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Protokoll 2002



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Einleitung
 
Erwartungsgemäß standen die diesjährigen Schlangenbader Gespräche ganz unter dem Eindruck der terroristischen Anschläge des 11. September 2001. Dabei war das zentrale, alle Diskussionen prägende Thema, ob und wie diese zehn Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges zur Herausbildung einer neuen Weltordnung beitragen können. Traditionell lag der thematische Schwerpunkt auf der Sicherheitspolitik, in diesem Jahr konkret auf den im Zeichen der Koalition gegen den Terrorismus veränderten Beziehungen Russlands zur NATO, zur Europäischen Union und zu den Vereinigten Staaten. Erneut wurde bei den diesjährigen Gesprächen aber auch die Kooperation im Energiesektor aufgegriffen; und ebenso wie bei den vorausgegangenen Konferenzen fand auch das Thema der bilateralen deutsch-russischen Beziehungen Berücksichtigung.
 
Ziel der Schlangenbader Gespräche ist die offene und intensive Diskussion zwischen Vertretern aus Politik, Militär, Wirtschaft, Journalismus und Wissenschaft beider Länder. Der Informations- und Meinungsaustausch dient dabei vor allem dem Ziel, die Motive, Interessen und Grundeinstellungen beider Seiten besser kennenzulernen, um so positiv zur Meinungsbildung beizutragen. Die Durchführung der Schlangenbader Gespräche macht deutlich, dass beide Seiten – trotz gewisser Misserfolge, Missverständnisse und unterschiedlicher Vorstellungen in den deutsch-russischen Beziehungen – weiterhin gewillt sind, den Dialog und eine offene, bisweilen kontroverse Aussprache fortzusetzen.
 
Hans-Joachim Spanger (HSFK) charakterisierte die Schlangenbader Gespräche aus Anlaß ihres fünfjährigen Jubiläums als einen Seismographen der deutsch-russischen Beziehungen. 1999, während des Balkankrieges, stand das gemeinsame Krisenmanagement im Vordergrund. Das Thema war jedoch auch im Tagungsraum mehr von einem Gegeneinander als einem Miteinander geprägt. 2000 ging es dann um die künftige Ordnung Europas, und 2001 löste das Motto „Strategische Partnerschaft – der zweite Versuch“ eine sehr konstruktive Diskussion, gleichsam im neu erwachten Geist der Kooperation, aus. Im Jahr 2002 nun seien die Gespräche durch einen grundlegenden Einschnitt in den Beziehungen gekennzeichnet, denn nach dem 11. September sei nach weit verbreiteter Meinung „nichts mehr so wie zuvor“. Auf der anderen Seite sähen sich all jene, die einen fundamentalen Wandel behaupten, in ihrer jeweiligen Wahrnehmung der Welt vor dem 11. September bestätigt. Dabei gebe es zwei Richtungen: Die erste sehe die soziale Frage in ihrer alten Form wieder auf der Tagesordnung und die zweite verweise auf neue soziale Fragen in staatsfreien Räumen, die im Zuge der Globalisierung entstanden seien.
 
 
Dinner Speech
 
Ein wichtiges Thema aller Schlangenbader Gespräche war der Einfluss aktueller Konflikte und Krisen auf die internationale Ordnung und auf das Verhältnis zwischen Russland, den USA und der Europäischen Union. Als Eröffnungsthema der diesjährigen Gespräche wurde daher der sich zuspitzende Konflikt im Nahen Osten gewählt.
 
Egon Bahr (Bundesminister a.D.) erklärte, die USA habe sich das Ziel gesetzt, in Israel einen Waffenstillstand zu erreichen und äußerte seine Verwunderung über die „Geduld“ der USA gegenüber der Tatsache, dass Israel seine eigene Linie verfolge. Die USA seien darauf bedacht, die Allianz gegen den Terror zu erhalten, ließen sich aber auch von ihren Rohstoffinteressen leiten. Angesichts der bevorstehenden Kongresswahlen in den USA begrenze die Berücksichtigung der jüdischen Wähler den Druck auf Israel. Selbst ein mächtiges Land mit einem starken, angesehenen Präsidenten könne schwach werden, zumal wenn die Waffenüberlegenheit wirkungslos bleibe. Bahr sah die Stärke des israelischen Ministerpräsidenten Scharon darin, ein durchdachtes Konzept nun mit großer Nervenstärke eiskalt durchzusetzen. Das Verwehren der Einreise der UNO-Kommission zur Untersuchung der Massaker-Vorwürfe in palästinensischen Flüchtlingslagern sei innerhalb dieser Logik nur konsequent, da es einfacher sei, diesbezügliche internationale Kritik zu verkraften, als sich mit den möglichen fatalen Ergebnissen einer Untersuchung auseinander zu setzen. Arafat sei der erkennbar Schwächere. Trotz wiederholter und steigender Demütigungen nutze er jene Möglichkeiten, die Scharon ihm biete. Er bleibe einziger anerkannter Sprecher der Palästinenser, möglicherweise unumstrittener als zuvor. Nach Bahrs Meinung solle man überlegen, ob Scharons Absicht, die palästinensische Autonomiebehörde entscheidend zu schwächen und handlungsunfähig zu machen, durch die Zerschlagung der materiellen und personellen Basis tatsächlich erreicht werden könne. Angesichts des Hasses und der allgegenwärtigen Angst sei es fraglich, ob die beiden Parteien vertragsfähig werden. Ein durch äußeren Druck erreichter Waffenstillstand sei sowohl in Israel als auch in Palästina innenpolitisch nicht durchzusetzen. Wenn Druck von außen aber keinen Erfolg habe, werde sich der Konflikt wohl „ausbluten“ müssen. Bislang verfolge jede Seite ihre eigene Linie, Israel mit der Armee, Palästina mit Terror und Selbstmordattentaten. Nach den Worten Bahrs könne dies „das Tor zur Hölle öffnen.“
 
Wladimir Lukin (Stv. Vorsitzender der Staatsduma der Russischen Föderation) gab namentlich den USA die Schuld an der verfahrenen Situation im Nahen Osten. Vor allem die Clinton-Administration habe stark zur Eskalation der Situation beigetragen. Die neue US-Administration habe jedoch nichts unternommen und ließe die Situation weiter eskalieren. Schließlich musste sie politisch intervenieren, sei aber ratlos und änderte ständig ihre Position. Die Frage nach möglichen und notwendigen Schritten beantwortete Lukin mit „Keiner weiß es.“ Jeder verstehe, dass man handeln müsse, aber diese Einstellung allein helfe wenig. Die Aktivitäten der USA seien zwar wirkungslos, aber Tatenlosigkeit bringe auch nichts. Europas Beteiligung bei den Verhandlungen in Oslo habe jedoch auch nur auf dem Papier geholfen. Jetzt sei eine europäische Beteiligung nicht sichtbar und das sei ebenfalls nicht hilfreich. Hauptursache für den bisherigen Misserfolg sei, dass die politischen Grundlagen für einen Friedensprozess nicht ausgereift waren. Dies könne dann eintreten, wenn beide Seiten ermüdeten und nach einer Lösung riefen. Die Erbitterung auf beiden Seiten sowie die Bereitschaft zu Opfern zeige jedoch, dass dieses Stadium noch nicht erreicht sei. Eine alternative Möglichkeit sieht Lukin in einer dritten Kraft, die imstande sei, eine Lösung aufzuzwingen. Der einzige Kandidat dafür seien die USA, die dazu – unter anderem aus innenpolitischen Gründen – jedoch aktuell nicht in der Lage seien. Dem Druck auf Israel seien also Grenzen gesetzt. Aber auch der Druck auf die arabischen Staaten stoße auf Grenzen, die durch die Rohstoffinteressen und die US-Strategie im arabischen Raum gesetzt seien. Russland werde mit Recht für seine passive Haltung kritisiert, habe jedoch wenig Möglichkeiten einzugreifen. Die EU und Russland sollten die USA zu einer besseren Zusammenarbeit bewegen. Lukin glaubt an die Möglichkeit eines Waffenstillstandes, jedoch nicht an eine endgültige Lösung.
 
