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Kurzbericht 2010


Vom 29. April bis 1. Mai 2010 fanden die 13. Schlangenbader Gespräche statt, ein deutsch-russischer Gesprächskreis zu außen- und sicherheitspolitischen Fragen, der jedes Frühjahr sechzig bis siebzig Fachleute aus beiden Ländern zusammenführt. In diesem Jahr stand er unter dem Leitthema "Erneuerte Kooperationschancen: Russland und der Westen nach dem 'Reset'". Der Titel zeigt an, dass die Beziehungen zwischen Russland und dem Westen nach dem Tiefpunkt im August 2008 gegenwärtig einen Aufschwung erfahren. Im Mittelpunkt der Gespräche stand daher, wie dieser genutzt werden kann, um gemeinsam internationale Probleme wie die Verbreitung von Atomwaffen zu lösen, aber auch, um Vorkehrungen zu schaffen, die eine neuerliche krisenhafte Zuspitzung der Beziehungen verhindern. Ein wesentliches Element sind hier die russischen Vorschläge für einen Europäischen Sicherheits-vertrag, dessen Entwurf Präsident Medwedjew im Dezember 2009 vorgelegt hat. Er sieht ab-gestufte Konsultationen vor, wenn ein Vertragsmitglied seine Sicherheit bedroht sieht oder militärisch angegriffen wird. Verknüpft wurde die Schlangenbader Diskussion darüber mit einer Erörterung des neuen strategischen Konzepts der NATO, das bis Ende des Jahres verabschiedet sein soll und in dem die Beziehungen zu Russland einen wichtigen Platz einnehmen. Das sind erste Schritte. Offen bleibt aber nach wie vor, wie Russland an die Euroatlantische Gemeinschaft herangeführt werden kann, denn für Russland setzt dies eine gleichberechtigte Mitwirkung an allen Entscheidungen voraus, da es sich nie automatisch Beschlüssen anschließen werde, die an anderer Stelle gefallen sind.

Es bestand Einigkeit, dass viele internationale Probleme durch Verrechtlichung geregelt werden können. Jüngste Beispiele seien das START-Abkommen sowie der Grenzvertrag zwischen Russland und Norwegen. Zugleich bedürfe es aber auch eines Mechanismus, der die Einhaltung eines solchen Vertragswerks garantiere. In diesem Zusammenhang wurden Zweifel geäußert, ob der Georgien-Krieg im August 2008 durch den vorgeschlagenen Sicherheitsvertrag zu verhindern gewesen wäre. Positiv wurde ebenfalls gewürdigt, dass die russischen Vorstöße einiges in Bewegung gesetzt hätten: den Korfu-Prozess zur Reform der OSZE, eine verbesserte Zusammenarbeit im NATO-Russland-Rat sowie ein neues Interesse an der Rüstungskontrolle. Doch bleiben auf westlicher Seite Vorbehalte. Während der NATO-Generalsekretär deutlich seine Ablehnung des Vertragsentwurfs zum Ausdruck gebracht hat, ist auf deutscher Seite eine offenere Haltung zu verzeichnen. Allerdings gilt auch in Berlin, eine neue sicherheitsvertragliche Grundlage solle am Ende eines ver-trauensbildenden Prozesses stehen und nicht an dessen Anfang. Von russischer Seite wiederum wurden Vorbehalte gegen eine weitere Aufwertung der NATO und zu ihren Vorstellungen ge-äußert, zum "hub" einer weltweiten sicherheitspolitischen Kooperation werden zu wollen.

