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Protokoll 1999



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Die Veranstalter des 2. Schlangenbader Gesprächs hatten sich das Ziel gesetzt, zum einen eine Bestandsaufnahme der deutsch-russischen Beziehungen vorzunehmen, zum anderen aber auch die Möglichkeiten eines gemeinsamen europäischen Krisenmanagements unter Berücksichtigung tagespolitischer Ereignisse zu ventilieren. Diese standen ganz im Zeichen des Kosovo-Krieges und der heftigen Ablehnung des westlichn Vorgehens durch Rußland.
1.   Die deutsch-russischen Beziehungen im Kontext europäischer Integrationsprozesse
 
Im Grunde genommen gibt es eine sowjetische Europapolitik erst seit den 80er Jahren (vgl. Gorbatschows Konzept eines „gemeinsamen europäischen Hauses“). Bis dahin waren die Beziehungen zwischen der Sowjetunion und Europa, wie Ottokar Hahn, Botschafter der Europäischen Union bei der Russischen Föderation, betonte, eher von gegenseitiger Nichtachtung geprägt. In ihrem Hang zu einem bilateralen Großmachtdenken, das sich in erster Linie rüstungspolitisch sowie über die Rolle im Sicherheitsrat definierte, unterschätzte die Sowjetunion die vor allem wirtschaftliche Bedeutung Europas. Zudem überschätzte man die Heterogenität Europas. So ging man in der UdSSR von der letztlich falschen Prämisse aus, daß die Europäische Gemeinschaft kein handlungsfähiger Akteur sei. Der unter Gorbatschow einsetzende Wandel in der sowjetischen Europakonzeption resultierte in einer immer stärkeren Zusammenarbeit mit Europa und mündete schließlich im Partnerschafts- und Kooperationsabkommen vom Dezember 1997. Selbst unter den erschwerten Bedingungen wie der im August 1998 offen ausgebrochenen Finanz- und Wirtschaftskrise wurde der Dialog noch intensiviert, wovon das Sofort-Programm der EU im Umfang von einer Milliarde Euro zeugte. Insgesamt stehen die europäisch-russischen Beziehungen mittlerweile auf einem festen Fundament. Neben den ministeriellen Zusammenkünften (vgl. die europäisch-russischen Gipfel in Wien 1998 oder Moskau 1999) sorgen auch die institutionellen Verbindungen über die TACIS- und Tempus-Programme dafür, daß der notwendige Dialog zwischen Moskau und der EU nicht abreißt und der russische Transformationsprozeß - soweit möglich - unterstützt wird. Trotz dieser vielfältigen Kooperationsansätze scheint man in Moskau die EU noch nicht als internationalen Machtfaktor zu begreifen. Die russischen Zweifel beziehen sich im besonderen auf Integrationserfolge hin zu einer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik sowie im allgemeinen auf den weiteren Verlauf der europäischen Integrationsprozesse. Unter den möglichen Szenarien
·      Zerfall der EU und Rückfall in einzelstaatliche Nationalismen,
·      Einfrieren bzw. Stagnation der Integration sowie
·      Vertiefung und Erweiterung der EU
hält man die erste Variante häufig noch für die Wahrscheinlichste.
Zweifellos, so gab Ottokar Hahn zu bedenken, ist die Sicherheitspolitik das Schmerzenskind der EU. Doch wird die Berufung eines Mister GASP dazu beitragen, daß die Union auch auf diesem Politikfeld an Konturen und Profil gewinnt.
 