In der anschließenden Diskussion stimmte Dietrich Sperling zu, dass keiner wisse, was man tun solle. Möglicherweise sei das Nicht-Handeln sogar konstruktiver als Handeln. Eine Parteinahme führe zwangsläufig zu einer Erniedrigung und damit nicht zu Ergebnissen. Sperling verwies auf gesellschaftliche Gruppen auf beiden Seiten, die an einer Beendigung des Konfliktes interessiert seien. Auf israelischer Seite werde sie etwa von dem Intellektuellen Uri Avnery sowie verschiedenen Frauengruppen getragen, die gegen die Politik von Scharon aber machtlos seien. Es sei wichtig, die amerikanische Haltung nicht zu verteidigen. Gesellschaftliche Veränderungen in den USA vollziehen sich sehr schnell und das historische Gedächtnis sei ausgesprochen kurz. Die Amerikaner verstünden nicht, dass ihr heutiges Verhalten im Widerspruch zu ihrem gestrigen stehe. Die europäischen Länder mit ihrem längeren historischen Gedächtnis sollten es ihnen deshalb gemeinsam verständlich machen.
 
Günter Joetze (Botschafter a.D.) führte aus, Deutschland weiche dem Zwang zum Handeln mit der Hoffnung auf Prävention aus. Israel könne Palästina niederkämpfen, wenn die arabische Welt, die bislang nur verbal in Erscheinung trete, sich nicht einmische. Die Gefahr, dass das „Tor zur Hölle“ sich öffne, sei tatsächlich groß, vor allem wenn Israel nicht nur die arabischen Staaten, sondern auch die christlich-weiße Welt gegen sich aufbringe.
 
Nach Meinung von Brigadegeneral Klaus Wittmann (Führungsakademie der Bundeswehr) sei es fatal, nach dem 11. September alle Aspekte der Außen- und Sicherheitspolitik nur noch unter dem Blickwinkel des Terrorismus zu sehen und sich nur auf kurzfristige Aspekte zu beschränken. Andere Probleme seien nicht verschwunden. Man dürfe nicht nachlassen, über längerfristige Lösungen zu reden. Vermutlich sei es aber notwendig, auf die Generation nach Scharon und Arafat zu warten.
 
Sergej Karaganow (Europa-Institut der RAW, Rat für Außen- und Verteidigungspolitik) sieht eine Mitverantwortung Europas für die entstandene Situation auf Grund der political correctness und der Unterstützung des Prinzips der Selbstbestimmung der Nationen, einschließlich des Rechtes auf einen eigenen Staat. Jetzt müsse man abwarten, bis beide Seiten entkräftet seien, und dabei nicht heimlich eine Seite unterstützen. Doch könne es notwendig werden, Truppen zu entsenden und einen Frieden zu erzwingen. Egon Bahr wandte ein, die Unterstützung für die Selbstbestimmung der Völker sei eine wichtige und sinnvolle Sache, wenn diese friedlich durchgesetzt werde.
 
 
Panel 1:
Die Anti-Terror-Koalition als Nukleus einer neuen internationalen Ordnung?

 
Hans-Joachim Spanger ging einleitend davon aus, dass die Entscheidung Russlands, der Koalition gegen den Terrorismus beizutreten, als alternativlos gesehen werden kann. Unter dem Blickwinkel, dass Russland bereits in Tschetschenien geraume Zeit gegen den islamischen Fundamentalismus kämpft und nun die USA diesem Kampf beigetreten seien, sei die Koalition in der russischen Wahrnehmung lediglich eine Ausweitung bisheriger Praxis. Im Westen wiederum werde der Beitritt Russlands nicht richtig gewürdigt, vor allem nicht als give and take, sondern er werde stärker als „Gefolgschaft“ wahrgenommen. Es stelle sich daher die Frage, ob (1) aus einer punktuell entstandenen Koalition etwas dauerhaftes werden könne und ob diese (2) eine angemessene Antwort auf den Terror darstelle.
 
Wladimir Lukin warf in seinem Beitrag drei Fragen auf: (1) Gibt es eine Koalition? (2) Kann sie Kern einer neuen Weltordnung sein? (3) Sind die USA bereit, die Führungsrolle zu übernehmen? Die erste Frage beantwortete er positiv. Die Koalition bestehe durch den Impuls des 11. September. Jedoch handele es sich um eine Koalition auf negativer Grundlage, die sich lediglich gegen den neuen, gefährlichen Feind richte. Historisch haben seiner Meinung nach aber nur solche Koalitionen überlebt, die außerdem eine Plattform zum Aufbau von etwas Neuem entwickeln konnten.
 
Zur zweiten Frage könne man feststellen, dass im Prinzip die EU, Russland und die USA den Kern der neuen Ordnung darstellen könnten. Man brauche ein gemeinsames Ziel, eine von allen Beteiligten anerkannte Führung sowie Teamgeist, um eigene enge Ziele zurückstellen zu können. Es sei wichtig, sich von einer positiven Aufgabe leiten zu lassen. Die allgemeine Parole der Etablierung von Demokratie reiche nicht aus. Lukin unterschied zwischen zwei Gesichtern einer Koalition: ein bewahrendes (konservatives) und ein mobilisierendes (revolutionäres). Das Problem bestehe darin, dass eine Alternative zur Führung der USA, die den Willen zur Führung vermissen lassen, nicht sichtbar sei. Die Antworten Washingtons auf die Globalisierung seien nicht überzeugend, wie beispielsweise der Umgang mit dem Kyoto Protokoll zeige. Es handele sich um reine Zweckmäßigkeit und Opportunismus. Die USA bezögen andere Länder oder die UNO nur dann ein, wenn sie diese brauchten. Danach seien sie nicht mehr von Interesse. Lukins Fazit lautete daher, dass ein Land mit einer konservativen Führung keine Impulse geben könne.
 
Die Frage nach den anderen Teilnehmern der Koalition beantwortete Lukin vorsichtig. Die europäische Union sei im Prinzip bereit, jedoch nur in begrenztem Maße fähig, denn ein wirklich geeintes Europa gebe es nicht, und noch handele jeder Staat einzeln. Die Vertiefung und Erweiterung der EU sind seiner Meinung nach schlecht vereinbar mit militärischen Einsätzen außerhalb der Union. Somit stelle sich die Frage nach der Überwindung dieses Problems. Russland hat sich entschlossen und schnell an der Koalition beteiligt. Dabei bleibt festzustellen, dass die politische Führung eher bereit sei, die Koalition beizubehalten, wenn auch nicht ganz einheitlich. Dagegen gebe es Widerstände im Volk. Das schaffe auf der internationalen Ebene den Eindruck einer kühlen Haltung Russlands. Auch in Russland stehen Wahlen bevor, so dass sowohl der Präsident als auch die Abgeordneten den Dialog mit den Wählern suchen.
 
Die Perspektiven beurteilte Lukin folgendermaßen: Eine konservative Gelegenheitskoalition zur Durchsetzung amerikanischer kurzfristiger Interessen werde für Europa eher eine Angstkoalition. Eine reformatorische Koalition sei möglich, aber schwer erreichbar. Eine Alternative in den USA zeichne sich kaum ab. Die EU müsse ihren Blickwinkel verändern, denn die Außenperspektive sei wichtig. Auch sei die strategische Stabilität Russlands relevant.
 
Egon Bahr stellte bei seiner Analyse des 11. September vier Aspekte in den Vordergrund:

(1)  Die Förderung der Globalisierung. Alle Staaten richteten sich gegen entstaatlichte Gewalt. Ein Bündnis ohne Vertrag, wie die Koalition gegen den Terrorismus, weise eine gewisse Labilität auf, jedoch werde es halten, solange die Gefahr nicht beseitigt ist. Jeder neue Anschlag werde also das Bündnis festigen. Es werde jedoch nur dann Kitt für eine internationale Ordnung, wenn es so lange halte, bis bisherige Konflikte entschärft sind und die Vorteile einer neuen internationalen Ordnung für alle sichtbar werden. Die Bildung einer Reformkoalition sei nicht möglich, denn Washington sei daran nicht interessiert. Aus seiner Sicht sei es eine reine Koalition gegen den Terror und vor allem eine zum Vorteil Amerikas.

