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Protokoll 2000



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Mit der Wahl von Wladimir Putin zum Präsidenten der Russischen Föderation rückte ein Mann an die Spitze des Staates, mit dem die meisten politischen Beobachter in- und außerhalb Rußlands mehr Fragen als Antworten verbanden. Zugleich fiel der Führungswechsel in Rußland – dem zu Beginn des Jahres 2001 ein neuer Präsident in den USA folgen wird – in die wohl schwierigste Phase der Beziehungen mit dem Westen seit dem Ende der Sowjetunion. Es stellt sich daher die Frage, ob wir einen grundlegenden Paradigmenwechsel in den Beziehungen zwischen Rußland und dem Westen zu erwarten haben – das zentrale Thema des diesjährigen Schlangenbader Gesprächs.
Den Auftakt bildete diesmal eine „dinner speech“ des Parlamentarischen Staatssekretärs im Bundesministerium der Verteidigung, Walter Kolbow, der die aktuelle Krise und ihren unmittelbaren Anlaß, den Krieg um den Kosovo, in den Mittelpunkt seiner Rede rückte. Er legte dar, daß es dem Westen im Kosovo ausschließlich darum gegangen sei, einen Völkermord zu verhindern und elementare Menschenrechte zu verteidigen. Es sei bei der Entscheidung zum Einsatz militärischer Gewalt auf seiten der NATO mithin das geringere Übel gewählt worden, um ein größeres abzuwenden – eine äußerst schwere Entscheidung, gerade auch für die deutsche Bundesregierung. Gleichwohl habe Rußland auf das westliche Vorgehen mit heftiger Kritik reagiert, die auch im Jahr danach kaum abgeklungen sei. In Tschetschenien, wo Rußland im Herbst 1999 selbst (und ein weiteres Mal) zu den Waffen gegriffen hat, sieht es sich dagegen auch als Verteidiger europäischer Sicherheitsinteressen, denn Rußland führe dort seinen Krieg nicht nur gegen separatistische Kräfte, sondern vor allem gegen den internationalen Terrorismus und religiösen Fanatismus, wie Walerij Manilow – Stellvertretender Chef des russischen Generalstabs – in seiner Replik darlegte. Der Westen lehne dieses Vorgehen ab und äußere seine Kritik mal lauter, mal leiser. Für den Westen führe Rußland seinen Krieg im Nordkaukasus mit unverhältnismäßigen Mitteln, unter denen vor allem die Zivilbevölkerung leiden müsse. Dem hält die russische Führung entgegen, daß zwar militärische Mittel eingesetzt werden, wodurch jedoch auch grundlegende Voraussetzungen für eine Wiederbelebung des von lokalen Clans zerrütteten Landes geschaffen werden. So könnten dank russischer Hilfe jetzt wieder Krankenhäuser arbeiten und Schulen eröffnet werden, auch nehme die Bevölkerungszahl nach einem über Jahre andauernden drastischen Rückgang wieder zu.
 
Unterschiedlicher könnten die Wahrnehmungen kaum sein, was sowohl auf die Enttäuschung „romantischer“ Erwartungen als auch auf die Wirkung des klassischen Sicherheitsdilemmas zurückgeführt werden kann, worauf einleitend für die Veranstalter Hans-Joachim Spanger aufmerksam machte. Beides kann nur durch vertiefte Kooperation und daraus entstehendes Vertrauen eingehegt und vielleicht überwunden werden. Hier bot das Schlangenbader Gespräch bereits zum dritten Mal Gelegenheit, Kooperationspotentiale in den Beziehungen zwischen Rußland und dem Westen im allgemeinen sowie Deutschland im besonderen auszuloten, aber auch kontroverse Standpunkte in einem offenen Dialog zu diskutieren.
 
