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Protokoll 2001



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Einleitung
 
In den vergangenen Jahren standen auch die Schlangenbader Gespräche unter dem Eindruck der Krise in den Beziehungen zwischen Russland und dem Westen, die ihren Ausdruck in den Kontroversen um die Erweiterung der NATO durch neue Mitglieder, die Intervention des westlichen Bündnisses im Kosovo-Konflikt sowie die unterschiedliche Bewertung der russischen Kriegführung in Tschetschenien fand. Davon war bei den diesjährigen Gesprächen kaum mehr etwas zu spüren – trotz fortbestehender kontroverser Themen, von denen die Pläne der USA, ein nationales Raketenabwehrsystem aufzubauen, das herausragende war.
 
Auch die deutsch-russischen Beziehungen sind heute keineswegs völlig frei von Irritationen und Spannungen. Das findet etwa seinen Ausdruck in den deutschen Klagen über alte Denkmuster in Russland, wo die internationale Politik immer noch als Nullsummenspiel wahrgenommen werde. Im Gegenzug wirft die russische Seite Deutschland Desinteresse an den bilateralen Beziehungen vor und macht es für das Scheitern gemeinsamer Wirtschaftsprojekte verantwortlich.
 
Trotz solcher Gegensätze besteht auf beiden Seiten das erklärte Interesse an einer Fortführung und Intensivierung des Dialogs. Ein innovatives Beispiel aus der jüngsten Zeit ist der „Petersburger Dialog“, der Anfang April 2001 erstmals in St. Petersburg unter der Schirmherrschaft des Russischen Präsidenten und des Deutschen Bundeskanzlers stattfand. Dessen Ziele, die Stärkung des deutsch-russischen Dialogs und dessen Verankerung in der Zivilgesellschaft, ähneln jenen der Schlangenbader Gespräche. Allerdings vertrauen die Schlangenbader Gespräche stärker darauf, dass ein solcher Dialog, wenn er eine nachhaltige Wirkung entfalten soll, im kleinen beginnen und kontinuierlich von unten wachsen muss. Demonstrativer regierungsamtlicher Beistand kann sich dabei leicht als hinderlich erweisen. Genau in dieser unabhängigen und informellen Form finden die Schlangenbader Gespräche ihre Rechtfertigung und ihre Zukunft. In ihrer nunmehr vierjährigen Geschichte – so die übereinstimmende Einschätzung der Teilnehmer - haben sie sich bereits ein eigenes Profil als eines der herausragenden Dialogforen zwischen Deutschland und Russland geschaffen.
 
 
Dinner Speech
 
In seiner Dinner Speech zum Auftakt der diesjährigen Schlangenbader Gespräche stellte Walter Stützle (Staatssekretär des Bundesministeriums der Verteidigung) die Perspektiven der Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Russland in den Mittelpunkt. In einem historischen Rückblick stellte er dies unter den Leitgedanken, dass Geschichte immer eine Chance biete, auch wenn die Probleme unüberwindbar erschienen. Die Aufgabe politischer Führung sei es, solche Chancen zu erkennen und zu nutzen. Schön- und Schlechtwetterperioden in den Beziehungen könne man sich nicht aussuchen, aber man könne schlechtes Wetter so meistern, dass danach schönes Platz finden könne.
 
Des weiteren warf er die Frage auf, wie die Anwesenden und die USA selbst mit der Rede des amerikanischen Präsidenten vom 1. Mai diesen Jahres umgehen sollten, die abermals den Traum von der Unverwundbarkeit zum Ausdruck gebracht habe. Während SDI für den früheren Präsidenten Reagan ein Traum blieb, so könne heute für Bush und Putin die Unverwundbarkeit eine reale Möglichkeit sein - wenn sie es nur wollten. Allerdings könne die nationale Raketenabwehr der USA kein unilaterales Projekt sein, denn nicht nur die USA, sondern die gesamte internationale Staatengemeinschaft, vor allem die EU und Russland, seien herausgefordert. In dem Maße, wie die russische Politik sich ernsthaft des Themas annehme und ihm eine kooperative Wendung gebe, bestehe die Chance, jene Amerikaner, die es kooperativ meinen, beim Wort zu nehmen. Die empfindliche Architektur der internationalen Rüstungsbegrenzung dürfe nicht aufgegeben werden. Man müsse mit Realismus an der Bewahrung des ABM-Vertrages arbeiten. Dazu seien jedoch Anpassungen an die heutige Realität notwendig, um die Schutzfunktion des Vertrages zu erhalten.
 
Bei der Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Russland betrachtet Walter Stützle die Tschetschenien-Frage als ein großes Hindernis. Auch wenn die russische Seite mit der westlichen Einschätzung und Kritik nicht einverstanden sei, so müsse sie doch erkennen, dass Wahrnehmungen bereits auch Realität seien. Ebenso belasteten die Ereignisse um den Nachrichtensender NTV das Verhältnis beider Staaten. Deutschland erwarte von Russland, dass das „Demokratieexperiment“, das im Sinne der Pariser Charta von 1990 zugleich ein sicherheitspolitisches Projekt sei, ernsthaft und sichtbar fortgeführt werde. Die Bundesrepublik Deutschland und ihre Steuerzahler sind heute der größte Gläubiger der Russischen Föderation. Bisher haben die Vertreter der deutschen Seite dieses Thema nicht hochgespielt. Auch im Wahlkampf haben sich alle Parteien zurückgehalten und damit eine kluge Haltung bewiesen. Jedoch müsse die russische Politik dafür sorgen, dass diese kluge Position erhalten bleiben kann. Zusammenfassend hob Stützle hervor, dass Russland und Deutschland keine andere Wahl haben, als zu kooperieren. Wer an ein Gegeneinander glaube, habe nichts aus der Geschichte gelernt. Wer aber glaube, die Beschwörung des Miteinanders sei bereits reale Politik, der greife zu kurz.
 
Abschließend ging Walter Stützle auf die jüngsten Entwicklungen in der Europäischen Union ein, an deren Stärkung die Russische Föderation ein vitales Interesse haben müsse. Die EU ist der größte Handelspartner Russlands und indem diese ökonomisch wächst, ergeben sich bessere Möglichkeiten für Investitionen der EU in Russland. Auch politisch sei der Integrationsprozess wichtig, da die EU so mehr Einfluss auf der internationalen Ebene ausüben könne. Dazu gehöre auch die Erweiterung nach Osten, die mit den Prinzipien von Sicherheit und Stabilität einhergehe. Auch die USA haben ein Interesse an der Weiterentwicklung der EU als Garant für Wohlstand, Stabilität und Sicherheit. So gewinnen durch die Stärkung der EU alle Seiten, die USA erhalten einen stabilen Partner und die Russische Föderation einen stabilen Nachbarn.
 