(2)  Bahr diagnostizierte eine Beschleunigung bereits zuvor angelegter Entwicklungen, wie z.B. die NATO-Erweiterungsdiskussion seit Sommer 2001 und die Vorstellung, im Herbst 2002 eine größere Zahl von Staaten auf einmal aufzunehmen. Die Bedeutung für Europa manifestiere sich u. a. darin, dass eine Stationierung von kleinen und kleinsten Atomwaffen in Europa erfolgen könne und damit bestehende Verträge in Frage gestellt würden. In Deutschland würde dies eine neue Atomdebatte hervorrufen. Eine viel akutere Frage sei die der Raketenabwehr. Die Verhandlungen über die strategischen Langstreckenwaffen erfolgten wie immer bilateral zwischen Russland und den USA. Die Bundesregierung gehe davon aus, dass eine Stationierungsentscheidung nicht reif ist. Bei einem konkreten Angebot seitens der USA werde es in Europa keine geschlossene Antwort geben. Großbritannien, die Türkei und Italien werden sicherlich zustimmen, Polen möglicherweise auch. Frankreich werde ablehnen und die Entscheidung Deutschlands sei ungewiss. Dies werde zu einer Spaltung Europas führen. Die Positionen zwischen Deutschland und Frankreich fallen auseinander, was zu einem Riss zwischen Berlin und Paris führen und dem Motor der europäischen Entwicklung Schaden zufügen könne. Bei der Raketenabwehr handele es sich um moderne, nicht-verkäufliche Technologie. Selbst durch eine Beteiligung erhielten die Staaten kein Mitspracherecht. Wenn man sich unter die „Glocke“ begebe, werde alles, was darunter ist, durch die Glocke dominiert, die allein von Amerika bestimmt werde. Da Raketenabwehr nur dort funktioniere, wo sie ist, komme es zu einem sicherheitspolitischen Split in Europa: in einen USA-dominierten Teil und einen Teil, der nicht von den USA dominiert werde. Was ist dann mit der angestrebten gesamteuropäischen Sicherheit? Die amerikanische Abschreckungsstrategie bedeute die Gefährdung der europäischen Sicherheit. Dies geschehe nicht aus Bösartigkeit oder gar Feindseligkeit gegenüber Europa, sondern sei das Ergebnis der Definition amerikanischer Interessen, zu welchen die Kontrolle des eurasischen Kontinents gehöre. Die USA hätten keinen Grund, die Emanzipation Europas heute ernster zu nehmen als früher.

(3)  Die Vereinigten Staaten seien gestärkt aus der Krise nach dem 11. September hervorgegangen; sie seien zu einem Faktor in Zentralasien geworden, und sie bestimmten die Themen, Agenda und Mittel. Sie verfolgten ihre Interessen durch die Setzung von Regeln, denen sie sich selbst nicht unterwerfen. Bahr stellte fest, dass die Selbstverständlichkeit der Forderungen an andere, denen die USA sich selbst nicht unterwerfen, kein neues Phänomen sei. Es sei eine Mischung aus Machtbewusstsein und Naivität.

(4)  Die realen Machtverhältnisse seien seit dem 11. September deutlicher geworden. Putin habe sie sehr realistisch eingeschätzt und schnell entschieden, der Anti-Terror-Koalition beizutreten. Dies stärke Russland politisch und mache es zu einem Gewinner des 11. September. Putin setzte die Westorientierung gegen innenpolitische Gegner durch. Außerdem wurde die NATO-Russland-Akte aufgewertet und eine Partnerschaft zum Westen begonnen, die die USA leichtfertig aufs Spiel setzen könnten, die Europa aber pflegen werde.
 
Egon Bahr sieht potenziell eine Art von Ost-West-Entspannung, die es Russland erlaube, seine Kräfte zu konsolidieren, sich seinen eigenen Interessen im Süden des Landes zuzuwenden und die zugleich der EU Vertiefung und Erweiterung gestatte. Somit sei der „Rückweg Europas nach Osten“ unübersehbar und das „natürliche Gleichgewicht“ werde wieder hergestellt. Der Unterschied zu früheren Jahrhunderten sei die Sorge vor dem Terror. Außerdem werde die Macht Amerikas dafür sorgen, dass ein Krieg innerhalb Europas unmöglich werde. Es könne kein Ziel sein, die USA militärisch einzuholen oder ihr ähnlicher zu werden. Die Selbstbestimmung Europas solle sich durch die Besinnung auf eigene Werte vollziehen, unter unbestreitbarer Dominanz der USA, ohne die dieser Prozess gar nicht möglich sei.
 
Sergej Karaganow verwies in seinem Einführungsbeitrag ebenfalls auf die militärische Dominanz der USA und auf die damit verbundenen Konfrontationsrisiken. Raketenabwehrsysteme könnten ohne Zustimmung der Europäer in Europa nicht stationiert werden. Er sieht eine stattliche Anzahl von Herausforderungen, die mit den zunehmenden zu tun hätten, unter anderem mit China und den ASEAN-Staaten sowie im Nahen Osten. Insgesamt sei es durch die Globalisierung zu einer Destabilisierung gekommen, und ein Resultat sei der Terrorismus. Karaganow wies auf die Schwächung der NATO und auf Probleme der EU-Staaten hin, deren Sicherheitspolitik sich an der Vergangenheit orientiere. Die USA zeige einen deutlichen Verfall ihrer Führungsfähigkeit und sei somit kein „effektiver Hegemon“. Vielmehr zeichne sich die momentane Situation durch Orientierungslosigkeit aus, und viele Akteure hätten Schwierigkeiten, mit der neuen Situation zurecht zu kommen, da sie der Ideologie der 1970er Jahre verhaftet seien. Karaganow schlussfolgerte, dass man den Kampf gegen die negativen Folgen der Globalisierung führen müsse und es nicht zulassen dürfe, dass die USA zu einem weiteren destabilisierenden Faktor werden.
 
Aleksandr Dynkin (IMEMO der RAW) verwies auf den nach wie vor bestehenden Nord-Süd-Gegensatz und das Scheitern der bisherigen Hilfeleistungen. Die Entscheidung Putins zum Beitritt zur Anti-Terror-Koalition sei rational gewesen. Diejenigen, die für eine Neutralität Russlands plädierten, hätten sich von ihren anti-amerikanischen Instinkten leiten lassen. Im Oktober 2001 seien aber nur 10 Prozent der russischen Bevölkerung für eine Beteiligung gewesen, 70 Prozent dagegen. Dynkin wies außerdem darauf hin, dass die USA 1999 nach dem Angriff Tschetscheniens auf Dagestan nicht bereit gewesen seien, sich an der Aufklärung der Finanzquellen zu beteiligen. Neu an der Gefahr sei die Intransparenz, da sie nicht an einen Staat gebunden sei. Die einzige Möglichkeit sieht er in der Zerstörung der Terror-Knotenpunkte, und zwar nicht nur im arabischen Raum, sondern auch in „unseren Ländern“. Eine globale Gefahr brauche eine globale Antwort. Dazu sei die Schaffung einer Organisation mit Normen und Prozeduren sowie Truppenübungen und Zusammenarbeit bei Flugabwehr, Logistik und Nachrichtendiensten notwendig. Vor allem müsse bei der Finanzkontrolle kooperiert werden.
 
Wilhelm Hankel (Universität Frankfurt) stellte eine generelle Überbewertung der Bedeutung des 11. September sowie eine Überschätzung der Stärke der USA fest. Im allgemeinen scheiterten Weltreiche vor allem aufgrund ihrer zurückgehenden Ressourcen-Basis. Für die USA verwies er auf die Verschuldung und Probleme bei der Kapitalbildung und Investitionen. Es stelle sich so die Frage, ob die eingeleitete Aufrüstung durchgehalten werden könne. Hankel konstatierte außerdem eine Proliferation der sozialen Frage in der Ersten Welt. Jeder ökonomische Fortschritt bedeute eine Zunahme sozialer Spannungen als Folge von Globalisierung und Integration. Die Wohlfahrtsstaaten als Identifikationsmodell und lebensprägende Gebilde seien nur noch Fassaden, die in absehbarer Zeit brüchig würden. Somit stelle sich die Frage nach sozialer Sicherung innerhalb der Nationalstaaten und nach der Neuordnung des Verhältnisses von Markt und Staat. Dietrich Sperling hob in diesem Zusammenhang die Rolle der globalisierten Finanzmärkte hervor, auf welchen der US-Dollar als Waffe fungiere. Diese zerstörten soziale Sicherheit und produzierten Armut und ein Reservoir für Terrorismus, wobei es selbstverständlich nicht die Armen seien, die zu Terrorakten greifen, sondern diejenigen, die (auch durch westliche Institutionen) gut ausgebildet seien und sich zum Sprecher der Armen erklärten.
 