Doch zumindest heute und auch absehbar spielt Europa neben, aber auch in der Nato keine wichtige Rolle. Wer etwas anderes behaupte, so Wladimir Lukin, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses der Staatsduma der Russischen Föderation, betrüge sich selbst. Dabei stellten die USA nur eine militärische, keinesfalls aber eine intellektuelle Führungsmacht dar. In der Nato-dominierten europäischen Sicherheitsarchitektur werde die Meinung Rußlands ignoriert. Rußland werde entweder als Erfüllungsgehilfe instrumentalisiert und folglich erniedrigt oder aber wie im Kosovo-Krieg mit einer vermeintlichen Vermittlerrolle beauftragt, ohne daß der Westen die erforderliche Kompromißbereitschaft an den Tag legt. Zwar heißt es in zentralen Dokumenten, daß Sicherheit in Europa nur mit Rußland erreicht werden könne. Doch faktisch verringere sich das Interesse an Rußland immer mehr. International spiegeln sich die gestörten Beziehungen Rußlands zum Westen nicht nur in den START II und START III Verhandlungen wider, selbst die einst privilegierten deutsch-russischen Beziehungen seien inzwischen deutlich abgekühlt. Entgegen anders lautenden Formulierungen im Koalitionsvertrag zwischen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen verschlechterten sich die Beziehungen seit dem Regierungsantritt Gerhard Schröders. Handelt es sich dabei, so die offene Frage Wladimir Lukins, um einen bewußten Stimmungswechsel oder stellt der Koalitionsvertrag ein aussageloses Papier dar?
 
Wie Dietrich Sperling hervorhob, trage der Koalitionsvertrag in hohem Maße deklarativen Charakter. Er sei wie jeder Koalitionsvertrag ein PR-Papier, in dem der gute Wille formuliert werde sowie Hoffnungen und Illusionen zum Ausdruck kommen. Gert Weisskirchen, Mitglied des Deutschen Bundestages, gibt zudem zu bedenken, daß unter Bundeskanzler Gerhard Schröder das Instrumentarium der deutschen Rußlandpolitik erweitert wurde. Erich Stather, Staatssekretär im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, unterstrich darüber hinaus die Einrichtung einer speziellen Rußland-Runde, die im Bundeskanzleramt zweiwöchentlich tage. Und Günter Jötze, Botschafter a.D. und Präsident der Bundesakademie für Sicherheitspolitik, sieht einen wesentlichen Unterschied darin, daß es unter Helmut Kohl noch einen aktionsfähigen Partner Rußland gab. Heute sei Boris Jelzin jedoch kaum mehr handlungsfähig. So gab es beispielsweise während der Wirtschafts- und Finanzkrise des August 1998 wegen der damit verbundenen neuerlichen Regierungskrise in Moskau kaum Ansprechpartner für den Westen, um etwaige Unterstützungsprogramme zu koordinieren.
 
Fehlenden eigenen russischen Entwicklungs- und Reformkonzepten stehen zunehmende Isolationsängste und Erniedrigungsgefühle gegenüber. Davon und von den internationalen Konflikten blieb die technische Zusammenarbeit zwischen der EU und Rußland zum Glück weitgehend unberührt. Schwieriger ist die Lage jedoch in der europäisch-russischen Rüstungskooperation, da die Abhängigkeit von politischen Rahmenbedingungen ungleich höher ist. Für Klaus-Dieter Bergner, Daimler-Chrysler Aerospace AG, hat die Rüstungskooperation (siehe Projekte wie das Transportflugzeug AN 70 oder gemeinsame Marketingstrategien zur Erschließung von Drittmärkten für die MIG 29) zwar durchaus Perspektive, sie stößt aber auf etliche Probleme. Die strukturellen Unterschiede in der Stellung der beteiligten Unternehmen (während der Rüstungssektor überwiegend in staatlichem Besitz ist und von der russischen Regierung als Instrument zur Geldbeschaffung angesehen wird, ist der Rüstungssektor in Deutschland privatwirtschaftlich organisiert und steht, da den Gesetzen des Marktes unterworfen, unter hohem Wirtschaftlichkeitsdruck) sind dabei nur eine Seite. Schwerer wiegt in der Einschätzung Klaus-Dieter Bergners das mangelnde russische Kooperationsinteresse allgemein, wie es sich nicht zuletzt im eigenmächtigen russischen Vorgehen in den Staaten des mittleren Osteuropa widerspiegele. Im Gegensatz zu den weltweiten Fusions- und Vergrößerungsprozessen in der Rüstungsindustrie vollzog sich in den Räumen der früheren Sowjetunion eine andere Entwicklung: durch den Zerfall der Sowjetunion lautete der Trend der letzten Jahre nicht Vergrößerung, sondern Zersplitterung. In der Perspektive sind aber eine Fülle von gemeinsamen Projekten denkbar, zu denen Klaus-Dieter Bergner unter anderem Satellitennavigationssysteme und den Aufbau der internationalen Raumstation zählte.
 