 
Die deutsch-russischen Beziehungen und der Multipolarismus
 
In der Regel werden bereits in der Anfangsphase einer Regierung die Weichen für deren künftigen Kurs gestellt. Botschafter Christian Pauls – Auswärtiges Amt, Berlin – leitete daher das 3. Schlangenbader Gespräch mit einer Analyse der russischen innen- und außenpolitischen Situation zu Beginn der Amtszeit des neuen Präsidenten ein und benannte im Anschluß die grundsätzlichen Ziele und Erwartungen der Bundesregierung. Mit Blick auf die Innenpolitik diagnostizierte er folgende Tendenzen:
In außenpolitischer Hinsicht kam mit Wladimir Putin ein großrussischer Patriot ins Amt, dessen Ziel es sei, Großmachtpolitik zu betreiben. Um der Forderung nach Mitsprache in der internationalen Politik Ausdruck und der beanspruchten Rolle als Weltmacht Geltung zu verleihen, orientiere sich Rußland vor allem an den USA, was auch künftig eine Vernachlässigung Europas bewirken könnte. Kurzfristig sei zwar zu erwarten, daß sich Rußland vor dem Hintergrund seiner aktuellen Außenwirtschaftsinteressen Europa annähern wird, doch mittel- und langfristig wird es bestrebt sein, seine Rolle als Rohstofflieferant Europas zu verringern und dafür seine eigene Wirtschaft zu modernisieren. In diesem Spannungsverhältnis zwischen Großmachtpolitik einerseits und innerer Modernisierung andererseits wird der Westen als Partner und Gegner zugleich auftauchen. Insgesamt dürfte aber ein eher kooperativer Ansatz überwiegen, zumal mit der Übernahme westlicher Strukturmerkmale im politischen System, wie der Legitimierung politischer Macht durch demokratische Wahlen oder dem Leitbild einer effizienten Verwaltung, Grundlagen für ein überwiegend kooperatives Verhältnis geschaffen wurden. Die zentrale Frage der Beziehungen zwischen Rußland und dem Westen sei jedoch, ob Rußland wirkliche Qualitäten als „Teamplayer“ entwickeln und von der traditionellen Vorstellung abrücken könne, daß die internationale Politik ein Nullsummenspiel sei. Der Westen wünsche jedenfalls Rußland als konstruktiven Sicherheitspartner. Es werden daher auch künftig Integrationsangebote gemacht, und die Politik der Unterstützung demokratischer Prozesse wird beibehalten. Selbst im Angesicht des Tschetschenien-Krieges sei der Westen nie an einer Isolation Rußlands interessiert gewesen.
 
Demgegenüber gab Aleksandr Golowin vom Außenministerium der Russischen Föderation zu bedenken, daß in der langen Geschichte der deutsch-russischen Beziehungen Gegensätze nicht die Ausnahme, sondern die Regel waren. Gleichwohl habe es in den Jahren nach 1989/90 eine gute Chance für grundlegende Änderungen gegeben, aber diese Chance wurde nicht genutzt, wofür vor allem die westliche Seite verantwortlich sei. Diese habe Osteuropa in drei Kategorien eingeteilt, in: (1) Länder, die unmittelbar in den Westen integriert werden, (2) Länder mit einer mittelfristigen Integrationsperspektive sowie (3) Länder ohne Integrations-perspektive unter Einschluß Rußlands. Das damit einhergehende Expansionsstreben des Westens laufe konträr zur unverrückbaren Auffassung Rußlands, daß nur eine multipolare Welt internationale Stabilität garantieren könne. Rußland sieht sich insofern als letzter Widerstandskämpfer gegen die – vor allem von den USA ausgehenden – Tendenzen zur Unipolarität in der Weltpolitik. Im Bemühen wiederum, der amerikanischen Dominanz entgegenzuwirken, gebe es genügend Potential für einen konstruktiven Ausbau der bilateralen Beziehungen. Sehr viel optimistischer als Pauls beurteilte Golowin die innenpolitischen Konsolidierungsperspektiven, die, seiner Darstellung zufolge, die Chancen für die angestrebte russische Großmachtrolle wesentlich erhöhten:

Die Frage nach den außenpolitischen Konsequenzen des neuerlichen Tschetschenien-Krieges stelle sich für Rußland nicht, da es die Militäroperation im Nordkaukasus als innere Angelegenheit betrachte. Zum Zeitpunkt der Schlangenbader Konferenz Anfang Mai 2000 sei die großflächige Kriegführung weitgehend abgeschlossen, allerdings gingen die Spezialoperationen noch weiter. Die Suche nach Dialogpartnern in Tschetschenien gestalte sich schwierig, da die Aufnahme eines Dialoges an bestimmte Bedingungen geknüpft werden müsse, wie die Achtung der russischen Verfassung, die Abgabe von Waffen, die Freilassung von Geiseln sowie die Auslieferung von Terroristen. Neben der Eindämmung der Krisenherde im Nordkaukasus gelten nach Darstellung von Aleksandr Golowin als weitere Schwerpunkte des neuen Präsidenten die Durchsetzung eines Föderalismus mit gleichen Spielregeln für alle und die Ausschöpfung des wirtschaftlichen Entwicklungspotentials Rußlands. Letzteres spiegele sich nicht zuletzt in der von Putin häufig gebrauchten Aussage wider, daß es sich bei Rußland um ein reiches Land mit einer armen Bevölkerung handele. Im Hinblick auf das bevorstehende deutsch-russische Gipfeltreffen Mitte Mai charakterisierte Golowin die bilateralen Beziehungen als gegenwärtig zwar gut, doch keineswegs befriedigend. Im übrigen hält er die so oft zitierte Unzufriedenheit der deutschen Wirtschaft mit den Bedingungen in Rußland für ein Klischee.
 