In der anschließenden offenen Diskussion äußerte Günter Joetze (Botschafter a. D.) die Vermutung, heimliches Thema aller bisherigen deutsch-russischen und namentlich auch der Schlangenbader Gespräche sei die Tatsache gewesen, dass sich eine Seite nicht mehr ernst genommen fühlte, und diese Seite war die Russische Föderation. Die Frage, ob die Russische Föderation für den Westen, speziell für Deutschland, ein Partner oder eine zu vernachlässigende Größe ist, sollte indes kein politischer Leitsatz sein. Auch wenn die Russische Föderation heute für Deutschland kaum mehr einer ihrer wichtigsten Partner sein müsse, so sei eine freundliche Vernachlässigung ebenso wenig eine Lösung. Vielmehr bestehen Felder der Kooperation und solche, in denen die Russische Föderation eindeutig kein Partner sei. Die Diskussion solle sich daher darauf konzentrieren, wie man die Kooperation ausdehnen könne.
 
 

Panel 1:
„Deutschland und Russland:
Was ist strategisch an der Partnerschaft?“

 
In seinen einleitenden Bemerkungen erinnerte Hans-Joachim Spanger (Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung) mit Verweis auf das Thema der diesjährigen Schlangenbader Gespräche daran, dass der Begriff der „strategischen Partnerschaft“ bereits vor etwa 6 Jahren eine Rolle auf globaler Ebene gespielt habe, dann aber weitgehend aus dem politischen Sprachgebrauch verschwunden sei. Seit ein bis zwei Jahren erfahre er offenkundig eine Renaissance, so dass man heute durchaus von einem „zweiten Versuch“ sprechen könne. Grundsätzlich, soviel zum Begriff, umfasse Partnerschaft die Bereitschaft zum Interessenausgleich, das Begreifen des eigenen Landes als Teil eines Ganzen - womit dem Verständnis von internationaler Politik als Nullsummenspiel eine Absage erteilt wird - sowie die Verpflichtung zur Förderung des wechselseitigen Vorteils. Diese Prinzipien spiegelte die Pariser Charta von 1990 wider, jedoch ist von deren Geist und der damaligen Euphorie heute nur wenig geblieben. Die deutsch-russischen Beziehungen ließen sich davon seit 1992 jedoch nur begrenzt anstecken. In ihrem gemeinsamen, von den beiden damaligen Außenministern Kosyrew und Kinkel seinerzeit formulierten Verständnis, sollte die Partnerschaftsstrategie vor allem übereilte Reaktionen auf kurzfristige Ereignisse ausschließen und von einer langfristigen strategischen Vision getragen sein.
 
Zwar lebt der Begriff der strategischen Partnerschaft heute wieder auf, jedoch lassen sich deutliche Unterschiede in der Wahrnehmung auf beiden Seiten feststellen. Dies komme etwa in den beiden programmatischen Dokumenten zum Ausdruck, mit denen die Europäische Union und die Russische Föderation ihre künftigen Beziehungen gestalten wollen. Die EU verfolgt vor allem zwei Ziele: die Transformation Russlands in eine stabile und pluralistische Demokratie und Marktwirtschaft sowie den Erhalt der europäischen Stabilität durch Zusammenarbeit. Auch wenn die Russische Föderation ihre grundlegenden Ziele weniger klar artikuliert, so stellt sie doch ganz auf Kooperation im Sinne klassischer Diplomatie und internationaler Beziehungen ab. Das innenpolitische Transformationsprogramm der EU findet jedenfalls keine nennenswerte Berücksichtigung. Demnach wird die strategische Partnerschaft von unterschiedlichen Prämissen aus formuliert, was naturgemäß Fragen nach ihrer Dauerhaftigkeit aufwirft.
 
Gernot Erler (Stellvertretender Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion) wies in seinem einleitenden Vortrag auf Deutschlands ausgeprägtes Interesse an den Ereignissen in der Russischen Föderation hin, das jenes der anderen westlichen Staaten sowohl aus geographischen als auch historischen Gründen deutlich übersteige. Deutschland möchte die Russische Föderation als Partner von Gewicht, dessen Meinungen von Bedeutung sind, in die euro-atlantischen Strukturen und die Weltwirtschaftsbeziehungen einbinden. Zugleich erstrecke sich das Interesse Deutschlands auf die Entwicklung des Rechtsstaates, die Beachtung der Menschenrechte, den Ausbau pluralistischer Medien sowie den Erfolg der Wirtschaftsreformen in der Russischen Föderation.
 
Jedoch wende sich die deutsche Seite gegen den hohen Erwartungsdruck, den sie von russischer Seite auf sich gerichtet sieht. Vor allem, so eine kritische Bemerkung, zeige sich die Russische Föderation nicht bereit, dem europäischen Integrationsprozess in ihrer praktischen Politik gegenüber Deutschland angemessen Rechnung zu tragen. Erler wies die russische Seite darauf hin, dass sich die Strukturen in Europa verändern und dass bilaterale Beziehungen im europäischen Prozess aufgehen. Deshalb sei es gefährlich, auf bilaterale Sonderbeziehungen zu setzen. Deutschland müsse dafür sorgen, dass die EU für Russland ein ebenso verlässlicher und interessierter Partner wird, wie Deutschland es sein möchte. Auf russischer Seite sah er jedoch eine unklare außenpolitische Haltung und fehlende Prioritäten. Wichtiger noch als eine Rangliste nach Regionen oder Ländern wäre eine thematische Schwerpunktsetzung.
 