Allerdings befinden sich Deutschland und Rußland, so Peter W. Schulze, Leiter des Moskauer Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung, derzeit in einer Phase des potentiellen Nichtverstehens. Die Periode seit Beginn der 90er Jahre sei auch dadurch charakterisiert, daß sich sowohl in der europäischen Union als auch in der Rußländischen Föderation ein Paradigmenwandel hin zum Primat der Innen- und Wirtschaftspolitik vollzogen habe. Während Rußland zudem erst im Begriff stehe, eigene nationale Interessen aufgrund der gewandelten Situation zu entwickeln, vollziehe sich in Deutschland derzeit der Umbruch zu einer europäischen Außenpolitik, wenngleich die Europäische Union natürlich noch ein amorphes Institutionengefüge aufweise. Der nach Amsterdam und nicht zuletzt durch die Einführung des Euro akzelerierte europäische Integrationsprozeß grenze aber Rußland aus, woraus sich für Wilhelm Hankel, Professor für Volkswirtschaft an der JWG-Universität in Frankfurt, ein erheblicher struktureller Unterschied zur Situation Deutschlands nach dem 2. Weltkrieg ergibt: Damals wurde Deutschland fest in Europa und die westliche Welt insgesamt integriert; heute aber sehe sich Rußland mit den gewaltigen Problemen des Systemwechsels bei weitgehender (Selbst)Isolierung konfrontiert. Als Alternative bliebe daher nur die nachhaltige Integration Rußlands in die europäischen Märkte. Diese Variante wird von Andrej Neschtschadin, Geschäftsführer des Eksperts-Instituts (Moskau) relativ skeptisch beurteilt: Zum einen sei Rußland in verschiedene Märkte zerfallen, zum anderen sei es sich über seinen eigenen Platz in der internationalen Arbeitsteilung keineswegs im klaren. Trotz eines Außenhandelsüberschusses von über 20 Milliarden US Dollar werde aber auch außerhalb die Bedeutung Rußlands für die Weltwirtschaft unterschätzt.
 
Die tatsächlichen Voraussetzungen für die wirtschaftliche Integration Rußlands in Europa stehen laut Ottokar Hahn gar nicht mal so schlecht. Erstens hilft die EU zahlreichen russischen Firmen bei Anti-Dumping-verfahren, zweitens sind die zivilen Güter aus Rußland meist besser als gedacht und drittens wird der russische Außenhandel bereits heute überwiegend mit Europa abgewickelt. Ein großes Fragezeichen ist nach wie vor aber hinter die Fortsetzung der Wirtschaftsreformen in Rußland zu setzen. Auf absehbare Zeit nicht realisierbar scheint eine baldige WTO-Mitgliedschaft des Landes. Ebenso verschoben ist die Schaffung einer Freihandelszone zwischen Rußland und der EU. Für Ottokar Hahn sollte daher der Entwicklung des endogenen Potentials Rußlands Priorität zukommen. Daß Rußland aus der Rubelabwertung anfangs kein Kapital schlagen konnte, hänge in hohem Maße mit der mangelnden Elastizität des Wirtschaftssystems zusammen. Die wirtschaftlichen Probleme sind laut Wladimir Lukin zu 90% hausgemacht. Und ein ursächliches Entwicklungshemmnis liege darin, daß Rußland über keine konsistente Entwicklungsstrategie verfüge.
 