Ulrich Brandenburg (Auswärtiges Amt) stellte fest, dass Russland sich von seinem Weltmachtanspruch verabschiedet habe und zu einer realistischen Einschätzung der eigenen Interessen und Möglichkeiten gekommen sei. Jedoch bleibe offen, wie stabil diese Wendung sei: Gibt es realistische Alternativen zur Linie der russischen Außenpolitik? Und was kann der Westen tun, um die Hinwendung Russlands zu Europa in wirtschaftlicher, politischer und militärischer Hinsicht zu stützen? Die Zusammenarbeit zwischen der NATO und Russland sowie die Erweiterung der NATO folgten der gleichen Logik hin zu einer stärker politisch orientierten Organisation, ohne aber deren Funktionsfähigkeit in Frage zu stellen.
 
Günter Joetze charakterisierte die europäische Politik als Versuch, „den Hegemon günstig zu stimmen“ und sich gut in dessen Hegemonie einzurichten. Auch die Russische Föderation scheine sich auf diese Taktik einzulassen. Er stimmte Hankel darin zu, dass Großreiche häufig wegen overstretch untergegangen seien, fügte dem aber noch einen weiteren Faktor hinzu, nämlich den Paradigmenwechsel, der sich natürlich nur sehr langsam vollziehe und auf den man sich planerisch nicht einstellen könne. So gäbe es heute in den USA mehr arabischstämmige Einwohner als jüdische. Dazu kommen viele Einwanderer aus Lateinamerika und Asien. Dies könne mittelfristig zu einer veränderten Ausrichtung der USA führen. Und Europa solle dies beachten.
 
Sergej Medwedew (George C. Marshall Center, Garmisch-Partenkirchen) unterstrich, dass es auch in diesem Konflikt den Beteiligten darauf ankomme, Stärke zu demonstrieren. So sei es auch im Kosovo gewesen, wo das Ziel nicht die Rettung der Kosovo-Albaner sondern die Stärkung der NATO gewesen sei. Ebenso werde mit der neuen Weltordnung verfahren. Dazu „erfinde“ man Terroristen. Er widersprach Egon Bahr und sagte, dass gerade unter der Glocke der Sicherheit in Europa eine neue Identität entstehen könne.
 
Andrej Sagorskij (Genfer Zentrum für Sicherheitspolitik) betonte, dass es sich bei der Antiterror-Koalition nicht um einen Nukleus für eine neue Ordnung handele, sondern um ein zweites System. Der erste Beschleunigungsfaktor sei das Ende des Kalten Krieges gewesen. Die Abschottung und die bloße Bekämpfung der Folgen der Probleme seien unzulänglich. Statt dessen müsse man die Ursachen bekämpfen.
 
Heinz Timmermann (Stiftung Wissenschaft und Politik) verwies darauf, dass die Dominanz der USA eigentlich akzeptiert sei. Nur wolle man sie beeinflussen. Dabei spielten Europa und Russland eine wichtige Rolle. Das Verhältnis zwischen den USA und Russland sei jedoch eindimensional und konjunkturell. Damit komme die EU ins Spiel und es stelle sich die Frage, wie gut die Beziehungen zwischen der EU und Russland auf den Gebieten Handel sowie Militär und Technologie seien. Dabei könne möglicherweise Kaliningrad als Modell und Testfall dienen.
 
Sergej Karaganow betonte, dass für eine gemeinsame Strategie nicht nur die Zieldefinition sondern auch Ressourcen notwendig seien. Diese seien moralisch, politisch und organisatorisch zu schwach, als dass sie es den Staaten erlauben würden, sich auch nur in einem Feld zusammen zu tun.
 
Peter Schulze (Friedrich-Ebert-Stiftung) verwies darauf, dass in den USA gegenwärtig bestimmte Themen tabu seien, was einen Unterschied zu den Zeiten des Vietnam-Krieges oder des Konfliktes mit den Sandinistas in Nicaragua ausmache.
 
Egon Bahr verwies abschließend auf die Grundregel amerikanischer Politik, sich nicht binden und kontrollieren zu lassen. Amerika werde sich die Politik der freien Hand nicht nehmen lassen. Selbst eine Stagnation oder ein Rückgang der amerikanischen Rüstungsausgaben beließen diese immer noch auf einem unvergleichlich hohen Niveau. Die von Günter Joetze genannten innenpolitischen Veränderungen seien unverkennbar, dauerten aber sehr lange. Man müsse sich die Frage stellen, was in der Zwischenzeit geschehen solle. Dem Einwand von Sergej Medwedew, dass sich unter der amerikanischen Sicherheitsglocke eine europäische Identität entwickeln könne, pflichtete er bei und betonte, dass diese sich auf das Prinzip des Gewaltverzichts - die Stärke des Schwachen - gründen könne. Wladimir Lukin sah abschließend ebenfalls keine rationale Alternative zum Beitritt zur Anti-Terror-Koalition. Militärische Kooperation in Europa sei selbstverständlich möglich, hänge aber vom Willen und den Interessen der Westeuropäer ab.
 

 
Panel 2: 
Strategischer Imperativ versus ökonomische Konkurrenz?
Die Chancen kooperativer Rüstungssteuerung im Dreieck USA, EU, Russland

 
Dieses Panel ging der Frage nach, ob und welche Impulse von der veränderten weltpolitischen Lage für die rüstungstechnologische Kooperation ausgehen könnten.
 
Generaloberst Walerij Manilow (Mitglied des Föderationsrates der RF) bezog sich auf die vorausgegangene Diskussion und betonte, der Krieg gegen den Terrorismus habe seine Ziele nicht erreicht. Die Rolle militärischer Kräfte habe sich verändert, und die bisherigen Formen seien den neuen Bedrohungen unangemessen. Strategischer Imperativ sei die Kooperation und Partnerschaft, und zwar zwischen der EU bzw. ihren Nationalstaaten einerseits und Russland andererseits. Russland ist ein wichtiges Land, dessen ökonomische und soziale Probleme temporären Charakter hätten. Der Partnerschaft müsse man praktische Formen geben. Angesichts der Tatsache, dass 65 Prozent aller weltweiten Militärausgaben von den USA getätigt werden, werde die Verletzbarkeit aller anderen Länder sichtbar. Dem müsse man Partnerschaft gegenüberstellen. Diese Partnerschaft finde auf sensiblem Gebiet statt: (1) Massenvernichtungswaffen, sowohl atomare als auch konventionelle. Hier seien Kontrolle und Transparenz notwendig. (2) Entwicklung konkreter Programme zur frühzeitigen Bestimmung von Spannungsgebieten. Hier sei Informationsaustausch nötig, zu dem bislang aber nur die russische Seite bereit sei. (3) Militärisch-technisch bestehe ein unbegrenztes Kooperationspotenzial. Nur müsse man sich von alten Ängsten befreien. Das russische Potenzial sei hoch und verschiedene Entwicklungen könnten in eine gleichberechtigte Partnerschaft eingebracht werden. Dazu gehörten: gemeinsame friedensschaffende Maßnahmen, die Räumung von Minenfeldern, Konfliktmanagement sowie der Transport (vor allem Großraumflugzeuge). Eine zuverlässige gemeinsame Sicherheit für die europäischen Staaten, Russland eingeschlossen, dürfe nicht nur militärisch verstanden werden, sondern umfasse auch Fragen der Ökonomie, Information und des Umweltschutzes. Natürlich solle die militärische Komponente angemessen sein. Inakzeptabel sei das Diktat eines Staates. Manilow forderte statt dessen eine Harmonisierung der Interessen und keinen willkürlichen Einsatz militärischer Gewalt. Die Anti-Terror-Koalition sei nur ein kleiner Mosaikstein für eine neue Weltordnung.
 
