“ verfolge. Manilow habe im ersten Teil seines Vortrags Klischees über die NATO wiederholt. Es stimme nicht, dass die NATO ihr Wesen nicht verändert habe. Wittmann verwies u. a. auf verschiedene Konsultationsforen und die gemeinsamen Bemühungen zur Konfliktverhinderung. Die NATO verfüge über spezifische Fähigkeiten, handele jedoch nicht alleine. Deshalb müsse sie auch nicht alles umfassend können. Die Erweiterung der NATO werde neue Grenzen schaffen, jedoch könnten diese auch verbinden, denn die Ausdehnung der Stabilitätszone sei positiv zu bewerten. Die Tatsache, dass Russland kein Mitglied der NATO sei, bedeute nicht, dass es ausgeschlossen sei.
 
Ulrich Brandenburg hob in einer Replik auf Wjatscheslaw Nikonow hervor, dass die Erweiterung der EU für Russland viel wichtiger sei als die Erweiterung der NATO. So würden etwa die Zölle der mitteleuropäischen Staaten für Russland sinken. Aus deutscher sicherheitspolitischer Sicht sei die NATO erhaltenswert. In keiner anderen Organisation könne so gut multilateral – auch mit Russland – kooperiert werden. Die praktische Zusammenarbeit funktioniere gut, was sich in Bosnien und im Kosovo zeige. Brandenburg bedauerte das Verschwinden praktischer Anwendungsfelder, da Kooperation mit Leben gefüllt sein müsse.
 
In einem längeren Disput über die Bewertung und mögliche Lösungen des Tschetschenien-Konflikts gegen Ende des diesjährigen Schlangenbader Gesprächs sah Hannes Adomeit hier eine Aufgabe für die EU und die ESVP und warf die Frage auf, wie man den Konflikt in Bahnen lenken könne, die eine politische Lösung erlauben würden. Russland sage zwar, dass es sich um eine inner-russische Angelegenheit handele, erweise sich aber als lösungsunfähig. Wladimir Manilow entgegnete, dass Tschetschenien ein Teil Russlands bleibe, es handele sich in der Tat um eine innere Angelegenheit, die Russland alleine lösen könne – wenn es nur den Willen dazu entwickele.

 

Protokoll:
Surajjo Kabilowa
Kerstin Zimmer