Für Gernot Erler hat eine Partnerschaft dann strategischen Charakter, wenn sie sich auf gemeinsame Interessen stützt, die sich nicht nur auf gute Nachbarschaft erstrecken, sondern Verantwortung in anderen Regionen oder internationalen Politikfeldern akzeptieren. Dies umfasse gegenwärtig insbesondere zwei regionale Bewährungsfelder und drei systematische Problembereiche. Die beiden regionalen Felder beziehen sich auf Risikoszenarien im Bogen zwischen dem Nahen Osten, dem Kaukasus und Zentralasien sowie auf den Balkan, wo Deutschland und Europa ein langfristiges Interesse an der Einbeziehung Russlands bei der Schaffung einer stabilen Lösung habe. Des weiteren stellen der internationale Terrorismus sowie der Waffen- und Drogenhandel grenzüberschreitende Probleme dar, die eine internationale Antwort erfordern. Schließlich sei Deutschland im Bereich der Energie an Versorgungssicherheit sowie an einem sicheren Transit interessiert. Und nicht zuletzt weise die internationale Rüstungskontrolle zwischen dem Nuklearstaat Russland und dem Nicht-Nuklearstaat Deutschland erstaunliche Gemeinsamkeiten auf, von denen viele Aspekte die Bezeichnung „strategische Partnerschaft“ verdienen. Es lohne sich, diese auszuloten und in praktische Politik umzusetzen.
 
Igor Bratschikow (Außenministerium der Russischen Föderation) hob vor allem die bilateralen zwischenstaatlichen Beziehungen zwischen Deutschland und Russland hervor, für die ein gutes Fundament vorhanden sei. Trotz der Störung der Beziehungen durch den Angriff der NATO gegen Jugoslawien unter deutscher Beteiligung und der Ausdehnung der NATO nach Osten, setze die russische Seite erneut Vertrauen in Deutschland und verbinde damit die Hoffnung, dass Deutschland nicht die kurzfristige russische Schwäche ausnutze, sondern hier einen zukünftigen starken eurasischen Staat sehe, der an die EU grenzt. Die Basis für eine strategische Partnerschaft sieht er in den langfristigen gemeinsamen Interessen, sowie in den Prinzipien der Gleichberechtigung, des Vertrauens und gegenseitiger Hilfe. Wichtig sei, die Partnerschaft transparent zu gestalten und nicht gegen andere Staaten zu richten. Bratschikow betonte, Russlands Probleme seien aufgrund der geographischen Nähe zu Deutschland als gemeinsame Probleme zu betrachten. Auch gilt ihm Deutschland als Schlüsselland für Russland, und er kann keinen Widerspruch zu den Beziehungen zur EU erkennen.
 
Die Diskussion des ersten Panels konzentrierte sich auf den (vermeintlichen) Gegensatz „Multilateralität versus Bilateralität“: Während die russische Seite die bilateralen Beziehungen zwischen Deutschland und der Russischen Föderation betonte, verwiesen die deutschen Teilnehmer auf den europäischen Einigungsprozess und die Bedeutung der EU. In diesen unterschiedlichen Akzentuierungen spiegeln sich auch die jeweiligen Interessen und Wahrnehmungsmuster beider Staaten wider.
 
In diesem Zusammenhang verwies Ottokar Hahn (Botschafter a.D.) darauf, dass die russische Seite die EU-Komponente in der deutschen Politik stärker berücksichtigen müsse und aus dieser Erkenntnis neue Möglichkeiten für die Zusammenarbeit in der High-Tech-Industrie sowie für die Einführung des Euro und für die Schaffung der transeuropäischen Netze erwachsen werden. Andrej Sagorskij (Stellvertretender Direktor des Ost-West-Instituts, Prag) pflichtete ihm bei und betonte, die Russische Föderation müsse die EU stärker berücksichtigen (zusätzlich zu Deutschland als deren Motor). Gleiches gelte für die NATO, denn zusammen stellten diese Organisationen den innereuropäischen Wirtschafts-, Rechts- und Sicherheitsraum dar. Konstantin Eggert (BBC Moskau) ergänzte, dass die Taktik der russischen Seite immer noch darin bestehe, mit Deutschland zu kooperieren, weil man eine Sonderbehandlung erwarte und glaube, es leichter zu haben als mit anderen Staaten. Die deutsche Seite wolle Stabilität um jeden Preis und nehme deshalb vieles hin – auch in Tschetschenien -, was für eine langfristige Zusammenarbeit jedoch nicht zuträglich sei.
 
Günter Joetze sprach einen weiteren Aspekt an, indem er betonte, dass sich Deutschland häufig hinter der EU verstecke. Auch wenn die Außen- und Sicherheitspolitik zunehmend vergemeinschaftet werde, verfüge Deutschland über beträchtliche autonome Handlungsmöglichkeiten. Dies zeigte sich nicht zuletzt in Jugoslawien. Wilhelm Hankel (Johann-Wolfgang-Goethe-Universität, Frankfurt am Main) teilte das Unverständnis der russischen Seite über die Flucht der Deutschen hinter die EU.
 
Zusammenfassend läßt sich festhalten, dass in der Diskussion über das Verhältnis Deutschlands und Russlands die Spannung zwischen einer bilateralen (strategischen) Partnerschaft und der Rolle Deutschlands im europäischen Integrationsprozess deutlich wurde. Da jede internationale Handlung Deutschlands aufmerksam und skeptisch verfolgt werde, sowohl im Westen als auch im Osten, verfolge Deutschland die Strategie, die europäischste aller europäischen Mächte zu sein, um so alle Zweifel zu zerstreuen.
 

Panel 2: 
Partnerschaftsbarrieren:
nationale Strategien im Europäischen Wirtschaftsraum

 
Aleksandr Dynkin (Erster Stellvertretender Direktor des Instituts für Weltwirtschaft und internationale Beziehungen der Russischen Akademie der Wissenschaften) konstatierte einleitend grundlegende Schwächen des ökonomischen Modells in Russland, die sich sowohl auf institutionelle als auch strukturelle Faktoren beziehen. Zwar erweise sich das aktuelle ökonomische Wachstum als starkes Heilmittel, jedoch erwachsen daraus lediglich positive Signale, die durch Gesetzgebung und eine rational und effektiv arbeitende Verwaltung verstärkt und ausgebaut werden müssen. Der institutionelle Rahmen sei jetzt verlässlicher, nicht zuletzt durch die Vereinheitlichung der Gesetzgebung auf allen administrativen Ebenen und durch die eingeleitete Justizreform. Die strukturellen Probleme bestehen jedoch weiter, die Russische Föderation leide an der „Dutch Disease“. Dem könne nur durch eine Diversifizierung des Außenhandels begegnet werden. Deutschland fungiere als immer wichtiger werdender Handelspartner – auch wenn zwischen beiden Staaten vor allem nicht-tarifäre Handelshemmnisse fortbestehen. Hinzu kommen die geringe Konkurrenzfähigkeit und mangelndes Marketing auf russischer Seite. Dynkin schlug vor, sich nicht auf die Niedrig-Preis-Märkte zu konzentrieren, sondern qualitativ hochstehende Produkte für den westlichen Markt zu entwickeln.
 