Brigadegeneral Klaus Wittmann betonte, dass der eigentliche Epochenbruch 1989/1990 stattgefunden habe. Der 11. September 2001 – als „defining event“ – habe lediglich die Ereignisse beschleunigt und zeigte Verwundbarkeiten auf, stelle selbst jedoch keinen Epochen- oder Paradigmenwechsel dar. Wittmann stimmte den Kooperationsmöglichkeiten zu, die Manilow aufgefächert hatte. Für diese Kooperation stellte er folgende Thesen auf: (1) Die Bedrohung durch den Terror dürfe den Blick nicht verengen. (2) Ein umfassender Sicherheitsbegriff ist unverzichtbar. (3) Es ist wichtig, Armut und soziale Probleme als Nährboden für Terror zu überwinden. (4) Die globale Zusammenarbeit solle in synergetischer Hinsicht stattfinden. (5) Die neue Weltordnung muss gestaltet und abgesichert werden, wobei Deutschland und Russland eine bedeutende Rolle zukommt. (6) Bei der Prävention sind zivile und militärische Komponenten integrale Bestandteile eines Entscheidungs- und Handlungskonzeptes. Jedoch müsse auch Abschreckung eine Rolle spielen. (7) Der EU kommt eine besondere Rolle zu, nicht in Konkurrenz sondern komplementär zur NATO und den USA. (8) Die USA sind eine unverzichtbare Weltmacht. (9) Notwendig ist eine angemessenere Priorität für Sicherheitspolitik im jeweils nationalstaatlichen Verteilungskampf sowie „smarter spending“. Schließlich bezog er sich auf einen am 26. September 2001 in der Welt erschienenen Artikel, der vier mögliche Szenarien für die Welt im Jahre 2010 eröffnete: (a) Dschihad-Age; (b) „Globalisierung Plus“ (Zusammenwachsen des Planeten durch die Krise); (c) Separation; (d) Security Age (Hochsicherheitszeitalter). Diese Szenarien stellte er zur Diskussion.
 
Klaus Dieter Bergner (EADS, Paris) schilderte Möglichkeiten für die Kooperation im militärischen Bereich sowie die damit verbundenen Chancen und Risiken: „Alles, was wir bewegen können, beginnt in den Köpfen.“ Kooperationspartner hätten unterschiedliche wirtschaftliche Interessen, die häufig verbunden seien mit dahinterstehenden politischen Interessen. Es gehe immer um „Führung“, und nationale Eigenarten sowie Unternehmenskulturen spielten eine wichtige Rolle.
 
Der Rüstungsmarkt bestehe aus zwei Teilen. Der erste sei der nationale Markt, der durch staatliche Nachfrage bzw. den Verteidigungshaushalt bestimmt werde. Der zweite sei der Export-Markt, dessen Spielregeln davon bestimmt seien, wohin jeweils exportiert werden dürfe. In Deutschland stünden etwa 6 Milliarden Euro jährlich für militärische Beschaffungen zur Verfügung. Zur Verbesserung der Rüstungszusammenarbeit sei es auf Betriebsebene wichtig, Kooperationen einzugehen und eine Ressourcenbündelung vorzunehmen. EADS als multinationales Unternehmen sei ein Beispiel dafür. Es komme nicht auf die Grundlagenforschung und Technologieentwicklung an, sondern vor allem auf finanzielle Ressourcen und den Markt.
 
Die russische Haltung zu Fragen der Rüstungszusammenarbeit beurteilte Bergner als uneinheitlich, so dass sich die Beteiligten in drei Kategorien einteilen ließen: Einige russische Akteure vertreten die Ansicht, alles selbst tun zu können. Andere forderten die ausländischen Partner auf, vorhandene Produkte zu kaufen. Diese Position sei aus industrie- und arbeitsmarktpolitischer Perspektive für europäische Partner nicht akzeptabel. Markterfolg könne es nur dann geben, wenn man dem Partner die gesamte Technologie zugänglich mache. Die dritte Gruppe von Akteuren ziehe es vor, mit den USA statt mit dem industriellen Flickenteppich Europa zu kooperieren. Bergners Schlussfolgerung lautete: Die Politik müsse geeignete Rahmenbedingungen schaffen und je abhängiger beide Seiten dabei voneinander werden, desto geringer werde die Gefahr von Konflikten, worin ihm alle Beteiligten zustimmten. Es sei wichtig, Sachzwänge strategischer Kooperation zu schaffen. Die politische Begleitung könne verschiedene Formen annehmen: z.B. Abstimmung der Streitkräfte über gemeinsame Beschaffungsprogramme in verschiedenen Bereichen oder Anpassung von Zollgesetzen.
 
Sergej Nedoroslew (KASKOL-Gruppe) beleuchtete die Zusammenarbeit in der Praxis, vor allem das Thema der Produktion im Dreieck Russland-EU-USA. Die amerikanische Seite kooperiere nicht, da sie es weder ökonomisch noch technologisch als notwendig erachte. Die russische Seite verfüge nur über sehr geringe Budget-Mittel für Rüstungsausgaben, so dass keine Binnennachfrage bestehe. Jedoch habe Russland Möglichkeiten, Produkte anzubieten, so z.B. an Indien oder China. Bei 60 Prozent der Rüstungsbetriebe sei der Staat beteiligt (bei 30 Prozent mit einem Kontrollpaket), 30 Prozent der Betriebe befänden sich gänzlich in privater Hand. Ewald Böhlke (Daimler-Chrysler) stellte ein Informationsdefizit auf europäischer Seite über die Entwicklungen in Russland fest. Dies gelte für wirtschaftliche und militärische Veränderungen sowie für die verschiedenen Kooperationen Russlands, wie z.B. mit China.
 
Ottokar Hahn (Landesminister und Botschafter a.D.) verwies darauf, dass der Bereich Forschung und Entwicklung in der Kooperation zwischen der EU und Russland durch das 6. Rahmenprogramm der EU Formen annehme. Er fragte nach Möglichkeiten der zivilen Nutzung des russischen Potenzials. In Russland herrsche zum Teil eine übertriebene Geheimhaltung, obwohl die zivile Nutzung zur Lösung finanzieller Probleme beitragen könne.
 
Klaus Wittmann betonte, die Unverzichtbarkeit der Europäer für die USA müsse sich durch die Fähigkeiten und nicht durch Worte ausdrücken. Jedoch sollte keine Arbeitsteilung entstehen, bei der sich Europa lediglich zivil und die USA militärisch engagierten. Auf keinen Fall dürfe die EU einerseits Trittbrettfahrer der USA sein und andererseits Kritik an der amerikanischen Politik äußern. Es dürfe auch nicht zum Rüstungswettlauf unter Freunden kommen.

 
 
Panel 3:
Ökonomische Konkurrenz als strategischer Imperativ?
Die Perspektiven der gesamteuropäischen Energiekooperation

 
 
Die Diskussion in diesem Panel knüpfte an die Debatte über die Europäische Energiecharta im vergangenen Jahr an.
 
Prof. Telegina (ENGIN) betonte, dass es im Energiesektor nicht um einen Kampf um die Stellung auf dem Markt gehe, sondern um die Erschließung und Kontrolle von Ressourcen. Dieser Kampf stelle sich vorläufig als ökonomische Konkurrenz dar, jedoch sei grundsätzlich auch die Anwendung militärischer Gewalt zur Sicherung von Energieressourcen nicht auszuschließen. Vor allem der Transport der Energie bis zum Konsumenten sei wichtig. Die neuen Fundorte seien in Russland immer weiter von den traditionellen Verbrauchern entfernt, so dass zwei Drittel der Kosten Transportkosten seien. Die Transportwege müssen abgesichert werden und erforderten ein neues Sicherheitsdenken.
 
Die Liberalisierung der Märkte erfordere die Zulassung neuer – instabiler – Akteure auf etablierten Märkten. Die politischen Risiken seien hier hoch. Russland habe eine besondere Position: Einerseits finanzierten die Energieeinnahmen einen großen Teil des Staatshaushaltes, andererseits werden bei steigender internationaler Nachfrage Einkäufe aus Russland wichtiger, da andere Bezugsregionen instabil seien. Jedoch bremse die mangelhafte Infrastruktur diese Entwicklung. Voraussetzung für eine aktivere Rolle Russlands sei eine Reform des Energiesektors. Außerdem müsse der Energiekomplex an die geostrategischen Aufgaben der Russischen Föderation angepasst werden und sich auch auf den asiatischen Markt konzentrieren. Die Kooperation mit Europa und die nachhaltige Sicherung der Energieversorgung bleibe jedoch notwendig.
 