In der Diskussion unterstrich Christian Pauls noch einmal, daß das zentrale Interesse Deutschlands im Rahmen seiner multilateral angelegten Politik in einer Vermeidung der internationalen Isolation Rußlands liege. Zugleich machte er klar, daß der relativ strikte Sparkurs der Bundesregierung der operativen Umsetzung der deutschen Rußland-Politik zusehends engere Grenzen setze. Die Konsequenz lautet daher, daß es künftig kein billiges Geld mehr für die Gestaltung der deutsch-russischen Beziehungen geben könne. Eine ähnliche Grundhaltung machte Klaus-Dieter Bergner – Leiter Neue Konzerngeschäfte der DaimlerChrysler AG – auch in der Privatwirtschaft aus. Wenn das russische Kapital selbst nicht zu Investitionen bereit sei und die Kapitalflucht täglich immer noch bis zu 90 Millionen US-Dollar betrage, seien westliche Investitionen in keinem Unternehmensvorstand zu vertreten.
 
Dietrich Sperling – MdB a.D. – brachte in der anschließenden Diskussion den Wunsch zum Ausdruck, daß sich die russische Gesellschaft zu einer sich selbst steuernden Zivilgesellschaft entwickeln möge. Allerdings verwies er auch auf die Gefahr, daß eine stärkere Zusammenarbeit zwischen Rußland und Deutschland die dazwischen liegenden Länder beunruhigen könne, zumal es laut Hannes Adomeit von der Stiftung Wissenschaft und Politik durchaus bedenkliche Elemente in der Putinschen Reformpolitik gebe. Zum einen treibe dieser die Errichtung eines starken Zentralstaates voran, zum anderen solle als Motor der Wirtschaftsentwicklung in erster Linie der militärisch-industrielle Komplex wirken, was zwangsläufig Tendenzen einer militärischen Aufrüstung befördern muß. Der in Moskau festzustellende patriotische Konsens täuschte für Heinrich Vogel – Direktor des Bundesinstituts für ostwissenschaftliche und internationale Studien – über eine Fülle ungelöster Probleme hinweg, von denen die Militärreform nur eines sei. In der russischen Selbsteinschätzung dominiere die Auffassung, daß Rußland über ein riesiges Potential verfüge. In Wahrheit handele es sich aber nur um ein theoretisches Potential. Es sei keineswegs auszuschließen, daß dieser Hang zur Selbstüberschätzung zu einer Selbstisolation führe. Nötig sei daher eine „Wertberichtigung“ im Selbstverständnis. In der russischen „self-assertiveness“ offenbarten sich indes, so Peter W. Schulze – Leiter der Friedrich-Ebert-Stiftung, Moskau – auch positive Elemente, denn die russische Außenpolitik gewinne dadurch an Stabilität, Verläßlichkeit und Konsistenz. Auf jeden Fall lasse sich seitens des Westens mit dem russischen Willen zur Selbstbehauptung unter Putin besser umgehen als mit der bisherigen erratischen Politik Boris Jelzins.
 