Klaus Dieter Bergner (Senior Vice President, Central & Eastern Europe, European Aeronautic Defence and Space Company, Paris) legte in Übereinstimmung mit Dynkin dar, dass die Handelsbeziehungen zwischen Deutschland und Russland vor allem dadurch gekennzeichnet seien, dass Russland Rohstoffe und Deutschland Investitions- und Fertigprodukte liefere. Der Eintritt in den Weltmarkt für High-Tech-Produkte sei für die Russische Föderation nach seinem Eindruck nur durch Kooperation mit westlichen Partnern, die bereits am Markt etabliert sind, möglich. Umgekehrt könnten auch deutsche Firmen den russischen Binnenmarkt nur durch Partner vor Ort erschließen. Barrieren für die Zusammenarbeit sieht er einerseits im nationalen Rahmen, andererseits gebe es spezifische Partnerschaftsbarrieren. Im Bereich der Luft- und Raumfahrt gab es den ersten Versuch Anfang der 1990er Jahre unter schwierigen politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen. Der zweite Versuch finde gegenwärtig unter besseren Rahmenbedingungen statt und eröffne positive Perspektiven. Auch wenn es einen Zwang zur Zusammenarbeit und tatsächlich zahlreiche Kooperationsangebote gebe, könne Kooperation nur dann langfristig erfolgreich sein, wenn beide Seiten ein profitables Geschäft abschließen können. Dazu sei die Bereitschaft notwendig, den eigenen Markt einzubringen. Während die Wirtschaft den Markt schaffe, müsse die Politik den Prozess der Markterweiterung flankieren. Es bestehe weiterhin eine starke Asymmetrie zwischen der Entwicklung der politischen und der ökonomischen Kooperation: Die Wirtschaft sei bereits um Längen voraus und schaffe sich eigene Formen der Zusammenarbeit.
 
Wladimir Ryschkow (Mitglied der Staatsduma der Russischen Föderation) unterstrich in seinem Beitrag das Verhältnis zwischen politischem Dialog und wirtschaftlichen Beziehungen. Barrieren aus politischer Sicht machte er auf vier Ebenen fest: historische Gründe, unterschiedliche Wertesysteme, Institutionen und Regeln (je mehr Kontakte, desto deutlicher werden diese Barrieren) sowie nationale Interessen, die auch durch die EU nicht aufgehoben, sondern lediglich konsensual geregelt werden. Auf russischer Seite identifizierte er folgende Probleme: fehlende Prioritäten, eine unzureichende Gesetzesbasis und langsame Strukturreformen, institutionelle Barrieren, nationale Interessen und fehlgeschlagene konkrete Kooperationsprojekte.
 
Wilhelm Hankel legte in seinem Vortrag dar, dass Globalisierung nicht das Absterben von Staaten bedeute, sondern sie vielmehr zur Kooperation zwinge. Der Sozialstaat sei durch die Globalisierung in seinem Bestand bedroht. Integration wie in Europa sei laut Hankel ein Unterfall von Globalisierung, die einen begrenzten regionalen Wert habe. Aber auch hier werde das Finanz- und Firmenkapital mobiler, was zu Standortbeliebigkeit sowie zu Lohn- und Beschäftigungsdruck und damit einer Verschärfung der sozialen Probleme führe. Jedoch ist nichts davon zwangsläufig. Eine Lösung sieht er in der Ausweitung des Völkerrechts zur Regulierung der Staatenbeziehungen, so dass eine Organisation wie die EU zum Teil überflüssig werde. Globalisierung habe heute keinen imperialen Charakter. Vielmehr sind es die neuen Technologien, die zu einer Senkung der Transport- und Kommunikationskosten führen und die Herausbildung homogener Märkte fördern. Damit werden alte nationale Standorte bedroht. Da der Durchschnittsmensch jedoch ortsgebunden ist, entwickele sich die Standortfrage zur neuen soziale Frage. Der Nationalstaat muss Lösungen im Sinne von sozialem Schutz schaffen. Dazu sei die EU nicht in der Lage, da Integration die Wirtschaftsgrenzen abschaffe. Insoweit handele es sich bei der EU um ein trojanisches Pferd, da sie die Globalisierung und die damit einhergehenden Probleme sich selbst ins Haus hole. Da der Sozialstaat nur national organisiert werden könne, plädierte Hankel für eine Reaktivierung der Nationalstaaten. Nötig sei eine Gegenmacht von handlungsfähigen kooperierenden Staaten, welche die Folgen der Globalisierung bekämpfen und die sozialen Besitzstände verteidigen. Gleichzeitig müsse die Globalisierung verrechtlicht werden, um das Unterlaufen von Sozialstandards zu verhindern. Auf diesem Gebiet sieht er Ansatzpunkte für eine sinnvollle strategische Partnerschaft. Auf den Einwand von Peter Schulze (Friedrich Ebert Stiftung, Moskau), die EU sei möglicherweise Teil dieses Verrechtlichungsprozesses, erklärte Hankel, dass dies nur bei einer idealen Form der Integration der Fall sei. Der Integrationsprozess der EU sei jedoch von unterschiedlichen staatlichen Interessen geprägt. Zudem läge der Profit bisher lediglich auf Seiten der Industrie, da es ein neoliberaler, aber keineswegs ein sozialer Integrationsprozess sei.
 
Dietrich Sperling (MdB a.D.) betrachtet die EU zwar als „Sozialstaat“ für den Agrarsektor, die Kohle- und Stahlbranche sowie für unterentwickelte Regionen, jedoch sei sie kein Sozialstaat im klassischen Verständnis. Eine wahre Sozialgesetzgebung innerhalb der EU wäre eine Vorwegnahme des geforderten Völkerrechts. Hankel führt dagegen vor allem zwei Defizite der EU auf. Zum einen wirken historische Gründe bis heute fort, nach denen es sich bei der EG/EU vor allem um ein deutsches Reparationsprojekt handelte. Zum zweiten weise die EU bis heute ein starkes Demokratiedefizit auf.
 