Theodor Schtilkind (Niigasekonomika) bezog sich auf die Energiecharta. Auf Russland werde bezüglich der Ratifizierung Druck ausgeübt. Jedoch habe die Duma die Ratifizierung an eine erfolgreiche Lösung der Transitfrage geknüpft, da der Transit hohe Kosten verursache. Ungelöste Fragen seien: (1) die Definition vorhandener Kapazitäten für den Transit; (2) das Recht der ersten Abgabe, d.h. Priorität für die Verlängerung von Lieferbeziehungen gegenüber neuen Lieferungen; (3) eine gerechte und ehrliche Ausgestaltung der Transittarife; (4) die Regelung von Transitstreitigkeiten, wie sie bisher vorgesehen ist, sei für Russland nicht akzeptabel; (5) das Angebot der EU zur regionalen ökonomischen Integration, wobei der Transport innerhalb der EU von der Charta nicht erfasst werde. Dies löse auf russischer Seite Empörung aus.
 
Hartmut Schneider (Bundesministerium für Wirtschaft) bezog sich auf das Grünbuch der EU zur Energieversorgung. Es treffe drei Feststellungen: Die externe Versorgung der EU solle im Einzelfall nicht mehr als 50 Prozent betragen. Das Angebot lasse sich nur schwer beeinflussen, wogegen bei der Nachfrage durch Energiesparmaßnahmen gute Steuerungsmöglichkeiten bestehen. Außerdem müßten verstärkte Anstrengungen zur Erfüllung der Verpflichtungen aus dem Kyoto-Protokoll unternommen werden. Um die Abhängigkeit zu senken, stünden folgende Mittel zur Verfügung: Einsparung, Einsatz erneuerbarer Energien sowie die Diversifizierung (geografisch und hinsichtlich der Energieträger). Gleichzeitig zeige die Energiestrategie Russlands bis 2020, dass man sich auch hier zum Ziel gesetzt habe, die einseitige Abhängigkeit vom Abnehmer Europa zu senken und die Exporte zu diversifizieren.
 
Die Europäische Union sei zu mehr als 90 Prozent von Öllieferungen abhängig, wovon etwa 18 Prozent auf Lieferungen aus der Russischen Föderation entfallen. Bislang war Russland ein zuverlässiger Lieferant. Jedoch müssten in Russland die Rahmenbedingungen für Investitionen verbessert, und der Transport müsse stabilisiert werden. Die Beteiligung ausländischer Firmen sei notwendig, zum Beispiel durch Production Sharing Agreements. Jedoch werde es beim bevorstehenden Gipfeltreffen kaum Fortschritte geben und auch bei den so genannten „Leuchtturmprojekten“ sei kein Durchbruch zu erwarten. Russland und die OPEC-Staaten hätten ein gemeinsames Interesse an stabilen Preisen, jedoch divergierende Interessen bei der Steuerung der Preise durch die Ölfördermenge. Russland sei nicht an der Einschränkung von Exporten zur Preisstabilisierung interessiert, bilde aber trotzdem keinen Gegenpol zur OPEC. Russisches Öl sei keine Alternative zur OPEC, könne aber die Abhängigkeit senken helfen.
 
Der europäische Gasmarkt wiederum sei ein regionaler Markt mit drei Anbietern: Russland, Norwegen und Algerien. Die Importabhängigkeit der EU-Staaten betrage hier etwa 40 Prozent und werde bis zum Jahr 2030 auf 70 Prozent steigen. Dabei werde Russland eine bedeutende Rolle spielen, da es seine Exporte von heute 194 Milliarden Kubikmeter auf 280 Milliarden Kubikmeter im Jahr 2020 steigern wolle. Die Gesamtproduktion solle dabei auf von 485 Milliarden Kubikmeter auf 705 Milliarden Kubikmeter steigen. Dabei sei die Realisierbarkeit ungewiss, da die westsibirischen Fördergebiete eine sinkende Produktivität aufwiesen und die Erschließung neuer Fördergebiete in der Barentsee und der Jarmal-Halbinsel aus geologischen und klimatischen Gründen schwierig und kostenintensiv sei.
 
Jürgen Möpert (Wintershall AG, Moskau) stellte die kompatiblen Interessen der europäischen und der russischen Seite heraus: Die EU benötige Energieträger und verfüge über das erforderliche Kapital, während Russland die Rohstoffe besitze und Kapital benötige. In diesem Sinne sei Kooperation ökonomisch sinnvoll und schaffe zudem Vertrauen im sicherheitspolitischen Sinne. Die Profitabilität lasse sich durch Verkürzung der Lieferkette und durch Präsenz im Endverbrauchermarkt erhöhen. Aus diesem Grund wurde die Wingas als gemeinsames Unternehmen von Wintershall und Gasprom gegründet. Insgesamt seien Investitionen von 2,7 Milliarden Euro notwendig. Danach bestünden Gewinnmöglichkeiten durch Teilhabe an den Margen, die bei der Durchleitung bis zum Kunden entstehen. Ein weiteres Resultat sei der Lerneffekt durch die Mitarbeit am modernen, computergesteuerten Leitungssystem der Wingas. Pilotprojekte in Sibirien, auch in Turkmenistan, in welche die beteiligten Firmen jeweils spezifisches Knowhow einbringen, schließen zum Teil auch islamische Staaten ein und seien ein Gegenbeispiel zur Anti-Terror-Koalition, die sich nur gegen etwas richte.
 
In der anschließenden Diskussion fragte Wilhelm Hankel, ob aus den Erlösen des Rohstoffverkaufs der Aufbau von Anlagevermögen vorangetrieben werde. Roland Götz (Stiftung Wissenschaft und Politik) ging davon aus, dass dieses Vermögen im Ausland aufgebaut werde, jedoch zeige sich, dass das Kapital langsam nach Russland zurückfließe. Die langfristige Konzentration auf den Rohstoffsektor sei gleichwohl als Sackgasse zu betrachten. Auch ließen sich die riesigen Reserven Russlands nur unter sehr hohen Kosten erschließen. Er sieht ein hohes und entscheidendes Potenzial bei der Energieeinsparung. Ewald Boehlke fügte hinzu, dass bei Investitionen seitens des russischen Staates eher individuelle Interessen von Politikern im Vordergrund stünden als die Konzentration auf vielversprechende Sektoren.
 
Abschließend wiesen die Vortragenden darauf hin, dass auch unabhängige Produzenten Zugang zum innerrussischen Markt hätten. Ihr Problem bestehe jedoch darin, günstige Kredite zu erhalten.
 
 
Panel 4: 
Russland und die NATO: von der Koalition zur Allianz?

 
Hans-Joachim Spanger blickte auf die Schlangenbader Gespräche zurück und hob die starken politischen Veränderungen während der letzten Jahre hervor. Für den Herbst 2002 sei die Aufnahme neuer Mitglieder in die NATO geplant, auch solcher, die sich aus der Sicht Russlands jenseits der einst markierten „roten Linie“ befinden. Die erstmalige Ausrufung des Bündnisfalles nach Artikel 5 des NATO-Vertrages stelle eine weitere Zäsur dar. In der Tat gäbe es so etwas wie das Ende der Übergangsperiode nach dem Kalten Krieg, denn bis jetzt habe auf beiden Seiten ein Denken in den Kategorien des Kalten Krieges vorgeherrscht.
 
Gert Weisskirchen (Mitglied des Deutschen Bundestages) zeigte sich zuversichtlich, dass sich nach der nächsten Erweiterungsrunde der NATO zeigen werde, dass Russland eine konstruktive Rolle zu spielen bereit sei. Die deutsche Seite müsse Bereitschaft signalisieren, Russland in ein vernünftiges Konzept einzubauen. Die Vorstellung von 20 Mitgliedern des neuen NATO-Russland-Rates könne nicht 19+1 oder gar 1+1+18 bedeuten, sondern müsse tatsächlich 20 meinen. Allerdings werde die NATO nicht bereit sein, Russland ein Vetorecht einzuräumen. Sowohl in Reykjavik als auch in Prag werde man Moskau eine deutlichere Rolle zubilligen, dabei aber den Kern der NATO als militärisches Verteidigungsbündnis erhalten. Dies werde jedoch nicht der Endpunkt sein, sondern ein Zwischenschritt zu einer anderen Perspektive. Die Rolle der OSZE als Instrument zur Lösung gesellschaftlicher Konflikte innerhalb von Staaten könnte und sollte gestärkt werden. Welchen Charakter wird aber die NATO annehmen? Wird sie ein politisches Bündnis werden? Wird die NATO künftig eher eine Rolle wie die OSZE spielen? Und bedeutet dies eine Schwächung des Bündnisses? Einige Kräfte in den USA wünschten, dass die NATO eine solche Rolle übernehme. Wenn es zu einer stärkeren Politisierung der NATO komme, stelle sich automatisch die Frage, wer den Kernbestand der militärischen Sicherung übernehme. Ist es denkbar, dass die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU auf längere Sicht ein Substitut sein kann? Wenn ja, wie ist dann das Zusammenspiel zwischen Russland und der EU zu gestalten? Jetzt gehe es darum, Russland einzubeziehen und einzubinden. Dabei spiele innenpolitisch die Reform der Armee und damit neu zu definierende Bedrohungsszenarien eine Rolle.
 
