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Kurzbericht 2013



Vom 25. bis 27. April 2013 fand das 16. Schlangenbader Gespräch statt, ein deutsch-russischer Gesprächskreis zu außen- und sicherheitspolitischen Fragen, der jedes Frühjahr etwa 60 Fachleute aus beiden Ländern zusammenführt. In diesem Jahr stand er unter dem Leitthema „Krise: Der globale Wandel und seine bilateralen Folgen“.

Wie der Bericht über die diesjährige Tagung in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (29. April 2013) hervorhebt, stellen die Schlangenbader Gespräche einen „zuverlässigen Gradmesser“ der deutsch-russischen Beziehungen dar. Es war daher keine Frage, dass sie sich in diesem Jahr an prominenter Stelle diesen deutlich, um nicht zu sagen: dramatisch abgekühlten Beziehungen gewidmet haben.

Darüber hinaus waren aber auch strukturelle Veränderungen ein Thema, die für das deutsch-russische Verhältnis nicht nur konjunkturelle Bedeutung haben, sondern deren Grundlagen tangieren. Das gilt zum einen für den beschleunigten Wandel auf den Energiemärkten, seit 40 Jahren einer der tragenden Pfeiler der Wirtschaftsbeziehungen. Zum anderen gilt es für die Folgen der vieldiskutierten globalen Mächteverschiebung zugunsten Chinas, die insbesondere auf russischer Seite auch mit einer strategischen Koordinatenverschiebung einhergeht – in östliche Richtung, in den asiatisch-pazifischen Raum.

Die Russlandpolitik hat in den letzten Monaten die politischen Gemüter in Deutschland mit einer Heftigkeit bewegt wie selten zuvor. Spätestens seit der Rückkehr Wladimir Putins in den Kreml, den breiten Demonstrationen dagegen und den wenig demokratischen Begleiterscheinungen ihrer Eindämmung befindet sie sich in einer Krise, manche sagen: an einem Scheideweg. Dabei geht es auch, aber nicht allein, um den vertrauten Konflikt zwischen (demokratischen) Werten und (ökonomischen) Interessen. Vielmehr konkurrieren in Deutschland auch unterschiedliche Ko-operationskonzepte. So stehen auf der einen Seite jene, die unverändert auf die trans-formatorische Kraft einer immer engeren Verflechtung vertrauen und Geduld anmahnen. Auf der anderen wird dagegen im Zeichen einer fundamentalen Kritik an Russlands Fehlentwicklungen auf eine nur mehr selektive Kooperation, vorzugsweise mit der Zivilgesellschaft, gepocht.

In Schlangenbad trafen beide Ansätze unmittelbar aufeinander, es blieb aber letztlich offen, welcher der beiden kurz- und mittelfristig angemessen wäre. Einvernehmen sowohl auf deutscher als auch auf russischer Seite zeichnete sich allenfalls dahingehend ab, dass zwischen den Handlungsmaximen der Regierung, des Parlaments und der Gesellschaft unterschieden werden müsse – auch mit dem Argument, dass kooperative Beziehungen auf der offiziellen Ebene überhaupt erst den Raum für einen offenen und kritischen Diskurs auf gesellschaftlicher Ebene schaffen.

Ein grundlegender, ja revolutionärer Wandel zeichnet sich auf den Energiemärkten ab. Er speist sich aus verschiedenen Quellen. Da ist einmal das „Fracking“, das nach einigen Prognosen die USA in wenigen Jahren vom weltgrößten Energieimporteur zum weltgrößten Produzenten und zum Exporteur von Öl und Gas werden lassen könnte – mit Folgen nicht allein für den globalen Energiehandel, sondern auch für die globale Sicherheitspolitik. Zum anderen ist es im Bereich der Gaswirtschaft die schnelle Expansion der Verflüssigung, mit der Folge, dass aus dem einst an Pipelines gebundenen regionalen ein globaler Markt erwächst. All dies stellt das seit 40 Jahren bewährte Fundament der deutsch-russischen Energiebeziehungen mit ihren langfristigen Verträgen in Frage. Es tangiert aber auch Gasprom und damit eine eminent wichtige Quelle des russischen Staatshaushalts und Garant einer positiven Leistungsbilanz. Allerdings offenbarte die Diskussion in Schlangenbad, dass sowohl die Reichweite des Wandels als auch die prognostizierten Vorteile für die Verbraucher alles andere als klar sind.