  
2.   Die neue Nato-Strategie aus westlicher und russischer Sicht
 
Die neue Nato-Strategie wurde beim Washingtoner Gipfel im April anläßlich des 50. Geburtstages des Bündnisses verabschiedet und bringt laut Brigadegeneral Klaus Wittmann von der deutschen Vertretung bei der Nato in Brüssel, den Wunsch nach einem Dialog mit Rußland zum Ausdruck. Die 50-jährige Erfolgsgeschichte der Nato teile sich in 40 Jahre Ost-West-Konflikt ohne kriegerische Eskalation und zehn Jahre Modernisierung hin zu einer neuen Nato. Die Gründe für diese Erfolgsgeschichte liegen zum einen im attraktiven Gesellschafts- und Wirtschaftssystem, zum anderen in der Flexibilität und Anpassungsfähigkeit der Nato, was nicht zuletzt der Übergang von früherer Konfrontation zu heutiger Kooperation unter Beweis stelle. Die Schaffung neuer sicherheitspolitischer Gremien (vgl. den Nordatlantischen Kooperationsrat, die Partnership-for-Peace-Abkommen oder den Nato-Rußland-Rat seit dem Madrider Gipfel 1997) indiziert für Klaus Wittmann einen weiter gefaßten Sicherheitsbegriff, der auf einer Strategie ohne Gegner basiert.
 
Zu den wesentlichen neuen Elementen zählen die Betonung von Krisenmanagement und Dialog im Hinblick auf eine stärkere Zusammenarbeit mit anderen sicherheitspolitischen Organisationen wie OSZE oder WEU, wodurch unterstrichen werde, daß die Nato kein lonely player ist. Wichtig war Klaus Wittmann der Hinweis, daß die Nato nicht unter dem Kommando der USA stehe, sondern es sich um ein Bündnis von 19 Nationen handelt. Von Priorität sei für die Nato die Stabilität in der euro-atlantischen Region. Die neue Nato-Strategie geht insofern also über den klassischen Auftrag einer Verteidigungsallianz hinaus, als jetzt auch Krisenmanagement und Friedenserhaltung zu ihren Aufgaben zählen. Auf militärische Gewalt wird jedoch nur im Dienste politischer Ziele zurückgegriffen, wofür es zudem eines Konsenses der 19 Mitgliedsstaaten bedarf. Aus diesen grundlegenden Prinzipien ergebe sich zwingend, daß
·         der Kosovo-Krieg keinen Präzedenzfall darstellt,
·         die Nato sich nicht als Weltpolizist definiert sowie
·         der Fokus des sicherheitspolitischen Engagements der Nato eindeutig auf Europa liegt.
Eine weitere qualitative Neuerung der Nato-Strategie liege darin, daß im Gegensatz zu früher, als Rußland im Kapitel „Gefährdung“ erwähnt wurde, Rußland seit dem Washingtoner Gipfel im Kapitel „Partnerschaft, Kooperation und Dialog“ erscheint.
 
Wladimir Danilow, Erster Stellvertretender Leiter der Internationalen Vertragsabteilung des russischen Verteidigungsministeriums, stimmt zu, daß es sich um eine positive Entwicklung handelt, wenn Rußland nicht mehr als Feind aufgefaßt wird, sondern als möglicher Partner. Allerdings seien Konzepte nur die eine Seite, die Praxis jedoch die andere. Die Nato ermächtigte sich in der Kosovo-Krise selbst, ohne über entsprechende internationale Beschlüsse zu verfügen, sie erweiterte ihre Aufgaben, so daß in letzter Konsequenz das europäische Sicherheitssystem zerstört werde. Für Sergej Karaganow, Stellvertretender Direktor des Europa-Instituts der Russischen Akademie der Wissenschaften und Vorsitzender des Rates für Außen- und Verteidigungspolitik, stellt die westliche Militärintervention im Kosovo einen Willkürakt der Nato dar. Der daraus resultierende kolossale Vertrauensverlust des Westens habe zur Konsequenz, daß Rußland die Zusammenarbeit mit der Nato äußerst mißtrauisch angehe bzw. zumindest temporär aussetze. Die russische Devise gegenüber einer Nato, die sich als Ordnungsfaktor zu inszenieren versuche, lautee daher: Dialog ja, Partnerschaft nein. Sergej Karaganow schließt nicht aus, daß das entstandene Mißtrauen in ein neues Wettrüsten einmündet, selbst ein Nato-Bombardement Rußlands scheint vor dem Hintergrund der Selbstherrlichkeit der Nato prinzipiell denkbar und allein durch die russischen Atomwaffen ausgeschlossen. Es verwundert daher nicht, wenn Sergej Karaganow die Unterzeichnung der Nato-Rußland-Akte als Fehler bezeichnet.
 