Die Diskussion dieses Panels drehte sich vorwiegend um die Osterweiterung der EU und deren Folgen für die Oblast Kaliningrad. Bezüglich des Zugangs zu der Exklave wies Egon Bahr (Bundesminister a.D.) auf die Möglichkeit einer Korridor-Lösung hin, wie sie die Bundesrepublik seinerzeit für den Transit nach West-Berlin genutzt hatte, und die trotz der Abschaffung der Visa-Pflicht die Souveränität der DDR nicht in Frage stellte. Dieser Vorschlag wurde jedoch von russischer Seite verworfen, unter anderem aufgrund der enormen Kosten. Außerdem sei die Transit-Frage nur Teil eines breiteren Fragenkomplexes. Ottokar Hahn beklagte, dass die russische Seite im Hinblick auf Kaliningrad eine klare Strategie vermissen lasse. Dagegen habe sich die EU zur Anerkennung der aktuellen Grenzen und zur einvernehmlichen Lösung des Problems verpflichtet. Zudem sei ein wirtschaftlicher Aktionsplan mit internationaler finanzieller Beteiligung in Vorbereitung. Jedoch handele es sich momentan weniger um eine finanzielle als um eine Prioritätenfrage. Die Sonderwirtschaftszone Jantar müsse mit Leben gefüllt werden, wozu die russische Seite Rechtssicherheit herstellen müsse. Zugleich betonte Hahn, dass die Osterweiterung für Kaliningrad eine große Chance darstelle und weist auf die Möglichkeit der Errichtung einer Euroregion hin. Hannes Adomeit (Stiftung Wissenschaft und Politik) vertrat die Auffassung, gerade die Region Kaliningrad sei als Pilotprojekt für die deutsch-russische Kooperation wenig geeignet, da es sich um ein Notstandsgebiet handele, in dem man allenfalls Schadensbegrenzung betreiben könne. Dieser Auffassung widerspricht Wladimir Ryschkow, der die Region als perspektivreich bezeichnete.
 
 

Panel 3:
Partnerschaftschancen:
vom „Great Game“ zur Europäischen Energiecharta

 
Das Thema „Energie“ war ein bislang vernachlässigtes Feld der Schlangenbader Gespräche, stellt zugleich jedoch eine der wenigen Erfolgsgeschichten deutsch-russischer Kooperation dar. Gernot Erler hatte bereits in seinem Vortrag darauf hingewiesen, dass Deutschland auf diesem Gebiet bereit gewesen sei, sich in eine erhebliche Abhängigkeit von der Russischen Föderation zu begeben. Die bisherigen Erfahrungen seien positiv und zeichneten sich durch Stabilität, Verlässlichkeit sowie rationale Organisation aus. Erler bezeichnete den Energiesektor als einen Stabilitätsanker, wo eine strategische Partnerschaft eigentlich schon bestehe.
 
Aleksej Miller (Stellvertretender Minister für Energie der Russischen Föderation) vertrat in seinem einleitenden Vortrag, dass das Wirtschaftswachstum sowohl in Europa als auch in der Russischen Föderation zu einem weiteren Anstieg der Energienachfrage führen werde. Seiner Meinung nach werde sich die Energienachfrage in den kommenden Jahren verdoppeln. Ein zukünftiger Engpass und eine mögliche Gefahr für die Energiesicherheit der EU könnten die Transportwege darstellen. Da die Transportkapazitäten der Rohrleitungen nicht ausreichen, finde heute zum Ausgleich vor allem Verschiffung statt. Um die Energieversorgung der EU in Zukunft sicherzustellen, sei also eine Diversifizierung der Transportwege nötig. Eine Zusammenarbeit sei nur auf der Basis langfristiger Verträge möglich. Die letzten 25 Jahre zeigten, dass Russland ein stabiler und zuverlässiger Partner sei. Auch die EU zeige sich bereit, den Energie-Dialog unter Bedingungen zu führen, die von der Russischen Föderation vorgeschlagen werden. Und diese gemeinsame Sicht des Marktes befördere die wechselseitige Zuverlässigkeit und Sicherheit.
 
Ministerialdirigent Hartmut Schneider (Unterabteilungsleiter im Bundesministerium für Wirtschaft) bekräftigte, dass sich Deutschland tatsächlich in einer starken Abhängigkeit von russischen Energieträgern befindet. Während dies vor 15 Jahren insbesondere von amerikanischer Seite stark kritisiert wurde, sei diese Abhängigkeit (obwohl sie noch weiter gestiegen ist) heute akzeptiert, was von einem Wandel in der geopolitischen Lage und Wahrnehmung zeuge. Für ihn könnte daher der Energiesektor als Symbol für die strategische Partnerschaft zwischen Deutschland und der EU und Russland gelten. Allerdings markiere dies einen hohen Erwartungshorizont, so dass er dafür plädierte, das Verhältnis angemessener als eine partnerschaftliche Zusammenarbeit zu bezeichnen, da es sich bisher vor allem um ein Lieferanten-Abnehmer-Verhältnis handele. Hier bestehe Handlungsbedarf, um das Verhältnis gehaltvoller zu gestalten und tatsächlich auf eine partnerschaftliche Basis zu stellen. Die Ursachen für die bislang nur begrenzte Zusammenarbeit sah er in den mangelhaften langfristigen Rahmenbedingungen für Investitionen. Die Investitionskosten im Energiebereich zeichneten sich grundsätzlich durch beträchtliche Grössenordnungen und durch ihre Langfristigkeit aus. Durch den hohen Investitionsbedarf, der sich in Russland nach westlichen Analysen auf 18 bis 20 Milliarden US-Dollar pro Jahr belaufe, werde zugleich die Notwendigkeit der Heranziehung von Auslandsinvestitionen offenbar.
 
Handlungsbedarf und –möglichkeiten sieht er auf bilateraler Ebene bei den Themen „Vorzeigeprojekte“, die rasch Ergebnisse liefern, sowie Energieeinsparung. Auf multilateraler Ebene spiele vor allem die Energiecharta von 1991 eine Rolle, die von Russland jedoch bislang nicht ratifiziert wurde. Schneider bezeichnete dies als Lakmustest, der anzeige, ob Verbesserungen in den Energiebeziehungen mit der Russischen Föderation möglich sind. Bisher weigere sich die Duma, die Charta zu ratifizieren und namentlich Gasprom fürchte, Rechte aufgeben zu müssen. Der laufende Energiedialog ersetze die Charta jedoch nicht.
 