Gert Weisskirchen – MdB – mahnte den Westen zu strategischer Geduld gegenüber Rußland. Die Chance für eine erfolgreiche Umsetzung der notwendigen Reformen sei für den neuen Präsidenten nicht zuletzt deswegen hoch, weil das Parlament auf seiner Seite stehe und somit die früher so häufig aufgetretenen Blockaden überwunden seien. Rußland brauche einen zivilgesellschaftlich gestützten Modernisierungskurs. Vordringlich sei, Felder intensiverer Kooperation zu bestimmen sowie die dafür in Frage kommenden Akteure und Institutionen wie Unternehmer, Gewerkschaften, Hochschulen oder Städtepartnerschaften zu benennen. Für Wladimir Awertschew – Mitarbeiter eines Stellvertretenden Sprechers der Staatsduma – waren die Einwirkungsmöglichkeiten des Westens aber bei weitem nicht mehr so groß, wie dies noch unter Michail Gorbatschow und Boris Jelzin der Fall gewesen war. Aufs Ganze gesehen waren die 90er Jahre in seinen Augen eine verlorene Zeit. Die hohen Wachstumszahlen im militär-industriellen Bereich relativierte Awertschew unter Verweis auf die niedrigen Ausgangsdaten: Der These einer Militarisierung Rußlands liegen häufig die Prozentangaben eines statistischen Jahresvergleichs zu Grunde, während erst die tatsächlich produzierten Stückzahlen eine verläßliche Einschätzung ermöglichen – und diese seien immer noch sehr gering.
 
 
Rußland und die Europäische Union vor neuen Ufern?
 
Im Juni 1999 verabschiedete der Europäische Rat auf dem Gipfel in Köln das Konzept über die „Gemeinsame Politik der Europäischen Union gegenüber Rußland“. Rußland antwortete darauf im Oktober in Helsinki mit seiner „Strategie für die Entwicklung der Beziehungen der Russischen Föderation mit der Europäischen Union in mittelfristiger Perspektive (2000–2010)“. Sowohl die Europäische Union als auch die Russische Föderation versuchen mit ihren Strategien, die beiderseitigen Beziehungen auf eine neue Grundlage zu stellen. Allerdings sind beide strategischen Papiere bislang noch ohne Wirkung geblieben, wofür Botschafter a.D. Günter Jötze in erster Linie die russische Seite verantwortlich machte. Zwar leide die EU-Politik gegenüber Rußland an dem generellen Mangel, daß die EU sicherheitspolitisch noch nicht handlungsfähig ist. Aber im Rahmen einer auf Kooperation setzenden präventiven Sicherheitspolitik gebe es durchaus Potentiale für eine regionale Stabilitätspolitik der EU. Auch waren die EU-Reaktionen auf den neuerlichen Tschetschenien-Krieg Rußlands harscher als die Reaktionen der USA, wie sich unter anderem im (unsinnigen) Einfrieren von TACIS-Programmen zeigte. Die Kürzung dieser Mittel komme einem Schnitt ins eigene Fleisch gleich. Auch wenn die EU sich bisweilen eines heimlichen, mitunter auch eines offenen Protektionismus bediene, sei insgesamt doch Rußland der eigentliche Hemmschuh für die fehlende Ausnutzung der in beiden Strategiepapieren angelegten Kooperationsspielräume. In Jötzes Augen sei Rußland nur selektiv kooperationsbereit und begreife nicht, daß diese kein Nullsummenspiel ist. Darüber hinaus werden nach seinem Eindruck in jüngster Zeit die russischen Bedenken gegen eine EU-Erweiterung lauter und offener vorgebracht, was zum erheblichen Teil die russischen Ängste vor einer Abkoppelung von den osteuropäischen Märkten durch die Einführung von EU-Normen widerspiegele. Zum anderen schwinge in diesen Bedenken die Befürchtung Rußlands mit, daß Polen nach der Aufnahme in die EU sein Veto gegen intensivere europäisch-russische Beziehungen einlegen könnte. Die Schlüsselfragen lauteten daher für ihn, wie kooperationsfähig Rußland ist und ob es wirklich teamfähig sei.
 
In den 90er Jahre verlief die Entwicklung im post-sowjetischen Raum und in der Europäischen Union gegensätzlich. Während in der EU ein Prozeß der Vertiefung und Erweiterung stattfand, mußte Rußland nach dem Zerfall der Sowjetunion die Beziehungen zu den Nachfolgestaaten auf bilateraler Ebene neu organisieren. Und im Unterschied zu Deutschland nach dem 2. Weltkrieg war auch die Sequenz des Übergangs zur Demokratie und Marktwirtschaft eine andere, wie Aleksandr Dynkin – Erster Stellvertretender Direktor des Instituts für Weltwirtschaft und Internationale Politik, Moskau – betonte: In Deutschland gelang danach der demokratische Wandel, weil im Zuge des Wirtschaftswunders ein befriedigendes Wohlstandsniveau erreicht werden konnte, während in Rußland umgekehrt die Demokratie zu Wohlstand führen solle.
 