Ein neues Wettrüsten würde laut Uwe Nerlich, Direktor des Zentrums für Europäische Strategieforschung (IABG, Ottobrunn), Rußland aber am meisten schaden. Zudem zeuge es von einer intellektuellen Ratlosigkeit Rußlands, wenn man dort die nukleare Karte spiele. Die veränderten Kräfteverhältnisse seien vielmehr Ausdruck der tektonischen Veränderungen, die aus der Aufgabe des Prinzips der kontinentalen Balance nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes resultierten.
 
Dem Hinweis Wladimir Lukins, daß ein demokratischer Konsens der Nato-Staaten keine Legitimationsgrundlage für eine Militärintervention darstellt, wird von Gert Weisskirchen entgegengehalten, daß mitnichten von einem Automatismus der Selbstlegitimation der Nato ausgegangen werden könne, weshalb er auch an die Rückkehr zu einem konstruktiven Kooperationsprozeß zwischen Rußland und dem Westen appelliere. Eine mögliche Variante für die Zukunft besteht für Gert Weisskirchen in einer Anbindung der Nato an die OSZE. Die grundsätzlich unterschiedliche Interpretation des Nato-Vorgehens scheint aber kaum auflösbar. In Rußland werden die Nato-Militärschläge gegen Serbien als Verstoß gegen bislang als wichtig und bindend aufgefaßte völkerrechtliche Regularien perzipiert. Die Nato nimmt dagegen für sich in Anspruch, ethnische Säuberungen und eine humanitäre Katastrophe zu verhindern. Nach Dietrich Sperling fallen aber Absicht und Wirkung der Nato-Intervention weit auseinander, so daß ein russisches Mißtrauen durchaus nachvollziehbar sei. Für Egbert Jahn, Professor für Politische Wissenschaften an der Universität Mannheim, steht im Vordergrund, den Blick nach vorne zu richten, d.h. der Frage nachzugehen, wie beliebige Interventionen in Zukunft verhindert werden können. Als fatale Konsequenz des Kososvo-Krieges könnte sich nämlich für Diktatoren wie Milosevic oder Saddam Hussein ergeben, eigene Aufrüstungsprogramme zu forcieren. Denn die Sicherheit und Souveränität eines Landes kann offensichtlich nur durch militärische Abschreckung garantiert werden. In die gleiche Richtung zielt auch die Forderung von Wladimir Danilow nach einer genauen Definition von Friedenseinsätzen, um zu verhindern, daß das Recht auf Gewaltanwendung zum Recht des Stärkeren verkommt.
 