Jürgen Möpert (Wintershall Moskau) hob in seinem Beitrag hervor, dass in Russland bis heute die Kapitalerträge nicht vorhersehbar und planbar seien. Auch er forderte eine Verbesserung des Gesetzes zur Production Sharing, bei dem - obwohl bereits 1995 verabschiedet - bis heute die Ausführungsbestimmungen und Teile der Steuergesetzgebung fehlen. So sei eine rationale Kostenkalkulation für die beteiligten Unternehmen nicht möglich. Hier sei die russische Regierung gefordert, die Spielregeln festzulegen, um so eine tragfähige Basis für Investitionen im russischen Energiesektor zu schaffen.
 
Reiner Hartmann (Ruhrgas Moskau) zeichnete die bisherigen Beziehungen zwischen Ruhrgas und Gasprom nach, die sich von einem Lieferanten-Abnehmer-Verhältnis zu einer echten Partnerschaft entwickelt hätten. Ende der 1960er Jahre beendeten bilaterale Verhandlungen das Second Great Game, und erste Erdgaslieferverträge mit der Sowjetunion wurden geschlossen. Diese Lieferungen bildeten den Beginn des Kennenlernens und des Vertrauensaufbaus. Anfang der 1990er Jahre wurde Gasprom privatisiert und die Kooperation wurde fortgesetzt. 1998 mündete diese Partnerschaft in eine Beteiligung der Ruhrgas an Gasprom, aus der weitreichende neue Projekte entstanden. In Anbetracht dieser positiven Erfahrungen machte er für das Scheitern anderer deutsch-russischer Kooperationen meist das Unvermögen und Fehler auf deutscher Seite aus. Gleichzeitig trage das unverändert schlechte Image Russlands zur Zurückhaltung deutscher Investoren bei. Bezüglich der Energiecharta räumte er im Unterschied zu Hartmut Schneider die Notwendigkeit von Nachbesserungen ein, welche die russische Seite besser stellen.
 
Aleksandr Wasilenko (LukOjl) merkte zur Energiecharta an, dass die Ratifizierung für Russland sowohl positive als auch negative Folgen habe. Die Ratifizierung würde Russlands Hinwendung zu Europa unterstreichen, den Zugang zu internationalem Kapital erleichtern und den Investitionsschutz erhöhen. Zugleich würde Gasprom ein Drittel seines Marktanteils verlieren. Die früher hochgelobte Energiecharta sei heute „notleidend“, fasste Günter Joetze in der Diskussion zusammen. Die russische Seite fordere Nachbesserungen, weil die Charta der russischen Regierung industriepolitische Eingriffsmöglichkeiten nehme. Genau das aber sei Sinn der Charta gewesen. Wenn die Ratifizierung der Energiecharta bedeute, dass Gasprom ein Drittel seines Absatzmarktes verliere, dann sei daraus zu folgern, dass ein Drittel des Marktes bis heute künstlich geschützt sei. Wladimir Ryschkow machte darauf aufmerksam, dass Gasprom mit seinen Steuern 25% des russischen Staatshaushaltes finanziere und die Abgeordneten auch den Bürgern gegenüber Verpflichtungen hätten.
 
Egon Bahr warf die Frage auf, ob die Ratifizierung der Energiecharta die conditio sine qua non für weitere Kooperation sei oder ob es Teilaspekte gäbe, in denen die Auffassungen deckungsgleich seien oder Kongruenz hergestellt werden könne. Hartmut Schneider hob hervor, dass die Energiecharta zwar stabile Rahmenbedingungen schaffe, diese aber auch auf anderem Wege erreicht werden könnten. Jedoch glaube die deutsche Seite daran, dass die Charta am ehesten tragfähige Zukunftsperspektiven eröffne. Gernot Erler unterstrich noch einmal die Bedeutung der Energiecharta und fragte, ob es nun um geopolitische Entscheidungen gehe oder um eine zivilisierte Alternative zum Second Great Game. Die Energiecharta sei eine Botschaft, dass es eine solche Alternative gäbe, die für alle Beteiligten die Garantie eines geregelten Verfahrens beinhalte. Wenn die russische Seite glaube, ohre rechtliche Bindung besser zu fahren, dann sei klar, dass auch die USA hier ihre unilaterale Machtpolitik fortsetzen werden. Jürgen Möpert ergänzte, die Energiecharta sei 1991 verhandelt worden, zu einer Zeit also, als in Russland die Wirtschaftsreformen gerade ansetzten und Transportkosten noch keine Rolle spielten. Heute haben sich die Rahmenbedingungen verändert und Nachbesserungen seien notwendig. Jedoch stelle sich die Alternative „Geopolitik versus Vertrag“ nicht, da beide Seiten ein Interesse an vertraglichen Übereinkünften haben.
 
 

Panel 4:
NMD versus REMD: Raketenabwehr national oder multilateral?

 
Einleitend nahm Hans-Joachim Spanger auf die Rede von US-Präsident Bush Bezug, der am 1. Mai unter anderem erklärt hatte, die Welt sei heute gefährlicher, weniger sicher und vorhersagbar geworden. Kennzeichnend sei nicht die wechselseitige Bedrohung tausender Raketen sondern eine kleine Zahl von Raketen in der Hand von Schurken- oder unzuverlässigen Staaten. Das Abschreckungssystem des Kalten Krieges sei ungenügend und neue Maßnahmen seien erforderlich. Der ABM-Vertrag, der die Vergangenheit verkörpere, müsse grundlegend geändert werden. Grundlage für die Raketenabwehr solle jedoch kein unilaterales Programm sein, im Gegenteil, vor allem Russland solle mit einbezogen werden. Die grundlegende Prämisse sei, mit Russland in diesem Feld auf eine Beziehung hinzuarbeiten, die sich auf gemeinsame Verantwortung und Interessen stützt. Spanger wirft sodann die Frage auf, ob das geplante Raketenabwehrsystem hierfür wirklich das geeignete Instrument sei.
 
Gert Weisskirchen (Außenpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion) wies auf die Ambivalenz der Botschaft des amerikanischen Präsidenten hin. Als Positivum signalisiere sie ein Abrücken vom Unilateralismus, was wohl auch der Intervention der Europäer zuzuschreiben sei. Die amerikanischen Vorschläge verlangten nunmehr eine vernünftige Antwort. Die EU lerne jetzt langsam, mit einer Stimme zu sprechen. Die Russische Föderation habe bisher jedoch eine konstruktive Antwort vermissen lassen.
 