Bilanziert man die internationalen Einwirkungsversuche des letzten Jahrzehnts auf den Reformprozeß in Rußland, so zeige sich zweifelsfrei, daß Amerika aktiver und auch einflußreicher war als Europa. Heute werde jedoch immer deutlicher, daß Rußland damit einer falschen Orientierung aufsaß: Das europäische Modell passe auf Rußland weit eher als das US-Modell, welches über keine soziale Absicherung verfüge. Allerdings sei die Rußland-Politik der Europäischen Union bislang noch sehr konturenlos, was nicht zuletzt daran liege, daß es in der EU an einer klaren politischen Führung fehle. Da in Rußland mit einer Deideologisierung seiner Außenbeziehungen eine neue Transformationsetappe anzubrechen scheint, ergebe sich zwangsläufig, daß der wichtigste Partner Rußlands in Zukunft die Europäische Union sein werde. Rußland werde dabei drei aufeinander aufbauende strategische Ziele verfolgen:
  1. die Schaffung einer Freihandelszone auf der Grundlage des existierenden Partnerschafts- und Kooperationsabkommens,
  2. den Abschluss eines Assoziationsabkommens,
  3. die Verwirklichung einer Wirtschafts- und Rechtsassoziation mit der Perspektive einer Vollmitgliedschaft Rußlands in der Europäischen Union.
Im Hinblick auf die laufenden Erweiterungsverhandlungen mit den osteuropäischen Beitrittskandidaten sieht Dynkin sowohl positive als auch negative Effekte für Rußland. Negativ wirke sich erstens aus, daß durch das Schengener Abkommen die Kontrolle der Außengrenzen verschärft werde, daß zweitens Anti-Dumping-Verfahren zunehmen werden und daß drittens in den Beitrittsländern eine Normierung und Standardisierung im Sinne der EU-Rechtsvorschriften stattfinde, was die Marktchancen russischer Unternehmen verschlechtere. Profitieren wird Rußland aber von den zu erwartenden Zollsenkungen, was zweifellos zu einer Belebung der Handelsbeziehungen führen werde.
 
 
Internationale Wettbewerbsfähigkeit – ein neues Staatsziel
 
Mit dem neuen Präsidenten Wladimir Putin verbinden sich im Westen nicht zuletzt auch viele Fragen zum künftigen wirtschaftspolitischen Kurs Rußlands, zumal sich die Erarbeitung der Wirtschaftsstrategie nun schon über Monate scheinbar ergebnislos hinschleppte. Die notwendigen Modernisierungsprozesse müssen nach Darstellung von Erich Stather – Staatssekretär im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung – vor allem auf eine Stärkung der inneren Grundlagen der internationalen Wettbewerbsfähigkeit abzielen und dabei von der besonderen Bedeutung klein- und mittelständischer Unternehmen ausgehen. Als prioritär bezeichnete Stather folgende Bereiche: Reform des Bankensystems, Verabschiedung einer Steuerreform, Regelung der föderalen Beziehungen hin zu stabilen Spielregeln, Ausbau der Rechtsstaatlichkeit sowie den Abbau offener und verdeckter Subventionen. Bei all diesen Schritten dürfe jedoch nicht vergessen werden, daß die Politik immer eine soziale Dimension haben muß. Bei der Stärkung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit erschöpfe sich aber die Rolle des Staates in der Schaffung der notwendigen Rahmenbedingungen für die Entfaltung des Marktes. Wie Wilhelm Hankel – Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Frankfurt – betonte, stelle internationale Wettbewerbsfähigkeit kein Staatsziel dar, sondern ein Firmenziel. Wäre es ein Staatsziel, würden Staaten und Wirtschaftssysteme unmittelbar in einen Wettbewerb treten und somit unausweichlich Handelskriege auslösen.
 