3.   Der Kosovo-Konflikt als Paradigmenwechsel in den russisch-westlichen Beziehungen?
 
Die Militäraktion der Nato wird vom Westen und von Rußland höchst unterschiedlich perzepiert. Aus westlicher Perspektive handelt es sich um eine humanitäre Aktion in einer Region, die durch die jugoslawische Vertreibungspolitik destabilisiert werde, so daß übergreifend auch eine Bedrohung des Weltfriedens nicht ausgeschlossen werden könne. Die im Kosovo begangenen Verbrechen gegen die Menschlichkeit weisen für Klaus Neubert, Ministerialdirigent im Auswärtigen Amt, unmittelbare Tatbestände von Genozid auf. Ein westliches Nicht-Handeln wäre somit einer Beihilfe zum Völkermord gleichgekommen, wenngleich die Interventionsmotive, wie Dietrich Sperling zu bedenken gibt, eher Opportunitätsgründe sind denn Rechtsgebote. Obschon Moskaus schützende Hand über Milosevic den UN-Sicherheitsrat lahmlegte, sollte dennoch von allen involvierten Staaten angestrebt werden, die Blockade des Sicherheitsrates aufzuheben bzw. den Konflikt wieder in den Sicherheitsrat zurückzuverlagern. Die Luftangriffe seien militärische Aktionen mit dem Ziel, politische Lösungen auf den Weg zu bringen, ähnlich wie der Dayton-Prozeß ja auch erst durch eine vorangegangene militärische Intervention möglich geworden sei. Für Vizeadmiral Hans Frank, Stellvertretender Generalinspekteur der Bundeswehr, ist aber die Nato-Überzeugungsarbeit noch nicht erfolgreich genug, denn in der russischen Perzeption werden die Nato-Aktionen als Fortsetzung der für den Kalten Krieg üblichen Aggressionen wahrgenommen. Unhaltbar mutet ihm in diesem Zusammenhang auch das Veto Chinas gegen Schutztruppen in Mazedonien aus dem eigensinnigen Motiv heraus an, daß Mazedonien zuvor Taiwan anerkannte.
 
Diese westliche Interpretation des Konfliktes spiegelt aus russischer Sicht nichts anderes als die Doppelmoral des Westens wider. Bereits der Zypern-Konflikt oder die brutale Unterdrückung der Kurden durch die Türkei hätten genügend Anlaß für eine westliche Intervention gegeben. So bleibt für Aleksej Puschkow, politischer Direktor des russischen Fernsehkanals ORT, nur die Schlußfolgerung, daß der Nato-Aktion geopolitische Zielsetzungen zugrunde liegen. Diese sieht er vor allem in der Schaffung einer europäisch-atlantischen Verteidigungsidentität sowie in der nachhaltigen Verankerung der US-Präsenz in Europa. Vor diesem Hintergrund erklärt sich auch die Kompromißlosigkeit der Nato: Eine humanitäre Aktion hätte Spielraum für Kompromisse gelassen, die geopolitische Operation zur Beseitigung Jugoslawiens bedinge aber, daß die Nato nur auf Sieg setzen kann, denn sonst drohe ihr der Verlust der militärischen Glaubwürdigkeit. Und solange keine Kompromisse in Sicht sind, ist Rußland und ist russische Vermittlung überflüssig.
 
Die Avancen des Westens gegenüber Rußland seien darauf zurückzuführen, daß Rußland der Nato bei der Erringung des militärischen Sieges behilflich sein und zudem zur Legitimierung der eigenen Interessen benutzt werden könne. Rußland verstehe sich aber weder als Erfüllungsgehilfe der Nato noch mache es für Rußland Sinn, der Nato aus der Patsche zu helfen. In dieses taktische Strickmuster passe auch die westliche Unterstützung der albanischen Befreiungsarmee UCK: Dem Westen gehe es einzig darum, eigene Opfer zu vermeiden. Die Durchsetzung einer europäisch-amerikanischen Weltordnung werde von Rußland nicht geduldet, zumal sie auch impliziere, daß Rußland aus Europa verdrängt und isoliert werde. Auf dem Balkan ist der Einflußverlust Rußlands bereits deutlich sichtbar: Auf Westkurs gingen die jugoslawischen Nachfolgestaaten Kroatien, Slowenien, Bosnien und Mazedonien, und an der pro-westlichen Orientierung Montenegros kann auch nicht gezweifelt werden. Der Kosovo-Krieg reihe sich somit nahtlos ein in die anti-russische westliche Strategie, wie sie auch schon in der Frage der Osterweiterung der Nato zum Ausdruck gekommen sei. In der Konsequenz bedeute dies, daß Rußland für den Westen nicht mehr prioritär sei, ja sogar, daß der Westen die gegenwärtige Schwäche Rußlands zum eigenen Vorteil ausnütze. Der westlichen anti-russischen Strategie hielt Aleksej Puschkow das inzwischen zur nationalen Ideologie gewordene russische Großmachtdenken entgegen: Rußland bleibt eine Großmacht, entweder mit dem Westen als Partner oder ohne.