Pawel Felgenhauer (unabhängiger Journalist, Moskau) sieht den ABM-Vertrag nicht als veraltet an. Seiner Meinung nach schlägt die USA ein Raketenabwehrsystem vor, dessen Errichtung 60 Milliarden Dollar kosten werde, das aber nicht funktionieren wird. Moskau schlägt der EU ein System vor, das zwar auch nicht funktionieren werde, aber viel billiger ist. Es sei im nationalen Interesse Russlands, so früh wie möglich eine Einigung mit Washington anzustreben, jede Möglichkeit einer ernsthaften Konfrontation auszuschließen und möglichst viele Elemente des Vertragssystems zu erhalten. Dies um so mehr, als dem aktuell schwachen und armen Russland ein freies Spiel der Mächte im Bereich der Sicherheitspolitik kaum Vorteile bringen könne. Jedoch sei Russland in den letzten Jahren einer ernsthaften Einigung mit den USA ausgewichen. Beide Seiten werfen sich inkompatible Positionen vor. Russland stünde eine strategische Bescheidenheit gut zu Gesicht. Es dürfe die USA und die NATO nicht als „Quelle von Gewalt“ ansehen. Nur so könne eine Modernisierung Russlands mit Hilfe des Westens gelingen. Ohne eine umfassende politische und militärische Kooperation mit dem Westen sei es sinnlos, auf die Verwirklichung gemeinsamer Projekte wie der Antonow 70 oder der MIG 29 zu hoffen. Felgenhauer geht davon aus, dass die Verhandlungen zwischen der Russischen Föderation und den USA scheitern werden, was jenen Kräften in Russland Auftrieb gebe, denen eine Konfrontation gelegen komme und die revanchistische Ideen über die Wiedergeburt eines Großrussland hegen.
 
In der Diskussion äußerte Wladimir Ryschkow Zweifel an der technischen Realisierbarkeit des nationalen Raketenabwehrsystems der USA sowie an der Sinnhaftigkeit seiner Errichtung. Die Amerikaner argumentierten, das System sei gegen Feinde der USA gerichtet, gegen Schurkenstaaten. Jedoch bedrohten diese Staaten die USA gar nicht mit Raketen, sondern möglicherweise mit biologischen und chemischen Waffen, gegen die ein Raketenabwehrsystem nichts ausrichten könne. Und gegen einen „großen Gegner“ sei das System ebenfalls untauglich. Konstantin Eggert hakte nach und fragte, wozu ein solches System diene, wenn die USA außer den Schurkenstaaten keine Feinde haben, gegen die ein solches System gerichtet sein könne. Jedoch müsse sich dann auch die russische Seite die Frage stellen, warum man den Vorschlag machte, zusammen mit europäischen Staaten ein Raketenabwehrsystem zu errichten. Wladimir Ryschkow fügte hinzu, die Amerikaner müßten besonnen die mit der Aufkündigung des ABM-Vertrages einhergehenden Gefahren und Folgen abschätzen. Es bestehe die Gefahr eines Präzedenzfalls, der andere Staaten dazu ermutigen könnte, aus anderen Verträgen wie dem Nichtverbreitungsvertrag auszusteigen.
 
Gernot Erler betonte, dass sich die Bush-Rede im Kern gegen den ABM-Vertrag richte und diesen für unzeitgemäß erkläre, da die Technik über ihn hinweggegangen sei. Im Klartext bedeute dies das Ende vertragsbegründeter Abrüstungspolitik. Auch die Argumentation, der ABM-Vertrag als Relikt des Kalten Krieges müsse überwunden werden, besage, dass nicht die Potentiale und das Feinddenken ad acta gelegt werden, sondern einer der wichtigsten Abrüstungsverträge. Dies sei kein „neues Denken“. Zwar diene die Sowjetunion nicht länger als Feindbild, dafür aber die „least responsible states“. Diese würden so definiert, dass jeder Staat, der gegen die USA und ihre Verbündeten sei oder die Werte der USA nicht teile, als Feind gelten könne. Zugleich stütze der russische Vorschlag die Befürchtungen der USA, denn Russland präsentiere sich nicht als Partner im vernünftigen Umgang mit verantwortungslosen Staaten. Im Gegenteil konstatierte Erler auf beiden Seiten eine Konvergenz des alten Denkens.
 
Egon Bahr merkte an, dass für die USA der ABM-Vertrag den Zustand der Verwundbarkeit der beiden „Großen“ symbolisiere, welchen man durch Raketenabwehr überwinden wolle: „Wenn ich unverwundbar bin, kann ich alleine schlagen“. Der Ausstieg aus dem ABM-Vertrag sei gleichzusetzen mit dem Anspruch auf globale Überlegenheit. Jede amerikanische Administration werde die Illusion der Unverwundbarkeit weiter verfolgen, nicht zuletzt wegen der Unsummen, die bisher zur Erreichung dieses Zieles ausgegeben wurden. Günter Joetze beklagte, dass das Vorhaben irrational sei. Mit den erheblichen Summen, die für das Raketenabwehrprogramm aufgewendet werden sollen, könne man die Schurkenstaaten auf andere Art und Weise eindämmen.
 

Panel 5:
Die NATO und Russland –
strategische Partner bei der Krisenprävention?

 
Botschafter Klaus-Peter Klaiber (Beigeordneter Generalsekretär der NATO) erläuterte in seinem das Abschlusspanel einleitenden Vortrag, dass die Entwicklung der Partnerschaft auch die Krisenprävention umfassen müsse. Der Krieg im Kosovo sei eine Zäsur gewesen, der tiefe Spuren im Verhältnis zwischen Russland und der NATO hinterlassen habe. Seit Sommer 1999 erhalten die Beziehungen jedoch neuen Auftrieb, und heute seien sie mindestens ebenso gut wie vor dem Krieg im Kosovo. Trotz der Krise blieb das gemeinsame Engagement der SFOR-Truppen in Bosnien-Herzegowina unbeschädigt, was auf das starke Interesse aller Seiten hindeute. Außerdem habe die Russische Föderation die Resolution 1244 im UN-Sicherheitsrat mitgetragen, und sie stellt heute ein Kontingent von mehr als 3.000 Soldaten im Kosovo. Beide Seiten haben praktische Erfahrungen im europäischen Krisenmanagement gesammelt. Aber macht das Engagement im Balkan sie zu strategischen Partnern? Was ist das Strategische bei der Krisenprävention über die gemeinsame Erfahrung hinaus? Zu einer strategischen Beziehung gehörten sowohl eine tragfähige und möglicherweise sich erweiternde Interessensgemeinschaft, als auch Verfahren zur Konsultation und Umsetzung der gemeinsam definierten Interessen.
 