Pawel Felgengauer (freier Journalist) hob hervor, dass die Koalition zwischen der NATO und Russland keine allgemeine sei. Vielmehr betreffe sie nur bestimmte Bereiche. Auch seien keinerlei strategische Ziele sichtbar. Die Verteidigungsdoktrin der Russischen Föderation stehe einer Kooperation im Wege. Zudem sei die Infrastruktur immer noch einseitig auf eine Bedrohung aus dem Westen ausgelegt. Nach Felgengauers Auffassung ist die Aussage, es gebe keine Alternative zur Integration mit dem Westen, so nicht richtig. Eher müsse man sagen, Russland sei „nicht zu jeder Bedingung“ dazu bereit. Er kritisierte die russische Führung für ihre unentschlossene Haltung. Russland bringe Dinge nicht zu Ende und einem Schritt nach vorn folgten zwei zurück. Felgengauer verlangte, den Zickzack-Kurs zu beenden und Entscheidungen herbeizuführen.
 
Günter Joetze stellte die Frage, warum die nächste Erweiterungsrunde der NATO so wenig kontrovers sei. Man könne vermuten, dass die NATO einfach nicht mehr relevant sei. Jedoch wolle er dieser These nicht nachgehen, sondern seine eigene Einschätzung geben, aufbauend auf den Szenarien für das Jahr 2010, wie sie General Wittmann dargestellt habe. Joetze hält das positive Szenario „Globalisierung plus“ für am wenigsten wahrscheinlich, und das Dschihad-Szenario für das wahrscheinlichste. Dieses sowie die Vorstellung des Zerfalls in zwei Lager oder das Security Age-Szenario mit den dazugehörigen Wohlstandsinseln bedeuteten, dass Europa eine kollektive Verteidigung brauche, d.h. die NATO-Kernfunktionen. Joetzes Fazit lautete, dass die NATO für Europa relevant bleibe. Für die USA könnte sie es nur bleiben, wenn es in Europa die Bereitschaft gebe, sich zu engagieren. Hier bestünden jedoch Zweifel. So hätten die US-Generalität sowie weite Teile des Senats die NATO beim Einsatz im Kosovo als zu träge empfunden. Die Rolle der OSZE sei geschwächt, auch weil Russland dieses Instrument nicht mehr nutzen wolle. Die Pläne für ein neues Gremium zwischen der NATO und Russland sieht Joetze kritisch, da die Themen begrenzt sein werden. Dagegen sei der Vorteil der OSZE die völlig freie Konsultation, ohne Vorkonsultationen und Zensur. Der bisherige Nachteil der OSZE sei das schwache Sekretariat gewesen, ein Vorteil, den eine veränderte NATO habe. Es sei ein Märchen, dass die OSZE nicht entscheidungsfähig sei, denn alle sicherheitspolitischen Gremien seien ebenfalls auf dem Einstimmigkeitsprinzip aufgebaut. Auch bei der NATO-20 werden Entscheidungen lange dauern. Besondere Probleme sieht Joetze beim Punkt der Gleichberechtigung aus russischer Sicht sowie bei der Konsultationsfreiheit. Er machte außerdem auf russischer Seite das geheime Leitmotiv des Bilateralismus aus.
 
Wladimir Ryschkow (Mitglied der Staatsduma) betonte in einem historischen Rückblick, dass Mitte der 1990er Jahre Russland die Multipolarität als Strategie angewandt habe. Im Jahr 1997 sei die NATO-Russland-Akte unterzeichnet worden, wofür Russland den Preis der Akzeptanz der NATO-Osterweiterung gezahlt habe. Jedoch funktioniere die Akte nicht. 1998 sei es in Jugoslawien fast zum Krieg zwischen der NATO und Russland gekommen. Seitdem herrsche auf russischer Seite große Skepsis. Trotzdem hätten die vergangenen drei Jahre Fortschritte gebracht, vor allem durch den russischen Präsidenten Putin. Dies sei keine Euphorie oder übertriebener Optimismus. Die Initiative Tony Blairs habe eine geteilte Reaktion auf Seiten der russischen politischen Elite hervorgerufen, die man in Pessimisten und vorsichtige Pragmatiker unterteilen könne, wobei die letzteren vorherrschten. Optimisten fehlten gänzlich.
 
In der folgenden, sehr lebhaften Diskussion stellte Nikolas Busse (Frankfurter Allgemeine Zeitung) fest, dass Deutschland bei einer möglichen Entwicklung der NATO hin zur OSZE am meisten zu verlieren hätte, da es aus dem nuklearen Schirm der Amerikaner heraustrete, im Gegensatz zu Großbritannien oder Frankreich, die über eigene Atomwaffen verfügen. Anders formuliert: Wieviel Russland verträgt die NATO, damit wir auch noch etwas davon haben?
 
Sergej Medwedew konstatierte eine inertia ritueller Formen. Russland versuche, einen Platz in einem Zug zu bekommen, der bereits auf einem Abstellgleis stehe. Im Kosovo habe man eine Weiche verpasst und der 11. September habe zur Konfusion beigetragen, denn Artikel 5 trat zwar in Kraft, blieb aber folgenlos. Zusammen mit der anstehenden Erweiterungsrunde trage dies zur Schwächung der NATO bei. Es gehe nicht um Sicherheit, sondern darum, Identitätsfragen zu lösen. Auch im Kosovo sei es nicht um die Rettung der Kosovo-Albaner gegangen, sondern um die Identität des Bündnisses. Auch Russland habe ein Identitätsproblem zu lösen. Mit den Szenarien und Schlussfolgerungen, die Joetze skizziert hatte, erklärte er sich nicht einverstanden, da die NATO weder am bereits stattfindenden Dschihad-Krieg beteiligt sei noch an einer Vorstellung von Globalisierung plus, denn daran arbeiteten EU und OSZE.
 
Aleksandr Dynkin stellte einen Paradigmenwechsel im Sicherheitsverständnis der Russischen Föderation fest. Der vormals sakrale militärische Sicherheitsbegriff habe sich um Aspekte von Umwelt, Bildung etc. erweitert. Auch gehe es nicht ums Überleben, sondern um Entwicklung, und dazu sei Kooperation mit Europa notwendig. Dies bewirke auch eine Einstellungsveränderung gegenüber dem Eindringen des Westens in Nachbarstaaten wie Polen oder Litauen.
 
Wladimir Lukin erwiderte auf Joetze, dass die OSZE eine nützliche Organisation sei. Jedoch könne man Russland nicht vorwerfen, der OSZE nach den Ereignissen im Kosovo die kalte Schulter gezeigt zu haben. In Wirklichkeit haben die USA und die NATO aus der OSZE eine lächerliche Organisation gemacht.
 
Egon Bahr betonte, man müsse realistischerweise sehen, dass die NATO-Russland-Akte bestehe. Man müsse definieren, worüber sie nicht entscheiden kann, und das betreffe den Bündnisfall. Über alle anderen Fragen könne Beratungskompetenz bestehen. Dann werden auch die Entscheidungen nicht nur über Fragen sekundärer Natur gefällt werden. Die Frage zukünftiger NATO-Erweiterungen werde im Herbst in Prag nicht abschließend geklärt werden. Es wird keine Definition geben, wo die Ausweitung beendet ist. Aber die politische Dimension der NATO könne am Südrand der ehemaligen Sowjetunion eingesetzt werden, auch zur Abdeckung von US-Interessen in der Region. Bahr stellte Unterschiede zwischen der russischen und der deutschen Sicht fest: Russland hänge einer globalen Sicht an und habe seine nukleare Zweitschlagfähigkeit im Hinterkopf, während Deutschland eine an Europa und europäische Identität geknüpfte Sichtweise habe.
 