Diskutiert wurde ferner die aktuelle wirtschaftliche Lage in Rußland. Danach stelle sich die Ausgangsposition für eine erfolgreiche Modernisierungspolitik heute günstiger dar als je zuvor. Nach einem Wirtschaftswachstum zwischen 2 und 3% im Jahre 1999 werde 2000 ein Wachstum um 5% erwartet. Die Inflation liege bei 30-35% jährlich, die Steuereinnahmen überstiegen die Schätzungen um 30% und wiesen eine positive Dynamik auf. 1999 wurden zum ersten Mal alle im Haushalt geplanten Ausgaben auch tatsächlich getätigt; Rußland komme derzeit seinem Schuldendienst nach, ohne Goldreserven verkaufen zu müssen. Diese positive Wirtschaftsentwicklung gründe sich vor allem auf die hohen Preise für Energieträger, doch spielten auch die im Zuge der August-Krise 1998 einsetzende Importsubstitution und das Aufkommen eines neuen Managertyps eine nicht zu unterschätzende Rolle. Insgesamt sei das Wirtschaftswachstum in Rußland also qualitativ und keineswegs nur konjunkturell. Diese erfreuliche Tendenz sollte jedoch laut Wladimir Ryschkow – Mitglied der Staatsduma der Russischen Föderation – nicht den Blick auf die Fülle der nach wie vor ungelösten Probleme verstellen, womit er in erster Linie die administrative Überregulierung, Rechtsunsicherheit, fehlenden Eigentumsschutz sowie den Feudalismus in den Regionen meinte. Leider trete der Staat viel zu oft als Hindernis und nicht als Förderer wirtschaftlicher Aktivitäten in Erscheinung. Das Potential für eine nachhaltige Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit Rußlands liege, so Ryschkow, in den verfügbaren billigen Ressourcen, in der dank Unterbewertung billigen Währung und in den billigen qualifizierten Arbeitskräften. Minuspunkte seien die fehlende Binnennachfrage, die sozialen Probleme und die zunehmende Unzufriedenheit der Bevölkerung. Schaffung von Wettbwerbsfähigkeit fordere indes auch einen aktiven Staat, denn die wirtschaftliche Modernisierung Rußlands müsse, so Peter W. Schulze, mit der staatlichen Föderung endogener Technologiepotentiale einsetzen. Zumindest bis 1998 gab es keine staatliche Struktur- und Industriepolitik, die sich mit der entscheidenden Frage in jeder Wirtschaftsbranche befaßt hätte: Strebt Rußland eine eigene Lösung an oder vertraut man allein auf internationale Kooperation?
 
 
Die NATO und Rußland – eine Krisengeschichte
 
Nach der unnatürlichen und gefährlichen Aufteilung der Welt in zwei feindliche Lager während es Kalten Krieges wollte die NATO über verschiedene Initiativen in den 90er Jahren endgültig mit dem überkommenen Antagonismus brechen. Zum ersten Mal arbeiteten die NATO und Rußland 1995 bei der Implementierung des Dayton-Abkommens über Bosnien-Herzegowina aktiv zusammen. Mit der Unterzeichnung der Grundlagenakte 1997 und der Einrichtung des Ständigen NATO-Rußland-Rates wurden die Beziehungen institutionalisiert. Allerdings verbanden sich mit dem NATO-Rußland-Rat auf beiden Seiten unterschiedliche Erwartungen. Die NATO sei, laut Botschafter Klaus-Peter Klaiber – Beigeordneter Generalsekretär der NATO für Politische Angelegenheiten –, vom Wunsch geleitet gewesen, ein Gremium zu schaffen, in dem der Dialog mit Rußland intensiviert und Rußland von den Vorteilen einer Ausdehnung der gegenseitigen Kontakte überzeugt werden konnte. Keinesfalls sei an einen Ersatz für den NATO-Rat gedacht worden. Rußland habe sich dagegen vom Ständigen Rat substantiellen Einfluß auf die NATO-Entscheidungen erhofft.
 
Im Zuge der sich zuspitzenden Kosovo-Krise und als Folge der Entscheidung der NATO zur militärischen Intervention in Jugoslawien hatten die Beziehungen einen neuerlichen Tiefpunkt erreicht. Rußland reagierte mit einer Aufkündigung der Zusammenarbeit und warf der NATO Willkür und eine unzulässige Selbstlegitimierung militärischer Maßnahmen gegen Jugoslawien unter Umgehung der völkerrechtlichen Verfahren vor. Umgekehrt fühlte sich die NATO bei ihren Bemühungen, in Kosovo elementare Menschenrechte zu verteidigen, von Rußland im Stich gelassen. Erst allmählich gelang es, die Zustimmung Rußlands zur Wiederaufnahme der Beziehungen zu gewinnen, bis schließlich im Februar 2000 der neue Präsident Putin entschied, die Beziehungen Schritt für Schritt wieder herzustellen. Die NATO halte jedenfalls daran fest, den Status quo ante wieder herstellen zu wollen, insbesondere da man sich bewußt sei, daß die NATO und Rußland sowohl in Bosnien als auch im Kosovo auf Jahre zur Zusammenarbeit angewiesen seien. Die NATO sei bereit, ihre Positionen geduldig zu erläutern, so daß Entscheidungen im Nato-Rußland-Rat möglichst konsensual getroffen werden. Auch strebe sie an, in einen offenen Dialog über die Legitimation und Legitimität militärischen Handelns einzutreten. Die Thesen von einer Einkreisungspolitik der NATO gegenüber Rußland entbehrten jeder Grundlage. Damit Vertrauen zurückgewonnen werden kann, müsse aber auch Rußland seinen Beitrag leisten. Um in Zukunft einen abrupten Abbruch des Dialogs wie während der Kosovo-Krise zu vermeiden, müsse die russische Politik verläßlicher werden. Rußland sollte, so Klaiber, ein besseres Verständnis für konsensuale Entscheidungen entwickeln und insgesamt mehr Kompromißbereitschaft zeigen. Das gemeinsame Motto sollte lauten: Zusammenarbeit auf der Grundlage von Gemeinsamkeit. Es gelte, verbliebene Ängste zu überwinden und nach vorne zu denken. Ein wichtiger Schritt in diese Richtung wäre für die NATO die Eröffnung eines Informationsbüros in Moskau, denn bislang gebe es dort noch keine NATO-Repräsentanz.
 