Die Partnerschaft müsse geprägt sein von Konsensfähigkeit, Vertrauen und Transparenz. Die Fähigkeit zum Konsens setze voraus, Nullsummenspiele hinter sich zu lassen. Hier sieht Klaus-Peter Klaiber vor allem auf der russischen Seite Nachholbedarf. Jedoch gebe es zwei wichtige Bereiche, die von Konsens getragen seien: die Bewertung der aktuellen Entwicklung auf dem Balkan sowie die Einschätzung der Bedrohung durch Raketenproliferation. Vertrauen macht die Beziehung weniger konjunkturanfällig, kann aber nur von unten wachsen. Hinzu komme die Transparenz der Beziehungen für beide Seiten. Klaiber resümierte, dass die Grundakte zwar auf strategische Partnerschaft angelegt sei, diese aber bislang nicht erreicht wurde. Jedoch sei das Potential der Grundakte noch nicht ausgeschöpft. Als „Magna Charta“ der Beziehungen zwischen Russland und der NATO müsse sie weiter mit Leben gefüllt werden. Auch müsse der kritische Dialog fortgesetzt werden. Dabei trage das gemeinsame Krisenmanagement auf dem Balkan heute zur Annäherung bei und schaffe neue Impulse für die Zusammenarbeit.
 
Generaloberst Walerij Manilow (Erster Stellvertretender Generalstabschef der Russischen Streitkräfte) bezeichnete in seinem Vortrag die Prävention von Krisen als die Aufgabe des. Jahrhunderts. Notwendig sei ein gemeinsames Verständnis von „Krise“ und „Bedrohung“. Die Kriterien für eine strategische Partnerschaft seien die Unabhängigkeit von politischen Konjunkturen sowie Beständigkeit und Langfristigkeit. Eine Partnerschaft müsse vor allem von der Gleichberechtigung beider Partner getragen sein. Hinzu komme die gemeinsame Erarbeitung von Maßnahmen gegen gemeinsam definierte Bedrohungen, die sodann gemeinsam umgesetzt werden. Die negative Haltung der Russischen Föderation zum Eingriff der NATO in Jugoslawien dürfe nicht die Suche nach Lösungen anderer Probleme und Konflikte verhindern.
 
Bezüglich der NATO-Osterweiterung forderte Gert Weisskirchen in einer Intervention eine nüchternere Betrachtungsweise. Zwei Aspekte müssten beachtet werden: erstens die Interessen der Anwärter-Staaten und zweitens die eventuell noch schwachen, aber doch vorhandenen Instrumente für eine Kooperation. Die Kooperation müsse durch den Ausbau der Konsultationsmechanismen der EU in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik und die Einbeziehung der Russischen Föderation gestärkt werden.
 
Sergej Sagidullin (Stellvertretender Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses der Staatsduma) betonte die angeschlagene moralische Autorität der NATO nach dem Eingriff in Jugoslawien und verwies zugleich auf Kontroversen innerhalb der NATO sowie insbesondere zwischen den USA und Europa. Darüber hinaus betonte er, dass Russland für die NATO und den Westen im allgemeinen unverzichtbar sei. Gerade heute diene Russland als Schutz und Pufferstaat gegen ein erstarkendes China. Auch bei der Bekämpfung des Schmuggels und der illegalen Migration, vor allem der Einwanderung von Chinesen nach Sibirien, spiele Russland eine nicht zu unterschätzende Rolle und werde vom Westen als Beschützer gebraucht.
 
Im abschließenden Vortrag kam Egon Bahr auf den Königsweg oder das Grundgesetz der europäischen Stabilität zurück: den Gewaltverzicht zur Veränderung bestehender Grenzen. Für die Europäer stellte dies seinerzeit den Versuch dar, aus einer Schwäche eine Stärke zu machen. Dies trug zur Verrechtlichung der Beziehungen bei. Gerade hier finden sich gravierende Meinungs- und Interessenunterschiede zwischen den USA und Europa. Die USA könnten aufgrund ihrer Stärke ihren Interessen überall auf der Welt Nachdruck verleihen, und liessen sich nur dort binden, wo es ihren Interessen entspreche. Dieses Verhaltensmuster machte Bahr ebenso auf der russischen Seite aus. Auch für den Balkan sieht er die Verrechtlichung als Schlüssel. Er fragte nach, ob die Russische Föderation bereit sei, sich einem System anzuschließen, welches das Recht des Stärkeren durch die Stärke des Rechts ersetze.
 
In der abschließenden kurzen Diskussion erklärte Gernot Erler, dass die EU zukünftig eine größere Rolle bei der Krisenprävention spielen werde als die NATO. Um gute Beziehungen mit Europa zu haben, müsse Russland allerdings die Entscheidung und den Wunsch der Europäer für den Erhalt guter transatlantischer Beziehungen respektieren. Walerij Manilov stimmte dem zwar prinzipiell zu, betonte aber, dass Europa ohne die Unterstützung Russlands dem Diktat Washingtons unterliege.
 
 
Schlussbemerkung
 
Der Verlauf der diesjährigen Schlangenbader Gespräche machte deutlich, dass das Leitthema der „strategischen Partnerschaft“ keineswegs schlecht gewählt war und stärker als bei den vorhergehenden Gesprächen zum Angelpunkt ausgiebiger Diskussionen wurde. So unstrittig die „Partnerschaft“ zwischen Deutschland und Russland heute ist, so sehr löste deren „strategische“ Qualität Widerspruch und Kontroversen aus. Soweit damit herausragende, gar Sonderbeziehungen beschrieben werden sollen, mag namentlich die deutsche Seite von einer „strategischen Partnerschaft“ nur wenig wissen. Soll dagegen die Partnerschaft im Sinne von Stabilität, Langfristigkeit und Berechenbarkeit als „strategisch“ gelten, so dürfte durchaus eine gemeinsame Basis gefunden sein – auch wenn an dieser noch zu arbeiten ist. Es wird die Aufgabe künftiger Schlangenbader Gespräche – und zumal des fünften im kommenden Jahr – sein, daran weiter mitzuwirken.

 

Protokoll:
Irina Babitschewa
Kerstin Zimmer