General Wittmann stellte heraus, dass die NATO immer ein politisches Bündnis gewesen sei, auch wenn zu Zeiten des Kalten Krieges militärische Aspekte im Vordergrund gestanden hätten. Eine Wandlung in Richtung auf die OSZE möchte er mit Fragezeichen versehen, hält jedoch eine Stärkung der OSZE an sich für wünschenswert. Die besonderen Fähigkeiten der NATO sieht er in ihrer vertraglichen Grundlage als Brücke über den Atlantik, die Sicherheit und Stabilität garantiere. Außerdem sei sie handlungs- und entscheidungsfähig, schließe Angriffe untereinander aus und schaffe so einen Friedensraum. Auch im Krisenmanagement und der Konfliktprävention sieht er Stärken. Durch Einbindung entstehe Vertrauen. All diese Aspekte machten die Zusammenarbeit mit der NATO auch für Russland interessant.
 
Wladimir Danilow (Berater des Energieministers der RF) wies darauf hin, dass die zweite Erweiterungsrunde der NATO zu einer Verwässerung des militärischen Bestandteils führe und die NATO zu einem Diskussions- und Militär-Touristik-Club mache. Konkrete Möglichkeiten für eine Zusammenarbeit Russlands mit der NATO sieht er unter anderem auf den Gebieten U-Boot-Rettung, Umschulung/Ausbildung, Rüstungskontrolle und Transportflugwesen. Ulrich Brandenburg nannte als Themen, die von dem gemeinsamen NATO-Russland-Gremium behandelt werden können: Terrorismusbekämpfung, Krisenmanagement, Proliferation, taktische Raketenabwehr, Seenotrettung, militärische Kooperation bei Luftbetankung, integriertes Ausbildungszentrum, Verteidigungsreform Russlands, Katastrophenschutz, Wissenschaft und Umwelt, zivile und militärische Luftraumüberwachung. Die Veto-Frage stelle sich nicht, jedoch müsse alles getan werden, um eine solche Situation von vornherein zu verhindern.
 
Walerij Manilow warb dafür, Akzente in der Kooperation zu setzen. Er nannte Problemfelder, mit denen Russland nicht einverstanden sei und auch nicht sein könne: Erstens sei die Auslegung der geographischen Verantwortungsbereiche der NATO kritisch zu betrachten, denn der Begriff der „Peripherie“ sei ein dehnbarer und mache die NATO zu einer universellen Organisation. Zweitens sei eine Reglementierung militärischer Einsätze so angelegt, dass es evtl. interne Verfahren gäbe ohne Beteiligung der UNO. Drittens habe Russland den Erweiterungen der NATO nie zugestimmt. Jedoch sei man auf russischer Seite realistisch und suche nach Kompromisslösungen. Russland fürchte sich nicht vor der Erweiterung, jedoch müsse man konstatieren, dass es zur Entstehung neuer Grenzen in Europa kommen werde. Selbst wenn sich die NATO in einer Sackgasse befände, so sei sie doch weiterhin eine mächtige militärische Organisation. Manilow widersprach Pawel Felgengauer und legte dar, dass die russische Militärdoktrin keinen Gegner definiere, solange sich keine Aggression gegen Russland richte. Auch gäbe es keine Pläne für eine Massenmobilmachung. Manilow forderte dazu auf, die NATO-Russland-Akte zu nutzen und bisherige Erfahrungen, auch negative, im Rat zu nutzen. Aber auf jeden Fall sei mehr Gleichberechtigung notwendig. Klaus Wittmann wies darauf hin, dass alle Mitgliedsstaaten der NATO demokratisch verfasst seien, was den Missbrauch der NATO unwahrscheinlich mache. Seit 1999 habe die NATO auch die Prärogative des UN-Sicherheitsrates anerkannt, so dass die Ereignisse im Kosovo als Ausnahme zu sehen seien.
 
Michael Thumann (Die ZEIT) ging davon aus, dass die Grundakte nicht mehr als ein Trostpreis gewesen sei und so sei auch das neue Gremium ein Trostpreis auf höherem Niveau, da Russland von wichtigen Entscheidungen ausgeschlossen bleibe. Es stelle sich jedoch die Frage, ob das noch relevant sei, denn der Bilateralismus sei auf dem Vormarsch. Außerdem werde ein stabiles Europa vor allem im Wirtschafts- und Energiesektor geschaffen. Andrej Sagorskij stimmte zu, dass das neu zu schaffende Gremium vor allem Symbolcharakter habe. Um zu tatsächlicher Kooperation zu kommen, müssten andere Formen und Felder gefunden werden, wie z.B. die Luftfahrtkontrolle oder der Vertrag über konventionelle Waffen.
 
Wladimir Lukin wiederum sah einen Strategiewechsel auf amerikanischer Seite, die das nukleare Element wieder stärker betone. Europa müsse sich der Frage stellen, ob es lieber innerhalb der NATO-20 agieren möchte oder aber eine bilaterale Konstellation USA-Russland haben wolle. Alle hätten Angst vor dem Vetorecht Russlands, obwohl die Russische Föderation davon z.B. im UNO-Sicherheitsrat fast nie Gebrauch mache. Wenn die westlichen Staaten kein Vertrauen haben, dann sei die Zeit für eine Kooperation nicht reif.
 
Ulrich Brandenburg hob die Stärken der NATO als multilateraler Organisation militärischer Kräfte unter politischer Kontrolle hervor. Er hielt der russischen Seite vor, die Bedeutung von Mulilateralität, d.h. Entnationalisierung, von Sicherheitspolitik nicht ausreichend zu würdigen.
 
Egbert Jahn (Universität Mannheim) machte auf die Auswirkungen der NATO-Erweiterungen aufmerksam. Damit sei auch eine steigende Wahrscheinlichkeit von Konflikten innerhalb der NATO verbunden, wie z.B. nationale Konflikte zwischen Ungarn, der Slowakei und Rumänien. Er sieht außerdem die Möglichkeit, dass die NATO, ähnlich wie im Kosovo, erneut den Versuch unternehmen könnte, als „Ersatz-UNO“ aufzutreten.
 
Wladimir Ryschkow wandte sich abschließend gegen die Tendenz, die NATO nicht mehr ernst zu nehmen. Es handele sich immer noch um eine mächtige, lebendige Organisation mit strengen Regeln und Ansprüchen an ihre Mitglieder. Das Interesse Russlands an Kooperation bestehe auch mit einer veränderten NATO. Nach der ersten Erweiterungsrunde war es ein westlicher Block, nach der zweiten Runde wird es ein gesamteuropäischer Zusammenschluss sein. Einerseits bedeute das, dass es ohne Russland nicht gehe, aber andererseits bleibe Russland außen vor, obwohl es Einfluss auf die europäische Sicherheit ausübe. Die Ereignisse im Kosovo als „Ausnahme von der Regel“ stellten jedoch das gesamte Projekt in Frage.
 
Pawel Felgengauer bezog sich in seinen Schlussbemerkungen auf die russische Militärdoktrin von 1999, in der die Möglichkeit eines Dritten Weltkrieges enthalten sei, welche eine Mobilisierung erfordere. Natürlich sei das real nicht vorgesehen, jedoch führe das Fehlen einer klaren Strategie zu einer Verschwendung von Ressourcen, was an vielen Missständen in der Armee deutlich werde. Die Hypermilitarisierung, die sich auf eine pozentiell vom Westen ausgehende Gefahr stütze, werde beibehalten.
 
Gert Weisskirchen machte einen Paradigmenwechsel auf amerikanischer Seite aus. Bei einem ähnlichen Fall wie im Kosovo würden daher die USA künftig die NATO nicht mehr multilateral nutzen, sondern nur noch multilateral informieren. Bezüglich der Erweiterungen der NATO müsse Russland seine eigenen Interessen und Bedingungen formulieren. Jedoch werde sich an Artikel 5 nichts ändern, was Russland – in realitätsbewusster Weise – auch akzeptiere. Sicherheit könne jedoch nur einen Rahmen definieren, innerhalb dessen sich Veränderungsprozesse vollziehen können.
 
Günter Joetze fasste zusammen, dass die Diskussion auf zwei Ebenen verlaufe. Die erste sei die sachliche Ebene, die zweite jene der Konzeptionen und Ideologien. Insbesondere die „Nichtdeckungsgleichheit der Grundpsychologie“ erfordere in jedem Falle einen fortgesetzten und vertieften Dialog.

 

Protokoll:
Irina Babitschewa
Kerstin Zimmer