Als vertrauensbildender Meilenstein wurde übereinstimmend das neue, am 8. April 2010 unter-zeichnete Abkommen zur Begrenzung der strategischen Rüstung gewertet. Unsicher sei jedoch die Ratifizierung im US-Senat, wovon sich die Staatsduma bei ihrer Ratifizierung nicht abhängig machen solle. Auch wenn der Vertrag keine tiefen Einschnitte in die Arsenale vorsehe, stelle er ein wichtiges Symbol der Verständigungsbereitschaft dar, stabilisiere durch das erneuerte Veri-fikationsregime die Transparenz und ebne den Weg für weitere Rüstungskontrollmaßnahmen. Hier sind die taktischen Atomwaffen in Europa von besonderer Bedeutung, bei denen Russland über etwa 2.000 verfügt, während die USA in Europa 200 stationiert hat. Russland macht geltend, dass es - wie bis zum Ende des Kalten Kriegs die NATO - seine konventionelle Unterlegenheit kompensieren und zudem Vorsorge gegen etwaige Bedrohungen aus dem Süden treffen müsse. Probleme werfe ferner die Unterscheidung der nuklearen und konventionellen Bestückung der Trägersysteme auf. Schnelle Fortschritte seien daher nicht zu erwarten. Die Aussichten für ein kooperatives Konfliktmanagement im Kosovo, Abchasien und Süd-Ossetien sind nach übereinstimmender Bewertung immer noch begrenzt. Zwar könnte die wechselseitige Blockade durch eine wechselseitige Anerkennung aufgelöst werden. Eine solche Verletzung des Völkerrechts im Namen der Realität wurde indes für wenig wahrscheinlich erachtet. Attraktive Zwischenstufen in Gestalt einer im Konsens überwachten Souveränität oder einer Konföderation seien ebenfalls nicht in Sicht. Andererseits gebe es insbesondere im Kaukasus immer noch beträcht-liche Eskalationsrisiken, und auch die "geopolitische Konkurrenzsituation" sei keineswegs über-wunden. Die Konfliktparteien seien daher zu verpflichten, ausschließlich friedliche Mittel anzu-wenden, was eine weitere Aufrüstung ausschließe. Auch sollten sie sich - im Bewusstsein, dass es keine externe Lösung ihrer Konflikte geben könne - auf praktische Schritte konzentrieren und ihre historischen Rechtfertigungsdiskurse zur immer noch zentralen Schuldfrage in den Hintergrund treten lassen.

Modernisierung ist ein in Russland aktuell breit diskutiertes und von Präsident Medwedjew vorangetriebenes Thema. Dabei geht es nicht allein um die wirtschaftliche Herausforderung und um die Befürchtung, dass die russische Wirtschaft als reiner Rohstofflieferant im globalen Wettbewerb zurückfallen könne. Ebenso wichtig sind die politischen Rahmenbedingungen: Welche politische Ordnung ermöglicht Modernisierung, welche Rolle hat der Staat zu spielen und wie wichtig sind Freiheitsrechte? Die Chancen einer durchgreifenden Modernisierung Russlands wurden sehr unterschiedlich be-wertet. Einerseits gilt die Erwartung, dass das Thema der Modernisierung die Begriffe der Putin-ära wie "souveräne Demokratie" oder "Energiesupermacht" verdrängen werde. Anderseits wurde mit Skepsis registriert, dass kein Erkenntnis-, sondern ein Umsetzungsproblem vorliege: Es werde von jenen Kräften Modernisierung erwartet, die von ihr am wenigsten erwarten könnten. Skeptisch stimmte auch, dass von ihren Befürwortern Modernisierung vor allem dekretiert werde, es gebe keine wirkliche Strategie und keine Prioritäten. Aus Sicht der Wirtschaftspraktiker wiederum stellt sich die Gesamtsituation in Russland weit weniger pessimistisch dar. Ein greifbares Beispiel gelungener Modernisierung sei zum Beispiel das neue Automobilzentrum Kaluga, wo 2012 von VW, Volvo, Renault, Peugeot und Mitsubishi über 1 Million Fahrzeuge produziert werden. Ein weiteres Thema war die "Modernisierungspartnerschaft". 2008 in Berlin als neues Win-Win-Kooperationskonzept für die Felder Rechtsstaat, Energieeffizienz, Gesundheit, Transport entwickelt, wurde es jüngst in Brüssel wieder aufgenommen. Auf dem nächsten EU-Russland Gipfel in Rostow soll der Startschuss für das konkrete Programm gegeben werden. Die EU sei ohne Zweifel der bevorzugte Partner, doch hob die russische Seite hervor, dass dies eine Zweibahnstraße sein müsse. Es könne nicht angehen, dass die EU Russland mit eigenen Hilfsprogrammen modernisieren wolle; sondern es müsse gemeinsam herausgefunden werden, wo und wie beide Seiten durch diese Partnerschaft gestärkt werden können.