Das Nato-Ultimatum an Milosevic markierte jedenfalls das Ende der konstruktiven Zusammenarbeit in der Kontaktgruppe. An der grundsätzlichen Position Rußlands ändere dies aber nichts: Simjon Beljakow aus dem Planungsstab des Russischen Außenministerium stellte klar, daß Rußland kein Interesse an einem Zusammenbruch der Beziehungen mit dem Westen hat. Und trotz der harschen Reaktion der Militärs seien die Kontakte zum Westen auch nicht völlig zusammengebrochen. Doch die miltärische Kooperation mit der Nato ist gestoppt und eine Rückkehr zum status quo ante kaum denkbar. Vielmehr nahm der russische Wunsch nach einer Aufwertung der OSZE dadurch an Intensität zu, daß sich die Nato im Kosovo-Krieg über sämtliche verabredeten Prinzipien hinwegsetzte. Zwar treffe es zu, daß sich Rußland nicht öffentlich von Milosevic distanzierte. Aber laut Wladimir Awertschew, Mitglied des Auswärtigen Ausschusses der Staatsduma der RF, stand es nie zur Diskussion, daß Rußland Serbien militärisch beispringen würde. Das Gerede einer slawischen Bruderschaft sei ein Mythos.
 
Daß dem Westen im Kosovo-Konflikt eine Doppelmoral vorgeworfen werden könne, steht auch für Wladimir Lukin außer Frage. Tudjman durfte die Krajna ethnisch säubern, ohne westliche Sanktionen gewärtigen zu müssen und ohne daß er wie Milosevic vom Internationalen Kriegsverbrechertribunal in Den Haag zur Fahndung ausgeschrieben wurde. Ein Kompromiß zur Gesichtswahrung könnte darin liegen, daß die Nato von ihrer Forderung nach einer militärischen Kapitulation Milosevic’ abrückt.
 
 
4.   Rückblick und Ausblick: die deutsch-russischen Beziehungen auf dem Prüfstand
 
Was Deutschland anbelangt, so gibt Erich Stather die Richtung eindeutig vor: Deutschland ist an einer Vertiefung der Beziehungen zu Rußland interessiert, wobei man allerdings vom Reformwillen in der russischen Regierung abhänge. Als Ansatz der Kooperation schäle sich immer mehr die Mikroebene heraus, insbesondere da man in einigen Regionen auf kompetente wirtschaftliche Facheliten stoße.
 
Zwar ist nicht zuletzt im Gefolge des Kosovo-Krieges der Graben zwischen Rußland und dem Westen breiter geworden, zwar ist die Fragilität der eingerichteten Kommunikationsstrukturen bloßgelegt worden; das 2. Schlangenbader Gespräch machte aber auch etwas anderes deutlich: Auf beiden Seiten herrscht der Mut zu einer offenen, bisweilen auch kontroversen Aussprache sowie der vernehmbare Wunsch nach einem kontinuierlichem Dialog. Die Pflege des Dialogs inklusive breit angelegter sub-staatlicher Kontakte könnte signifikant zur Normalisierung der Beziehungen zwischen den jeweiligen Entscheidungseliten beitragen und über institutionalisierte Kommunikation hinaus auch informelle Kontaktaufnahmen ermöglichen. Die Veranstalter der Schlangenbader Gespräche fühlen sich nicht zuletzt diesem Ziel verpflichtet und wollen auch im nächsten Jahr das Gespräch fortsetzen.

 

Konferenzbericht: Christian Forstner