Für Generaloberst Walerij Manilow glichen die Beziehungen zwischen der NATO und Rußland einer Tragödie in mehreren Akten. Ende der 80er/Anfang der 90er Jahre seien die Beziehungen von Romantik geprägt gewesen. Man habe das Ende der globalen militärischen und ideologischen Konfrontation gefeiert und sich an einem partnerschaftlichen Modell als Grundlage der Beziehungen zum Westen orientiert. Diese Euphorie der Partnerschaft sei verflogen, spürbar sei heute eine Systemkrise in mehrfacher Hinsicht:

Rußland habe das Verhalten der NATO während der Kosovo-Krise dahingehend interpretiert, daß der Kosovo ihr als Vorwand diente, um das neue strategische Konzept der NATO erstmals in der Praxis zu erproben. Damit sollte zugleich auch die Überlebensfähigkeit der NATO überprüft werden. Rußland lehne diese als Willkür bezeichnete Selbstlegitimation der NATO zur militärischen Intervention in einem souveränen Staat entschieden ab (zumal im Kosovo keine Bedrohung der europäischen Sicherheit vorgelegen habe) und betrachte die militärische Intervention als einen sehr gefährlichen Präzedenzfall. Da zuvor bereits der russische Wunsch nach einer gemeinsamen Erarbeitung der neuen NATO-Strategie abgelehnt wurde, habe sich die Einschätzung verfestigt, daß die NATO alle wesentlichen Entscheidungen hinter dem Rücken Rußlands fälle. Die Kritik an der NATO beinhalte darüber hinaus folgende Punkte:

Die Lehre für Rußland laute daher, daß man mit Nachdruck und allen gebotenen Mitteln seine nationalen Interessen verteidigen muß. Aus russischer Sicht sei eine Rückkehr zum Status quo ante nicht wünschenswert, gleichwohl solle aber die Kooperation mit der NATO wieder aufgenommen werden – unter folgenden von Manilow im einzelnen vorgetragenen Bedingungen:

  1. Gleichberechtigung in der Krisen- und Sicherheitsanalyse sowie gemeinsame Bewertung von Sicherheitsrisiken.


  2. Gleichberechtigung in der Ausarbeitung von Strategien, Krisenlösungen, Entscheidungen, Lagebeurteilungen etc.

  3. Gleichberechtigung in der praktischen Umsetzung der Entscheidungen.
    Das grundlegende Motiv der Beziehungen zwischen NATO und Rußland heiße daher: gleichberechtigte Partnerschaft zum gegenseitigen Vorteil.

 
Die Ereignisse im Kosovo werden bis heute höchst unterschiedlich beurteilt, wie erneut auch die Reaktion Gernot Erlers – MdB und Stellvertretender Vorsitzender der SPD-Fraktion im Deutschen Bundetag – bezeugte. Er bezeichnete die Thesen von Manilow als schlichtweg falsch, daß der Kosovo als Vorwand zur Anwendung der neuen NATO-Strategie diente, daß im Kosovo keine Herausforderung für die europäische Sicherheit vorlag, und daß der Kosovo einen Präzedenzfall für das künftige Verhalten der NATO darstellte. Wladimir Ryschkow seinerseits erklärte die unterschiedliche Perzeption damit, daß die NATO in Rußland einem tiefen und sehr grundsätzlichen Mißtrauen begegne. In Rußland stehen nämlich die Ausdehnung der NATO, ihre militärische Intervention im Kosovo sowie die Verletzung des ABM-Vertrages im Zuge von NMD in einem logischen Zusammenhang.
 