Den wohl tiefst greifenden Wandel im wirtschaftlichen und politischen Gefüge der Welt hat der ungebremste Aufstieg eines Landes – China – ausgelöst. Dieser Aufstieg ist sowohl für Deutsch-land als auch für Russland eine Herausforderung von strategischer Bedeutung. Beide haben be-gonnen, sich darauf – unterschiedlich – einzustellen. In Russland sind Meilensteine der jüngeren Vergangenheit die Einrichtung eines neuen Ministeriums für Sibirien und den Fernen Osten mit Sitz in Chabarowsk und der mit großem Aufwand 2012 in Wladiwostok durchgeführte APEC-Gipfel. Sie signalisieren, dass Russland sich nicht damit begnügen will, China als mittlerweile größten Handelspartner gewonnen zu haben. Vielmehr will es seine geographischen und geo-logischen Vorteile besser zur Geltung bringen und seine demographischen Nachteile nicht zum Tragen kommen lassen. Das erfordert ein umfangreiches Entwicklungsprogramm in Sibirien und Russlands Fernem Osten, das sich nicht wie in der Vergangenheit – darauf wurde von vielen russischen Teilnehmern in Schlangenbad besonders hingewiesen – in staatlichen Großprojekten erschöpfen darf, sondern Anreize für breite Privatinvestitionen setzen muss. In Deutschland, das mit China in Volumen und Dynamik ebenfalls herausragende Wirtschaftsbeziehungen unterhält, macht die Rede von den „Gestaltungsmächten“ als neuen Partnern der deutschen Politik die Runde.

Die globale Machtverschiebung wird heute vielfach mit dem Begriff einer „geopolitischen“ Herausforderung belegt – ein Thema, dem sich die Schlangenbader Gespräche in einer separaten Diskussionsrunde stellten. Nicht nur in Russland, sondern seit einigen Jahren auch in Deutschland, hat die „Geopolitik“ eine gewisse Popularität erlangt. Diese ist allerdings in Russland ungleich größer, wo Geopolitik seit Jahren eine etablierte akademische Disziplin, ein verbreitetes Analyseinstrument und bei einigen wie den Vertretern des „Eurasismus“ gar politisches Programm ist. Für Putin war es daher selbstverständlich, das Ende der Sowjetunion als „größte geopolitische Katastrophe des letzten Jahrhunderts“ zu bebeklagen. Doch auch hier bleibt vage, was damit eigentlich gemeint ist.

Dass die Geopolitik in Moskau den Blick auf die Welt und geopolitische Ziele die russische Politik prägen, lässt sich kaum nachweisen; wohl aber verspricht sie eine ideologische Entlastung, kontrolliert Russland doch jene eurasischen „Herzlande“, die nach Auffassung eines der bekanntesten geopolitischen Theoretiker, Halford Mackinder, die Herrschaft über die Welt ver-sprechen. In Schlangenbad überwog dagegen der Eindruck, dass der Begriff der Geopolitik heute eher ohne Bewusstsein für seine historische Konnotation, gleichsam synonym zur „Geostrategie“, gebraucht wird. Und wenn man einen Blick auf die Weltkarte wirft, so fällt auf, dass die Geopolitik ihren Höhepunkt zur Zeit von Großreichen erlebte, deren territoriales Wachstum sie legitimierte, während wir heute umgekehrt eine Proliferation von Staaten bei gleichzeitiger territorialer Kontraktion erleben, was mit den herkömmlichen geopolitischen Topoi kaum mehr zu erklären, geschweige denn zu legitimieren ist.