 
Sicherheitskonzepte und Sicherheitskooperation im Dreieck: Rußland-NATO-EU/WEU
 
Brigadegeneral Klaus Wittmann – Führungsakademie der Bundeswehr – war davon überzeugt, daß Sicherheit in Europa nur mit Rußland möglich sei, was sich etwa in der neuen NATO-Strategie dadurch zeige, daß Rußland nicht mehr im Kapitel „Bedrohung“, sondern im Kapitel „Partnerschaft“ erwähnt werde. Mit Blick auf die Akteure europäischer Sicherheitspolitik ging Wittmann davon aus, daß die Bedeutung Europas zunehmen werde. Die Richtung habe Javier Solana mit seiner Einschätzung vorgegeben, daß es in der NATO nicht zuviel USA, sondern vielmehr zuwenig Europa gäbe. Darin füge sich, daß sich die Europäische Union im Rahmen ihrer „Petersberg-Aufgaben“ zum Ziel gesetzt habe, bis zum Jahr 2003 eine aus 50.000-60.000 Soldaten bestehende schnelle Eingreiftruppe aufzubauen. Beim NATO-Rußland-Rat sollte es sich nicht um ein Schönwettergremium handeln, das man beim Aufziehen dunkler Wolken verläßt, denn gerade erst in solchen Situationen zeige sich die Wichtigkeit direkter Kommunikationsorgane. Allerdings könnten einmal getroffene Entscheidungen der NATO im NATO-Rußland-Rat nicht wieder in Frage gestellt werden. Hinsichtlich der Konzepte für eine kooperative Sicherheit empfehle es sich, zwischen kollektiver Sicherheit (wie im Rahmen der OSZE und UNO) und kollektiver Verteidigung (NATO) zu unterscheiden. Ausgangspunkt müsse jeweils sein, daß Krisenmanagement nicht rein militärisch definiert wird (vgl. die Forderung des deutschen Außenministers Joschka Fischer, daß zivile Konfliktprävention Vorrang haben muß vor militärischer Krisenreaktion), zumal Bedrohungen nicht-militärischer Natur zunehmen werden. Allerdings entfalten militärische Konsultationsgremien eine schnellere Wirkung als Krisenpräventionsgremien.
 
Der wachsende Wunsch Europas nach einem eigenen sicherheitspolitischen Profil offenbarte sich für Gernot Erler auch in dem Bestreben, die Gemeinsame Sicherheits- und Außenpolitik um die Europäische Sicherheits- und Verteidigungsidentität operativ zu ergänzen. Daß dem in Europa beschleunigt nachgegangen werde, lasse jedoch die Besorgnisse in den USA anwachsen. In der neuen russischen Sicherheitskonzeption, die von Präsident Putin am 10. Januar 2000 per Dekret verabschiedet wurde, sah Erler keine Fortschritte für eine gemeinsame europäische Sicherheitsarchitektur. Im alten Konzept fänden sich etliche Elemente, die auf ein deutlich moderneres Denken schließen ließen. So sei der Sicherheitsbegriff sehr weit gefaßt worden, Priorität auf die innere Sicherheit gelegt und eine Demilitarisierung der internationalen Beziehungen angestrebt. Im neuen Konzept werde dagegen von der Gefahr einer Dominanz der westlichen Welt gesprochen und die Schwelle für den atomaren Ersteinsatz deutlich herabgesetzt. In der Summe lasse das neue Konzept einen Wandel des sicherheitspolitischen Denkens in Rußland erkennen und offenbare in der Verbindung von realistischer Wahrnehmung und Obsession pathologische Züge. Realität werde selektiv wahrgenommen, Einkreisungsphobien treten zutage und es werde die These wiederbelebt, der Westen betreibe eine Ausnutzung der russischen Schwäche. Um Sicherheit künftig gemeinsam mit Rußland zu organisieren, bedarf es laut Erler folgender Schritte auf beiden Seiten:

Auf dieser Grundlage versprach sich Gernot Erler, den erhobenen Anspruch einlösen zu können, vorausschauende und nicht bloß reaktive Politik zu betreiben.

 

Konferenzbericht:
Irina Babitschewa
Christian Forstner